Kapitel 82 - Etwas spüren

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„Weißt du, was jetzt kommen wird?“, fragte Fiona Clarkson mit kühler Stimme. Ihre Hände lagen gefaltet auf dem großen Konferenztisch, der zwischen den beiden Frauen wie eine schimmernde Barriere aus Glas und Schweigen wirkte. Tasha saß ihr gegenüber, regungslos, den Blick auf den Boden gerichtet. Hinter Fiona erstreckte sich das gewaltige Fenster, das den Blick über die Dächer von Blackchester freigab, einer Stadt, die einst vor Leben pulsierte.

Jetzt lag sie unter einem düsteren Schatten. Das gigantische Alienraumschiff thronte über der Metropole wie ein Unheilsbote. Es hatte das Licht verschluckt, den Himmel zerrissen und damit auch die Illusion von Kontrolle.

Doch all das – der Ausnahmezustand, die Bedrohung, die Angst – war für Tasha in diesem Moment nur ein ferner Widerhall. Ein schwacher Nachklang zu dem, was in ihr vorging. Sie fühlte sich leer. Ausgelaugt und entkoppelt vom Geschehen um sie herum.

Das Gespräch mit Fiona war wie das letzte Kapitel eines Buches, dessen Inhalt sie noch nicht verarbeiten konnte. Und doch war es vielleicht auf merkwürdige Weise der erste Schritt zur Heilung.

Langsam hob sie den Kopf.

Ihre Augen waren trocken, aber darin lag ein schweres, unausgesprochenes „Ja“.

Ein stummes Nicken.

Fiona atmete tief durch. Dann sprach sie mit jener Mischung aus Professionalität und Bedauern, die sie in Krisen oft an den Tag legte:

„Ich werde dich hiermit fristlos kündigen. Du hast einen Bericht veröffentlicht, ohne belastbare Beweise, ohne Rücksprache und ohne meine Zustimmung. Auf unserem offiziellen Newsportal. Das zählt in unserer Organisation als Hochverrat.“

Sie machte eine kurze Pause und ließ ihre Worte wie ein Urteil wirken.

„Wir konnten leider nicht verhindern, dass der Beitrag viral ging. Innerhalb von Minuten. Die Menschen in Blackchester …“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „… sie haben nun einen Grund mehr, sich zu fürchten. Und dafür trägst du Mitverantwortung.“

Tasha stand langsam auf.

Ihre Bewegungen waren ruhig, fast meditativ. Keine Wut, kein Einspruch.

Nur die stille Erkenntnis: Es war vorbei.

Sie streckte sich nicht. Sie atmete nicht tief durch. Sie sagte auch nichts.

Fiona sah sie an, während sie sich zur Tür drehte. Ihre Stimme klang nüchtern, beinahe bürokratisch:

„Du darfst dich heute noch im Gebäude aufhalten. Nimm dir die Zeit, dich von deinen Kollegen zu verabschieden. Ab morgen ... ist deine Zeit hier vorbei.“

Tasha legte die Hand an die Türklinke, hielt jedoch inne.

Dann drehte sie sich noch einmal um. Ihre Augen trafen auf Fionas und in ihnen lag keine Bitterkeit. Nur ein schwacher Schimmer von Dankbarkeit und vielleicht sogar Erleichterung.

„Danke“, sagte sie leise.

Nicht trotzig. Nicht ironisch.

Einfach ehrlich.

Dann öffnete sie die Tür und verließ den Raum.

Hinter ihr schloss sich das Kapitel, ohne Knall, ohne Drama. Nur das Geräusch einer Tür, die ins Schloss fiel, war zu hören.


Tasha stand an ihrem alten Arbeitsplatz.

Der Schreibtisch war zur Hälfte leergeräumt, doch in den Fächern lagen noch einzelne Erinnerungen: Stifte, Notizen und ein zerfleddertes Skizzenbuch mit Ideen, die nie veröffentlicht worden waren. Sie griff hinein, langsam.

Ihr Blick glitt über ein altes Notizbuch mit Fingerabdrücken von Kaffee und hastig notierten Gedanken.

„Darf ich dich hinausbegleiten?“

Die Stimme kam von rechts, ruhig und fast verschmitzt.

Doug stand da, wie aus dem Nichts, mit verschränkten Armen und einem dezenten Lächeln.

Wie immer trug er sein Hemd zu locker über der Hose, sein Kinn war stoppelig, und doch wirkte er in diesem Moment auf sonderbare Weise aufgeräumt.

Tasha sah zu ihm auf.

Er deutete auf ihre Tasche. „Letzter Raubzug?“

Sie hob eine Augenbraue.

„Ich habe gestern Abend gekündigt“, fuhr er fort. „Ich bin noch zwei Wochen hier, bis sie mich endgültig rauslassen.“

Dann zwinkerte er. „Trotzdem hast du’s schneller geschafft als ich. Respekt.“

Ein provokantes Grinsen huschte über sein Gesicht.

Tasha schnaubte leise und schüttelte den Kopf.

„Anfänger“, sagte sie trocken. Doug lachte auf. Herzlich.

Gemeinsam gingen sie Schritt für Schritt durch das Großraumbüro, das einst Bühne so vieler hitziger Diskussionen, kreativer Eskalationen und langer Nächte gewesen war.

Die Tische zu ihrer Linken und Rechten waren besetzt. Einige Kollegen blickten flüchtig auf, andere taten so, als wären sie in ihre Arbeit vertieft.

Doch die Spannung lag spürbar in der Luft.

Gedämpftes Gemurmel, kurze Seitenblicke und ein paar verstohlene Blicke zu den Monitoren – der Artikel war immer noch das große Thema.

Ein Sturm im digitalen Raum, ausgelöst von ihr.

Doch Tasha ging aufrecht.

Nicht aus Stolz, sondern aus Klarheit. Doug sagte nichts. Er ging einfach mit ihr.

Und obwohl um sie herum getuschelt wurde, als wäre sie eine Legende, ein Skandal, eine Heldin oder Verräterin, für sie beide zählte das in diesem Moment alles nicht.

Es war der gemeinsame Schritt hinaus.

Ein Schritt, der nicht zurückführen würde.

An der Tür angekommen, blieb Tasha stehen. Doug, der neben ihr ging, legte sanft eine Hand auf ihren Arm.

„Gehen wir aufs Dach?“, fragte er leise.

Sie hielt inne und sah ihm kurz in die Augen.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, warm und ehrlich. „Ja.“

Ohne ein weiteres Wort wandten sie sich dem Treppenhaus zu. Dessen metallene Stufen klangen leise unter ihren Schritten, als würden sie sich daran erinnern, wie oft sie gemeinsam hier heraufgestiegen waren.

Oben angekommen, drückte Doug mit einem festen Ruck die schwere Eisentür auf.

Ein leises Knarren, dann strömte frische Luft herein.

Das Dach lag vor ihnen: rau, karg, vom Wind umweht und doch auf seltsame Weise vertraut.

„Da sind wir wieder“, sagte Doug, trat hinaus und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Stadt umarmen. „Das letzte Mal.“

Tasha trat neben ihn und gemeinsam gingen sie zur niedrigen Betonmauer am Rand.

Unter ihnen breitete sich Blackchester aus, grau und von den letzten Wochen gezeichnet, von Unruhen, Schweigen und Hoffnung.

„Was wirst du tun, Tasha?“, fragte Doug schließlich, während sein Blick über das, was unter ihnen lag, schweifte, nicht zu ihr.

Sie schwieg kurz, als müsse sie ihre Antwort aus dem Wind herausgreifen. Dann drehte sie sich zu ihm.

„Ich werde als Pressesprecherin für Alexander Marston arbeiten.“

Sie sah ihm offen in die Augen.

„Er kandidiert als Bürgermeister. Er glaubt, dass sich etwas in dieser Stadt ändern muss. Und ich … ich glaube, ich will ihm dabei helfen.“

Doug nickte und nahm es schweigend auf.

Sein Blick blieb auf den Dächern und der Dunstschicht, die wie ein Schleier über der Stadt lag, haften.

„Ich gehe nach Saint Veronika“, sagte er schließlich und fügte hinzu. „Ich fange bei Timely an. Ein neuer Abschnitt, neue Leute. Irgendwie … fühlt es sich richtig an. Mein Weg führt mich dorthin.“

Tasha sah ihn an, weder überrascht noch traurig. Vielleicht war es nur die logische Konsequenz.

Trotzdem trat sie näher an ihn heran, nahm behutsam seine Hand und führte sie an ihre Wange.

Ihre Haut war warm, ihre Augen klar und voller Gegenwart.

„Und das hier?“, fragte sie leise.

„Ist das auf deinem Weg eingeplant?“

Sie stellte die Frage nicht wie jemand, der sich festhalten wollte, sondern wie jemand, der diesen Moment nicht einfach verstreichen lassen wollte.

Dann küsste sie ihn.

Zunächst sanft und fast tastend, doch mit jeder Sekunde gewann der Kuss an Tiefe.

Es war ein Innehalten, das Auflösen all der Spannung und des unausgesprochenen Verlangens der letzten Wochen.

Doug legte die Arme um sie, zog sie näher und seine Lippen antworteten kräftiger und drängender.

Seine Hände fanden ihren Weg über ihren Rücken, ihre Taille und ihre Hüfte.

Tasha streichelte seinen Nacken, glitt mit den Fingerspitzen an seinem Hemd entlang und erreichte schließlich den Hosenbund.

Mit einem Blick, der keine Fragen stellte, sondern nur Verlangen kannte, öffnete sie den Knopf.

Sie sah ihm tief in die Augen, während ihre Hand langsam in seine Hose glitt

Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen.

„Mir gefällt, was ich spüre“, flüsterte sie.

Doug packte sie fester, drehte sie sanft, aber bestimmt von sich weg, sodass sie direkt zur Stadt blickte, zu den Lichtern, dem Leben, dem Chaos.

Mit einer Hand auf ihrer Hüfte und der anderen an ihrer Taille zog er sie näher an sich.

Der Wind spielte mit Tashas Haaren, doch sie schloss die Augen.

Für einen Moment existierte nur noch das.


Später standen sie noch immer auf dem Dach, mit der Stadt zu ihren Füßen und dem Abendhimmel über ihren Köpfen, der sich in ein fahles Violett färbte.

Doug reichte Tasha eine Zigarette.

Sie zögerte und warf ihm einen halb fragenden, halb spöttischen Blick zu.

„Ich rauche eigentlich nicht.“

„Heute zählt das nicht“, sagte Doug ruhig.

Tasha nahm die Zigarette und zündete sie an. Der Rauch kratzte leicht im Hals, weil sie zu flach zog, zu ungeübt. Aber es war egal.

Sie wollte den Moment festhalten, die Schwere lockern, etwas tun, das sich fremd anfühlte, weil sie sich selbst und allem um sich herum fremd war.

Die beiden standen schweigend nebeneinander an der niedrigen Mauer, während sich der Rauch in Spiralen in den Wind mischte.

„War das …“, begann Tasha schließlich und ließ den Satz in der Luft hängen.

Dann wandte sie sich ihm zu.

„War das vorhin das erste und letzte Mal, Doug?“

Ein Moment verstrich, in dem er nichts sagte. Nur der Rauch entwich seinen Lippen, dicht und beinahe nachdenklich.

Dann sah er sie an.

„Ich hoffe nicht“, sagte er ehrlich. Seine Stimme klang ruhig und ohne Pathos, doch sie klang auch wie ein Versprechen.

Tasha nickte langsam. Die Zigarette war zur Hälfte abgebrannt. Sie ließ sie zwischen den Fingern kreisen.

Und dann kam es.

Zuerst war es nur ein kaum spürbares Zittern unter ihren Füßen.

Ein leises Beben, wie ein tiefes Grollen, das aus dem Innersten der Erde zu kommen schien.

Tasha runzelte die Stirn.

Doug hob den Kopf.

Das Zittern wurde stärker. Der Beton vibrierte. Metall summte.

Dann schien die gesamte Luft um sie herum zu beben, als würde die Atmosphäre selbst zerspringen.

Ein ohrenbetäubender Knall durchbrach die Stille, als würde der Himmel bersten.

Und dann sah sie ein Bild, das sich unauslöschlich in ihre Augen brannte.

Mehrere der gewaltigen Wolkenkratzer, die in der Ferne das Stadtbild prägten, begannen plötzlich zu schwanken.

Wie Riesen auf tönernen Füßen zitterten sie, bevor sie mit einem monumentalen Krachen nacheinander in sich zusammenstürzten, als wäre eine unsichtbare Hand durch die Stadt gefegt.

Fenster splitterten, Staub stieg auf wie Nebelwände und verschlang alles.

Tasha sog scharf die Luft ein und warf die Zigarette fort.

Doug stellte sich automatisch schützend vor sie.

Der Boden bebte weiter, als würde sich die Realität selbst neu ordnen.


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