Kapitel 83 - Leuchtendes A

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Nathaniel sog die kalte Luft in seine Lungen, als wolle er sich von der Realität überzeugen, die ihn noch immer umgab. Seine Beine zitterten kurz, dann richtete er sich auf. Jeder Muskel brannte, doch er bewegte sich langsam und bestimmt.

Er ging an den geflüchteten Aliens vorbei, Wesen unterschiedlichster Herkunft, verstört, erschöpft, zerschunden, aber lebendig. Sie wichen respektvoll zur Seite, als er zwischen ihnen hindurchging.

Dann erblickte er sie, Maila.

Sie kam ihm entgegen, fast taumelnd, als könne sie nicht glauben, was sie sah.

Ohne Worte fielen sie sich in die Arme. Sie hielten sich fest.

Für Sekunden, die sich wie Jahre dehnten.

Dann flüsterte Nathaniel rau und fast ungläubig: „Ich bin zurück.“

Die Umarmung löste sich zögerlich.

Maila legte eine Hand an sein Gesicht, als müsste sie prüfen, ob er wirklich real war.

„Wir müssen uns beeilen“, sagte er dann und seine Stimme schnitt durch die Stille wie ein Ruf zum Aufbruch. „Wer hat gerade das Sagen?“


Adaja trat vor, ernst, wachsam und gefasst. „Jonah ist im Labor. Ward ist im Pentagon bei Ford. Sie sprechen mit den anderen Nationen über … alles. Wie wir das hier zu Ende bringen.“

Nathaniel nickte knapp. Der Ernst der Lage hatte ihn wieder eingeholt. Keine Zeit für Schwäche.

Er blickte zu Greengore, der stumm danebenstand: riesig, zerschunden, aber aufrecht wie ein Monument. Der alte, steinige Krieger nickte ihm zu, dann beugte er sich hinunter und hob den leblosen Körper von Iris vorsichtig auf. Etwas in Nathaniels Brust zog sich zusammen. Ohne ein weiteres Wort schloss sich Greengore ihnen an – gemeinsam mit Nyreth, Mattash und Berina. Sie alle bildeten eine stille, geschlossene Formation.

Nathaniel, Maila, Yasmin, Adaja, Greengore, Nyreth, Mattash und Berina gingen schweigend in Richtung Labor. Garro folgte ihnen lautlos und fast majestätisch; der kristalline Wolf ließ die Stimmen verhallen. In diesem Moment wurde Nathaniel klar, dass Garro für die meisten der gefangenen Aliens aus Ilum etwas Besonderes war.

Vor dem Labor legte er sich schließlich ab, den wachen Blick nach draußen gerichtet, wie ein alter Hund, der weiß, wann sein Rudel ihn braucht und wann er allein gehen muss.

Die Tür öffnete sich automatisch mit einem leisen Zischen und ein warmer Lichtschimmer flutete den Gang. Drinnen summte das Labor wie ein lebendiger Organismus. Hologramme drehten sich in der Luft, Monitore blinkten in hektischen Intervallen und digitale Karten flackerten über Wände und Tische. Zwischen all dem Chaos bewegte sich Jonah mit atemberaubender Geschwindigkeit. Wie ein Mann, der zu viel dachte und zu wenig schlief. Er huschte zwischen Analysegeräten, halb geöffneten Terminals und vibrierenden Reaktorkernen hin und her, als wäre sein Gehirn direkt mit der Stromleitung verbunden. Seine Finger tanzten über Touchpanels, Kabel hingen ihm halb aus der Jacke und ein Kaffeebecher stand seit Stunden dampflos neben einem Steuerpult.

Nathaniel trat ein, blieb einen Moment am Eingang stehen und beobachtete seinen alten Freund. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Manche Dinge ändern sich wohl nie.“

Jonah hielt inne.

Langsam hob er den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde war reines Erstaunen in seinem Blick, als hätte jemand die Zeit angehalten.

Dann sprang er auf.

„Nate! Was … Scheißegal, du bist zurück!“

Er stürmte auf ihn zu, riss ihn beinahe um, als sie sich umarmten. Es war kein langes, tiefes Wiedersehen, dafür war die Zeit zu knapp. Aber es war ehrlich.

„Wir müssen uns beeilen“, sagte Nathaniel trocken. Die Schwere der Situation schwang in jedem seiner Worte mit.

Jonah trat zurück, strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht und atmete tief durch. Dann wurde seine Stimme sofort geschäftlich.

„Rasun und Captain Cross sind in Afran. Dort scheint der größte Bohrer mit mehreren Kilometern Durchmesser einzutreffen.“

Nathaniels Augen wurden schmal.

„Dann wissen wir, wo wir hinmüssen.“

Er drehte sich halb um und sah die anderen an, die mit ihm gekommen waren.

„Greengore, Nyreth, Berina, ich brauche euch hier. Bleibt bei Jonah. Erklärt ihm alles, was ihr über die Shenth wisst: ihre Struktur, ihre Symbiose, ihre Schwächen. Und wenn ihr irgendein Muster erkennt, das wir übersehen haben, dann sagt es. Der Rest der Welt hängt jetzt von diesen Daten ab.“

Greengore trat nach vorn, mit Iris’ leblosem Körper noch immer auf den Armen. Seine Augen glühten ruhig.

„Wir teilen, was wir wissen. Aber beeilt euch. Was auch immer in Afran auftaucht, es wird nicht allein kommen.“

„Mattash, Maila“, fuhr Nathaniel fort. Seine Stimme klang jetzt wie die eines Anführers, der wusste, was auf dem Spiel stand. „Ihr kommt mit mir nach Afran.“

Maila nickte kurz.

„Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist“, sagte sie leise und beinahe schelmisch. „Aber es scheint gut gewesen zu sein.“

Ein Hauch von Wärme durchbrach die Härte in Nathaniels Gesicht.

„Noch reden wir. Also war’s nicht ganz umsonst“, erwiderte er knapp.

Jonah war bereits wieder in Bewegung. Seine Hände tippten über ein Holo-Interface, während er mit dem Pentagon kommunizierte.

„Hier spricht Jonah Carina. Ich brauche sofort ein Graveship-Hochgeschwindigkeits-Transportschiff nach Afran. Wir haben Verstärkung. Drei Einheiten, mindestens eine davon spezialisiert auf Kommandostruktur. Bereit zum Absprung in fünf Minuten.“

Ein Bestätigungston erklang.

„Verstanden. Graveship ist unterwegs. Bereithalten für die Ankopplung an die Nordplattform.“

„Ich habe etwas für euch“, sagte Jonah, während er sich zu einem schmalen, silbernen Safe beugte, der bündig in die Wand eingelassen war. Nach einem Handscan und einer kurzen Passworteingabe öffnete sich der Mechanismus mit einem leisen Surren.

Im Inneren lagen zwei flache, sechseckige Chips, die in changierenden Farben schimmerten, als wären sie aus flüssigem Licht gefertigt, und in eine transparente Hülle eingebettet waren.

Er nahm sie vorsichtig heraus und reichte sie Nathaniel und Maila.

„Upgrade-Chips“, erklärte er knapp. „Spezialanpassung für eure Snyect-Anzüge. Sie sind direkt mit euren biologischen Frequenzen und bisherigen Einsatzdaten synchronisiert.“

Nathaniel und Maila warfen sich einen kurzen Blick zu, bevor sie die Chips gleichzeitig auf den Aktivierungspunkt an ihrem Handgelenk legten.

Es ertönte ein kurzes, elektrisches Klicken, dann ein Puls.

Die Chips glitten in das Snyect-Material, als würden sie verschluckt. Unmittelbar danach begann der Anzug zu reagieren.

Mailas Körper wurde von einer Welle dunkler Energie umhüllt. Ihr bisheriger Tarnanzug formte sich neu: dunkler und eleganter. Nach wenigen Sekunden stand sie da, gehüllt in einen schwarzen Kampfanzug mit dunkelblauen, pulsierenden Linien, die wie Neulichter auf einer fremden Raumstation wirkten.

Die Applikationen zogen sich in symmetrischen Bögen über Schultern, Hüfte und Oberschenkel – dynamisch, aber dezent.

Am auffälligsten war der Helm: eine glatte, gesichtslose Oberfläche ohne sichtbare Öffnung. Stattdessen erschien darauf ein leuchtender, minimalistisch stilisierter Smiley, der sich in Echtzeit ihrer Emotionen anpasste.

Gerade jetzt war es ein leichtes Grinsen, das aufblitzte.

Maila hob die Hände, betrachtete ihre Fingerspitzen und drehte sich einmal im Kreis.

„Interessant“, sagte sie trocken, aber mit einem Hauch von Faszination in der Stimme. „Fühlt sich … neu an.“

Auch Nathaniels Anzug hatte sich verändert.

Die Basis war ebenfalls tiefschwarz, doch über seinen gesamten Körper zogen sich kräftige, orangefarbene Verstärkungen, die wie ein Exoskelett wirkten.

Die Schutzplatten waren massiver als zuvor, aber elegant in das Gewebe integriert. Sie gaben dem Anzug eine athletische, kraftvolle Silhouette. Die Schultern wirkten breiter, und seine Bewegungen wirkten zugleich geschmeidiger.

Auf seiner linken Brust leuchtete ein klares, stilisiertes A – das Symbol Atlons, seines Codennamens –, das in ein leicht pulsierendes Energiefeld eingebettet war.

Sein Gesicht war nicht von einem Helm bedeckt, sondern er trug eine kantige, orangefarbene Halbmaske, die sich über seine Augen legte. Sie sah aus, als wäre sie aus geschliffenem Licht gefertigt, durchzogen von Mikrokanälen, die beim Blickwechsel in winzigen Impulsen aufflackerten.

Seine dunklen, leicht zerzausten Haare fielen darüber; nichts daran war geplant oder militärisch korrekt. Es wirkte fast ungewollt rebellisch.

Der Anzug selbst reichte bis zum Kinn, wo er sich nahtlos mit seiner Haut verband, sodass man kaum sagen konnte, wo der Stoff endete und die Haut begann.

Jonah trat einen Schritt zurück und sah sie an, als wären sie zwei Prototypen, die nun endlich zum Leben erweckt worden waren.

„Nate, das meiste, was ich verändert habe, ist, dass dein Anzug jetzt das Licht besser nutzen kann, sowohl für offensive Auslenkung als auch für kinetische Entladung. Du bist eine wandelnde Fokuslinse.“

Nathaniel sah an sich herunter und drehte die Handgelenke leicht. Winzige Lichtbögen wanderten über die Handschuhe.

„Dann mal schauen.“

Jonah lachte leise, zum ersten Mal an diesem Tag.

„Ehrlich, danke“, sagte Nathaniel und seine Stimme klang für einen Moment weich. Nicht pathetisch, einfach ehrlich.

„Ich will, dass Atlon und Tidal in Afran mehr sind als nur Symbolfiguren. Ich will, dass ihr wirklich bereit seid.“

Wenig später, nachdem die letzten taktischen Entscheidungen getroffen und die Einheiten auf ihre Missionen verteilt worden waren, verließ Nathaniel den Konferenzraum. Die Tür glitt leise hinter ihm zu.

Die Luft war still. Nicht ruhig still.

Vor ihm saßen, standen oder knieten Dutzende Flüchtlinge, die sich über die weiten Plätze der Evakuierungszone verstreut hatten. Manche hielten sich gegenseitig im Arm. Andere starrten ins Nichts, als würde ihr Geist noch in den Ruinen hängen, die sie zurücklassen mussten. Ein Kind weinte leise. Eine Frau betete. Zwei Männer diskutierten hektisch mit einem Medic-Custodian. Nathaniel beobachtete all das schweigend. Er sah die Hilflosigkeit in diesen Blicken und die unvollendeten Fragen, die zwischen den Trümmern des eigenen Lebens hingen. Und trotzdem waren sie hier. Noch lebendig. Noch bereit, irgendwie weiterzumachen.

Er atmete einmal tief durch, wandte den Blick zur Seite und erkannte zwei ihm vertraute Silhouetten.

Xhi-Tun stand aufrecht und beinahe stoisch da, als würde er innerlich bereits den nächsten Kampf vorbereiten. Neben ihm stand Kalyx, schlank und konzentriert, mit einem ständigen Funkeln in den Augen.

Nathaniel winkte die beiden zu sich.

Sie verstanden sofort und folgten ihm ohne ein Wort zu verlieren zu einem abgelegenen Bereich hinter den Notunterkünften, wo sie ungestört waren.

Er blieb stehen und sah beide ernst an.

„Ich habe eine eigene Aufgabe für euch“, sagte er ruhig, aber mit fester Stimme.

Er reichte ihnen ein kleines, flexibles Datenpad. Auf dem Display flimmerten mehrere Koordinatensätze, dazu eine Aufzeichnung von Berinas letzten Berichten.

„Nach den Aussagen von Berina könnten dort besonders starke Gegner auftauchen. Vielleicht etwas anderes. Aber eins ist sicher: Wenn wir uns darum jetzt nicht kümmern, kostet es uns später alles.“

Seine Stimme stockte leicht. Für einen Moment wirkte er nicht wie ein Anführer, sondern wie jemand, der zu viel gesehen hatte.

„Ich kann euch nicht sagen, wie gefährlich es wirklich wird. Nur so viel: Ich will niemanden anderen schicken.“

Xhi-Tun legte Nathaniel die Hand auf die Schulter und nickte langsam.

„Amberlight ist bereit. Und er weiß, was auf dem Spiel steht.“

Ein leichtes Lächeln blitzte auf.

Kalyx warf einen kurzen Blick auf die Koordinaten. Sein Blick wurde scharf und fokussiert.

Dann hob er die Hand, und vor ihnen öffnete sich ein ovales, tiefschwarzes Portal, das von grünen Lichtlinien durchzogen war, die wie Sternenbahnen wirkten.

Die Luft knisterte, als Energie durch die Öffnung pulsierte.

„Void ebenfalls“, sagte er knapp.

Beide sahen Nathaniel noch einmal an, dann traten sie Seite an Seite hindurch, ohne zu zögern.

Das Portal schloss sich mit einem leisen, sphärischen Klang.

Nathaniel blieb zurück und starrte auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten.


Nur wenige Minuten später durchbrach ein leises, tiefes Dröhnen die Stille über dem Lager. Der Himmel über dem Camp wurde von grellen Lichtkegeln durchzogen, als das Graveship erschien: ein massives, metallisch glänzendes Transportflugzeug, dessen Triebwerke sich wie rotierende Ringe ineinander verschränkten. Es senkte sich zwischen den Notzelten und mobilen Versorgungseinheiten ab, ohne auch nur ein Sandkorn aufzuwirbeln – so präzise war die Landung. Viele der Flüchtlinge wichen automatisch zurück, einige hielten sich schützend die Hände vor das Gesicht, als das Licht der Triebwerke flackerte. Dann wurde die Hauptluke geöffnet, begleitet von einem zischenden Geräusch, das an Dampf erinnerte.

Takashi trat als Erster hinaus. Sein Schritt war wie immer kontrolliert, sein Blick scharf. Neben ihm stand überraschend eine junge Frau mit dunklem, zu einem Knoten gebundenem Haar. Sie trug eine modifizierte Version der Polizeiuniform aus New Tokio, ergänzt durch ein Snyect mit holografischer Benutzeroberfläche an ihrem linken Arm.

Nathaniel trat ihnen entgegen, ein leichtes Grinsen auf den Lippen.

„Takashi. Guter Zeitpunkt. Das hier …“, sagte er und zeigte mit einer weiten Geste auf die Menge hinter sich, „ … sind alles Überlebende aus dem Schiff dort oben. Sie geben uns Informationen über die Shenth und helfen bei der Ortung feindlicher Einheiten.“

Takashi musterte die Menschen. Seine ernste Miene wich einem anerkennenden Nicken.

„Respekt. Dann haben wir wohl mehr Unterstützung, als wir dachten.“

Er legte Nathaniel kurz die Hand auf die Schulter, dann wies er auf die Frau neben sich.

„Das ist meine Schwester, Hinata Ito. Sie ist Spezialistin für urbane Navigation und kybernetische Systeme und die beste Katana-Kämpferin, die ich kenne. Das Innenministerium hat sie aus New Tokio geschickt, um die Kommunikation zwischen den Fraktionen zu verbessern.“

Hinata lächelte höflich und verneigte sich leicht.

„Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Nathaniel Reed. Ich habe schon einiges über dich gehört.“

„Hoffentlich nur Gutes“, entgegnete Nathaniel augenzwinkernd und erwiderte die Geste mit einem leichten Knick.

Takashi sah sich um, musterte die Lage, das Chaos und die Erschöpfung in den Gesichtern.

„Wollen wir los?“, fragte er.

Nathaniel wandte sich um und suchte Mailas Blick. Sie stand mit verschränkten Armen neben einem Datenmodul und wirkte fokussiert. Als ihre Blicke sich trafen, nickte sie knapp.

Das reichte.

Sie stiegen ein.

Das Innere des Graviers war spartanisch, aber hochmodern. LED-Streifen zogen sich durch die Deckenkanten und alle Sitze waren mit biometrischen Sicherheitsgurten ausgestattet. Während Takashi und Hinata nach vorne ins Cockpit gingen, setzten sich Nathaniel und Maila nebeneinander in den hinteren Bereich und schnallten sich an. Mattash saß wenige Meter hinter ihnen.Für einen Moment war es ruhig. Zu hören war lediglich das leise Summen der Antriebe.

Dann, fast zögerlich, fragte Nathaniel:

„Alles okay bei dir, Maila?“

Sie drehte sich zu ihm und musterte ihn einen Moment lang. Dann lächelte sie sanft.

„Jetzt ja.“

Nathaniel hob eine Augenbraue, leicht verschmitzt.

„Hast du mich vermisst?“

Maila sah ihn länger an, als nötig. Dann nickte sie wortlos.

Ein einfaches Nicken.


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