Kapitel 84 - Seitenstraße

Startseite                                                                                                                             Kapitelübersicht


Die Stadt versank im Chaos. Sirenen heulten. Schreie hallten von den Fassaden wider. Aus den Seitengassen kamen kleine, violette Kreaturen, etwa kniehoch, mit glänzenden Chitinpanzern und krabbenähnlichen Scherenarmen. Ihre zahlreichen Beine trippelten in ruckartigen Bewegungen über den Asphalt und scheuchten kreischende Menschen auf, die panisch versuchten, Schutz zu finden.

Hoch oben auf dem Dach des WNN-Gebäudes standen Tasha und Doug.

Unter ihnen war die Straße eine tobende Schneise aus Gewalt und Verwirrung. Custodians schossen wahllos mit Energieblitzen auf alles, was sich bewegte. Fahrzeuge brannten. Ein Skidbus krachte gegen eine Hauswand. Section Shield, erkennbar an den tiefschwarzen Einsatzanzügen mit dem leuchtenden Schildsymbol, war mit gepanzerten Transportern unterwegs, die sich durch die blockierten Straßen zwängten. Über Lautsprecher riefen sie zur Evakuierung auf, doch das Stimmengewirr überlagerte jede Ordnung.

Doug starrte fassungslos auf das Geschehen.

„Was passiert hier?!“

Tasha ballte die Fäuste und kniff die Augen zusammen.

„Ich glaube, es geht los. Das hier ist kein Zufall. Das ist der Anfang.“

Da vibrierte ihr Synect, ein leuchtendes, dünnes Interface, in ihrem Handgelenk. Calebs Stimme war leicht verrauscht, aber deutlich zu verstehen.

„Tasha, ich bin mit Malik unten. Wir holen dich raus!“

Tasha antwortete sofort.

„Ich bin nicht allein. Wir kommen runter.“

Doug nickte ihr zu, und sie liefen los – schnell und kontrolliert. Durch die Tür vom Dachzugang hinein ins Gebäude, das mittlerweile alles andere als ruhig war.

Die oberen Etagen des WNN-Komplexes waren im Ausnahmezustand. Mitarbeiter rannten durch die Gänge, einige schrien, andere weinten. Papierstapel flogen durch die Luft, ein Bildschirm fiel von der Wand. Das Brummen der Notstromversorgung lag wie ein nervöser Ton in der Luft.

„Hier lang!“, rief Doug.

Er bog in einer Zwischenetage durch eine Tür ab, die Tasha noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Der Flur war dunkel und kaum beleuchtet. An den Wänden hingen Metallrohre. Es roch nach Staub und Öl. Am Ende des Gangs stand eine alte, rostige Tür. Doug zögerte keine Sekunde, trat sie mit der Schulter auf und sofort offenbarte sich dahinter eine Feuertreppe aus Metall.

Tasha sah sie an und zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, geil. Das ist doch super“, sagte sie mit sarkastischem Unterton, wobei ihr Herzschlag deutlich schneller wurde.

„Willkommen in meiner geheimen Fluchtroute“, murmelte Doug und grinste schief. Dann begannen sie, die Stufen hinunterzurennen.

Draußen herrschte Krieg. Die Luft vibrierte vor Hitze und Lärm. Als sie den Boden erreichten und auf die schmale Seitenstraße traten, umfing sie für einen Moment eine fast unnatürliche Stille.

In der Ferne donnerte eine Explosion, Autos waren umgestürzt und über den Häuserdächern zogen grelle Lichtblitze hinweg. Kampfgeräusche, das Klirren von Metall, Schreie und das rhythmische Surren der Custodian-Drohnen legten sich wie ein Netz über die gesamte Straße. Nebelschwaden zogen durch die engen Gassen. Der Rauch von brennenden Skidbikes vermischte sich mit dem metallischen Geruch zerstörter Technik und dem süßlichen Geruch von Gefahr.

Als Erster tauchte Malik auf: flink, konzentriert und mit einem ausfahrbaren Kampfstab in der Hand. Kurz darauf folgte Caleb, etwas außer Atem, aber fokussiert. Er trug eine verstärkte Jacke, aus deren Rückenbereich schwach pulsierende Energieadern liefen. An seinen Schultern summten kleine Magnetmodule leise, die ein tragbares Verteidigungssystem aus seiner Werkstatt aktivierten.

Doch kaum waren sie beisammen, zischte es in der Luft.

Es waren Stinger-Drohnen.

Drei von ihnen, messerscharf und pfeilschnell, schossen hinter ihnen her, ihre Sensoren glühten rot und ihre Flügel vibrierten mit bedrohlicher Geschwindigkeit.


Das Haus gegenüber begann zu vibrieren, Fensterscheiben barsten in tausend Stücke und aus dem Inneren war ein letzter, erbärmlicher Schrei zu hören, bevor das gesamte Gebäude mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen in sich zusammenfiel.

Der Boden bebte. Eine gewaltige Staubwolke hüllte die Umgebung ein. Dann ergoss sich eine Lawine aus Trümmern, Glas, Stahl und Beton wie ein stummer Tsunami aus Ruinen in die Seitenstraße. Die Gruppe sprang zur Seite. Sie warfen sich hinter ein umgestürztes Müllrecyclingmodul und eine halb zerschmetterte Lieferdrohne. Sekunden später rutschten die letzten Brocken der Zerstörung bis nur wenige Zentimeter vor ihre Füße.

„Knapp daneben“, keuchte Caleb, trat dann aber mit fester Miene in den Gang vor ihnen, als wäre er bereit, selbst den nächsten Kollaps aufzuhalten.

Doch es war noch nicht vorbei.

Ein Geräusch wie reißendes Fleisch, gemischt mit einem klickenden, unnatürlichen Kreischen, kündigte die nächste Welle an.

Die Alienwesen kamen.

Diesmal waren es nicht nur kleine Krabben, sondern größere, aufgerichtete Kreaturen mit verlängerten Armen, leuchtenden Drüsen auf dem Rücken und flackernden Fangzähnen. Sie drängten sich durch den Nebel und krochen über die Trümmer hinweg, als wären sie nicht vorhanden.

Malik, Tasha und Doug stellten sich nebeneinander. Doug und Tasha hatten sich jeweils eine verbogene Metallstange aus den Trümmern gezogen und hielten sie wie einen Speer. Sein Blick war hart, doch innerlich flackerte die Unsicherheit.

„Ready?“, fragte Malik knapp.

Niemand antwortete, sie mussten nicht.

Und dann kamen sie.

Die ersten Schatten sprangen mit einem Kreischen nach vorn, Krallen blitzten auf und Schleim tropfte.

Die Gruppe hielt die Stellung, denn sie wusste, dass sie sich einer Macht entgegenstellte, auf die sie niemand vorbereitet hatte.

Aber sie standen. Gemeinsam.

Plötzlich ein grelles Zischen.

Ein einzelner Pfeil schoss aus dem Nebel und schlug mit präziser Wucht in die Mitte der heranrückenden Alienwelle ein. Ein gleißender Elektroschock entlud sich in einem kreisförmigen Impuls, durchzuckte die vorderste Reihe der Kreaturen und ließ sie wie eingefroren im Moment ihres Angriffs erstarren. Ihre Körper zuckten, die Krallen spreizten sich in alle Richtungen, während das Knistern der Ladung die Luft zerschnitt.

Bevor jemand aus der Gruppe reagieren konnte, landeten zwei Gestalten direkt vor ihnen, zwischen Trümmern und Schreien. Sie nahmen eine Schutzhaltung ein und bildeten so eine Mauer aus Fleisch und Entschlossenheit. Orion und Redcoat. Zwei Vigilanten, zwei lebende Mythen, die der Regierung mehr als einmal Kopfschmerzen bereitet hatten. Ihre Ankunft war nicht nur spektakulär, sondern auch unmöglich zu ignorieren.

Redcoat trug seine typische rote Rüstung, die an den Rändern zerschlissen war und metallene Einsätze über der Brust hatte. Er richtete sich auf, groß wie ein Koloss, und funkelte die Angreifer mit stählernem Blick an.

Neben ihm stand Orion, schlank, präzise, tödlich, den Bogen bereits wieder gespannt. In seinem Köcher steckten Pfeile. Doch jedes Mal, wenn einer davon verschwand, schien ein neuer an seiner Stelle aufzutauchen, als würde das Universum seine Mission selbst unterstützen.

Tasha und Caleb erstarrten.

Für Nerds wie Caleb und Nathaniel waren diese beiden Legenden. Und Tasha? Sie sog Nachrichten auf wie andere Luft. Es war unmöglich, dass sie ihre Gesichter nicht kannte.

„Alles gut?“, fragte Redcoat mit tiefer, rauer Stimme. Er klang wie ein Fels in der Brandung.

Die Gruppe nickte noch halb benommen wie auf Kommando.

Keine Zeit für Fragen.

Redcoat sprang vorwärts, sein Mantel flatterte wie das Banner eines vergessenen Ordens. Er warf sich mit geballter Wucht in die nächste Alienreihe. Sein Schlag fegte zwei der Wesen mit einem einzigen Hieb gegen die Wand, wo sie schmatzend aufprallten.

Orion bewegte sich kaum. Nur sein Bogen sang.

Ein Pfeil surrte.

Noch einer, flammend.

Ein dritter explodierte.

Präzision in Reinform.

Er warf keine Blicke, sagte kein Wort, zögerte nicht, sondern war absolut konzentriert. Die Pfeile schienen nicht auszugehen, sein Köcher blieb stets gefüllt.

Caleb starrte gebannt zu. „Das ist ein … ein verdammtes Inventarsystem“, murmelte er.

Damit meinte er einen speicherbaren Mikroraum für Ausrüstung, der unsichtbar und jederzeit abrufbar war. Doch Orion trug es nicht wie ein Werkzeug, sondern wie einen Teil seiner selbst. Tasha konnte kaum glauben, was sie sah. Diese Männer waren keine bloßen Rebellen, keine Gesuchten.

So geschickt und furchtlos Orion und Redcoat auch kämpften, so sehr sie mit fließenden Bewegungen und perfekter Koordination Alien um Alien zurücktrieben, es war kein Sieg, sondern lediglich das Halten der Linie. Ein Ende war nicht in Sicht. Kein Moment der Ruhe.

Und dann ... war da jemand.

Eine Gestalt stand regungslos auf einem Trümmerhaufen weiter hinten. Ihre Silhouette hob sich klar vom grauen, flackernden Rauch ab, als würde sie nicht dazugehören, als würde sie alles überblicken.

Caleb starrte hin. „Das muss der General sein“, sagte er halblaut. Für einen Moment klang seine Stimme nicht mehr wie die eines Nerds, sondern wie die eines Soldaten. Mit einer Handbewegung ließ er mehrere seiner Stinger-Drohnen starten. Sie zischten wie metallene Insekten in die Höhe, kreisten um ihn und formten eine taktische Formation. Vor Caleb schwebte nun ein holografisches Interface, das er mit den Fingerspitzen bediente: Karten, Zielerfassung, Drohnenstatus. Ein digitales Schachbrett für den Ernstfall. Die Drohnen flogen auf den mysteriösen Gegner zu, der sich zunächst kaum regte. Caleb folgte ihnen mit vorsichtigen Schritten, duckte sich hinter einen umgestürzten Pfeiler und näherte sich Meter für Meter.

Die Kreatur auf den Trümmern war seltsam. Sie hatte menschliche Proportionen, doch ihr Körper schimmerte in düsteren Wellen. Er flackerte, als sei er aus Schatten zusammengesetzt, aber nicht völlig immateriell. Die Form war instabil, verzog sich, wuchs und schrumpfte mit jeder Bewegung, als sei sie aus flüssigem Rauch in einem festen Körper geformt.

Caleb runzelte die Stirn. „Wer … bist du?“

Die Gestalt drehte langsam den Kopf. Ihre Augen glühten blassblau und leer wie zwei Schneestürme in endloser Nacht.

„Ein Shenth“, kam es leise, aber unverkennbar direkt. „Nenne mich Tierroth.“

Ein seltsames, unnatürliches Lächeln, das nicht zu ihrem Gesicht passte, erschien auf ihrem Mund.

Plötzlich legte Tierroth beide Hände auf den Boden. Seine langen Finger wirkten wie Krallen, seine Bewegung war geschmeidig, beängstigend präzise.

Ein Moment lang geschah nichts. Dann ...

Ein gurgelndes, ächzendes Geräusch ertönte direkt neben der Gruppe.

Der Asphalt verformte sich und färbte sich dunkelgrau-schwarz, die gleiche Farbe wie Tierroths Körper. Dann öffnete sich ein spiralförmiges, organisches Portal, flüssig wie die klaffende Wunde eines Planeten, die stöhnte.

Und aus dieser Wunde brachen sie hervor.

Es waren kleine Shenth-Kreaturen, reptilienhaft, zuckend, klauend, schmatzend und aggressiv.

Doug stellte sich als Erster schützend vor Caleb, mit nichts als einer Metallstange in den Händen, aber mit jedem Muskel zum Sterben bereit. Malik folgte sofort und schleuderte mit einem breiten Schwung seines Kampfstabs den ersten Angreifer gegen die Wand.

Er schickte die Stinger-Drohnen los, programmierte Schocksalven und ließ sie schnell, gezielt und simultan angreifen. Elektrische Impulse durchzuckten den Schenth-General und rissen ihn aus seiner statischen Haltung. Sein Körper zuckte kurz, flackerte stärker und verzog sich.

Aber dann lächelte er nur wieder.

Und machte einfach weiter.

Als wäre nichts gewesen.

Ein kaum hörbares Brummen ertönte und plötzlich war Tierroth verschwunden.

Nicht nach oben. Nicht zur Seite. Einfach weg.

Die Gruppe wirbelte herum.

Ein Moment der Stille.

Dann trat er aus der Wand direkt neben ihnen.

Sein Körper floss halb aus der Oberfläche, als wäre diese nicht fest, sondern ein Schleier, durch den er sich einfach schob.

Kein Geräusch. Kein Schatten. Nur Bedrohung.


Vorheriges Kapitel                                          Halloween Special                                     Nächstes Kapitel

Kommentare