Kapitel 81 - Vibrationen

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„Nein“, sagte Iris mit bebender Stimme. Ihre Augen füllten sich mit einem flackernden Licht, das zwischen Schmerz und Entschlossenheit hin und her tanzte. „Das Recht hast du dir längst verbaut.“ Sie zitterte am ganzen Körper, jedoch nicht vor Angst, sondern vor unterdrückter Wut. Dann hob sie den Kopf und ihr Blick wurde klar und hart. „Ich werde dich jetzt aufhalten.“

Ein leises Grollen durchzog die Luft, als sie langsam abhob. Ihr Körper begann zu schweben, eine unsichtbare Kraft hob sie empor. Ihre Augen leuchteten silbern wie zwei Sterne in einem dunklen Sturm.

Amet glaubte, die Chance zu erkennen. Ohne zu zögern, ließ sie ihre violetten Arme nach vorne schnellen. Wie Speere aus Stahl zuckten sie auf Iris zu, zielgenau und tödlich.

Doch sie prallten ab.

An einer Barriere, die sich in diesem Moment aufgebaut hatte: ein schimmernder Schild aus reiner Energie, der sich um Iris legte wie eine lebendige Aura.

Das Licht flackerte kurz und wurde dann ruhig und stabil. Der Schild war kein Reflex, sondern Kontrolle. Nathaniel drehte sich um, als plötzlich Stimmen durch das Getöse drangen. Greengore. Mattash. Berina. Kalyx. Xhi-Tun. Nyreth. Sie kamen aus dem Schatten, aus Trümmern und Rauch und versammelten sich um ihn.

„Wie ist der Plan?“, fragte Mattash. Seine Stimme klang ruhig, beinahe zu ruhig. Der Ernst der Lage lag wie Blei darin.

Er trat vor und sein Blick suchte Nathaniels. „Ich kann das Portal öffnen. Aber ich brauche Unterstützung. Jemand muss mich begleiten, während ich es programmiere. Wo soll es hinführen?“

Nathaniel holte tief Luft, dann aktivierte er sein Synect. Die Koordinaten erschienen als flirrendes Hologramm in der Luft über seiner Handfläche.

„Alasteria“, sagte er. „In der Lichtung. Da ist genug Raum und genug Deckung.“

Mattash nickte nur einmal knapp. Nyreth trat sofort an seine Seite, Berina folgte ohne ein Wort, dicht gefolgt von Garro. Dann rannten sie los und ihre Silhouetten verschwanden zwischen brennenden Gebäuden und zerborstenen Wänden.

Ein dumpfer Ton vibrierte durch den Boden. Nathaniel spürte ihn noch bevor er ihn richtig hörte, als würde die Erde unter seinen Füßen mitatmen.

Er sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass Greengore nicht mehr bei ihnen war.

Ein tiefes, uraltes Dröhnen lenkte seinen Blick zur Statue von Prometheus.

Dort stand er. Regungslos.

Greengore hatte seine Hand auf den Stein gelegt, seine Stirn war nur wenige Zentimeter davon entfernt. Auf seinem Körper begannen in ritueller Reihenfolge Runen zu glimmen, erst sanft, dann mit einem Feuer, das uralt und gefährlich wirkte.

Er verband seinen persönlichen Stein mit dem der Statue. Zwei Quellen verschmolzen.

Eine Welle aus Kraft schoss durch ihn hindurch, ließ die Luft vibrieren und den Boden beben. Die Statue selbst schien kurz zu leuchten, als würde Prometheus für einen Moment erwachen.

In der Ferne waren Kampfgeräusche zu hören.

Kalyx und Xhi-Tun waren in Bewegung, halfen den normalen Bewohnern und kämpften gegen die Triklin ein brutales und schnelles Gefecht aus. Kalyx riss mithilfe seiner Protale Risse in die Luft, während Xhi-Tun mit brutaler Geschwindigkeit präzise zuschlug.

Prometheus’ Stein glühte in pulsierendem Weiß, als würde er atmen. Dann begann er zu bröckeln. Zunächst splitterte nur eine kleine Ecke ab, dann brach die Oberfläche langsam und würdevoll zusammen, wie das Ende eines alten Bauwerks.

Der Kern zerbrach.

Ein tiefer, vibrierender Klang begleitete das Ende.

Nathaniel spürte einen Stich in der Brust. Er lief los, sprang über Trümmer und Schutt, bis er schließlich neben Greengore zum Stehen kam.

Etwas bewegte sich in den Überresten.

Langsam trat eine Gestalt aus dem Staub, der wie Nebel über dem Boden lag.

Eine Person. Nein, mehr als das.

Der Körper war ungewöhnlich, eine Mischung aus Organischem und Mechanischem. Die Haut war gräulich, beinahe steinern, und von haarfeinen Lichtadern durchzogen. Arme und Beine bestanden aus dichten, geordneten Strängen, die an freigelegte Kabel erinnerten: elastisch, funktional und auf eine fremdartige Weise schön. Sein Brustkorb war durch eine metallische Platte geschützt, silbermatt mit einer Vertiefung in der Mitte, die leer war, als fehle etwas Entscheidendes. Das Gesicht wirkte fast menschlich. Es hatte markante Wangenknochen und ruhige Augen. Doch die Kabel liefen bis zum Kinn und schienen Teil seiner Gesichtsmuskulatur zu sein. Und sein Haar war pechschwarz mit einem grünlichen Schimmer, der bei jeder Bewegung anders reflektierte.

Er hustete einen trockenen, rauen Laut, dann hob er den Kopf. Seine Augen trafen auf Greengores, und er ging auf ihn zu. Dann umarmte er ihn fest, ohne zu zögern, ohne Zurückhaltung.

„Mein Freund!“, rief er mit zitternder Stimme, und für einen Moment war alles andere vergessen.

Doch der Lärm des Kampfes holte sie zurück.

Ein gewaltiger Knall riss die Luft auf. In der Ferne tobte das Duell zwischen Iris und Amet, hoch über dem Boden, ein Tanz aus Licht und Macht.

Goldene Schlieren wirbelten wie brennende Bänder durch den Himmel und stießen auf violette Energiebögen, die sich wie Peitschen durch die Luft schnitten.

Prometheus, nein, der Mann, beobachtete es still.

Dann senkte er den Blick.

„Es ist soweit …“, murmelte er. Seine Stimme klang tief und war von einem Jahrtausend Gewicht getragen. „Und ich kann nicht helfen. Ich … ich habe keinen Gravitationskern mehr.“

Unbewusst fuhren seine Finger über die Vertiefung in seiner Brustplatte. Leer.

Nathaniel trat zu ihm. Er spürte den Schmerz und die Enttäuschung, aber auch die Hoffnung.

„Ich heiße Atlon“, sagte er mit fester Stimme. „Greengore und ich bringen dich zu Mattash. Wir brauchen dich, so wie du bist.“

Greengore, der immer noch ruhig und kraftvoll war, legte seinen Arm um Prometheus, um ihn zu stützen. Gemeinsam wandten sie sich zum Gehen. Atlon ging voraus, sein Blick fest auf den Weg gerichtet. Triklin stellten sich ihm kleine, schnelle Kreaturen entgegen, die Klingen an den Händen und Zähnen wie Nadeln hatten.

Doch Atlon wich nicht zurück.

Mit konzentrierter Entschlossenheit bewegte er sich durch sie hindurch, wich aus, stieß zurück und kämpfte sich Schritt für Schritt voran – nicht mit übermächtiger Kraft.

Und hinter ihm folgten zwei Gestalten, untrennbar miteinander verbunden:

Der Gefallene. und der Freund, der ihn trug.

Vor ihnen ragte der Turm auf, majestätisch, aber verwundet. Er war ein letzter Rückzugsort, eine Bastion inmitten des tobenden Chaos.

Sie erreichten ihn keuchend, gezeichnet vom Kampf, aber entschlossen. Die Gruppe nahm sofort Verteidigungspositionen ein, bereit, alles zu geben.

Nur Iris blieb draußen, schwebte wie eine Sternengöttin in der Luft und kämpfte gegen Amet.

Ihre Bewegungen waren präzise und voller Energie. Goldene Lichtwellen strahlten von ihr aus und durchtrennten die Luft mit messerscharfer Klarheit.

Dann knackte ein Kommunikationssignal durch das Rauschen.

Apex.

Seine Stimme klang unverkennbar kalt und überlegen, durchdrungen von mechanischer Arroganz.

„Ihr seid weit gekommen …“, sagte er mit einem fast ehrfürchtigen Unterton. „Doch ihr seid zu spät.“ Ein Moment des Stillstands. Dann erschien eine Übertragung, die in die Luft projiziert wurde – gestochen scharf.

Zu sehen war Ilum, wie es in einem perfekten, beinah unnatürlichen Orbit um Terra schwebte.

Dutzende Bohrköpfe entfalteten sich an den Unterseiten der Station. Sie bewegten sich synchron und zielgerichtet wie die Räder eines Uhrwerks.

Sie stießen langsam nach unten, auf Terra zu.

Dann ein Geräusch.

Ein unermessliches Dröhnen.

Es kam nicht nur aus der Übertragung, es war real.

Die Welt bebte.

Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, als würde das Herz des Planeten gegen seinen Willen schlagen.

Auf dem Holo-Bildschirm sah man, wie sich rund um die über die Oberfläche Terras verteilten Marker dunkle, kantige Steine zu bewegen begannen.

Sie brachen auf.

Hunderte Triklin schlüpften aus ihnen: feuchte, glänzende Kreaturen mit silbernen Augen und Klingen statt Fingern.

Nathaniel hielt kurz die Luft an.

Dann atmete er schwer aus. Der Schweiß lief ihm über die Stirn. Seine Gedanken rasten.

„Ich habe das Portal!“, rief plötzlich Mattash, und seine Stimme durchdrang alles.

Er stand am Rande eines schimmernden Strahls, einem aufrecht stehenden Wasserstrom, der sich wie ein Strom flüssigen Lichts bis hinab nach Alasteria zog.

„Geht hinein! Jetzt!“, befahl er ohne zu zögern.

Greengore wandte sich um und sah die tobende Schlacht am Himmel.

„Ich warte auf Iris!“, sagte er mit eiserner Entschlossenheit.

Prometheus trat neben ihn. Sein Gesicht war ruhig, seine Schultern waren gesenkt, aber nicht schwach.

„Ich bleibe bei dir“, sagte er leise.

Xhi-Tun und Kalyx zögerten nur einen Wimpernschlag.

Dann griffen sie nach Nathaniel, der sich instinktiv wehrte.

„Nein! Ich kann nicht einfach weg!“, schrie er, während sie ihn in Richtung Wasserportal zogen.

„Doch, du musst!“, sagte Kalyx fest.

Mit vereinten Kräften stießen sie ihn hinein.

Er fiel nicht.

Er sank.

Aber es war nicht wie im Wasser, er schwebte.

Das Portal war kühl und flüssig, doch er konnte atmen. Jeder Atemzug war klar und fast süß.

Um ihn herum schwebten Xhi-Tun, Kalyx, dann Berina und schließlich Nyreth.

Dann tauchten weitere Gestalten auf.

Dutzende. Hunderte. Es waren Bewohner der Dörfer, verschiedene Spezies, jede anders, alle vereint in Stille und Bewegung.

Sie drifteten nebeneinander durch das Wasser, wie durch ein kollektives Erwachen.

Nathaniel sah nach oben.

Hoch über ihm flackerte das Licht.

Dann fiel ein Schatten.

Zwei Körper stürzten mit ungeheurer Wucht in das Wasserportal.

Greengore und Prometheus.

Sie wurden regelrecht hineingeschleudert, verfolgt von goldenen und violetten Blitzen.

Amet und Iris.

Der Kampf tobte noch, doch es war, als würde sich alles verlangsamen.

Ihre Bewegungen wirkten plötzlich schwer und mühsam, als würde die Zeit selbst sie bremsen.

Nathaniel hatte etwa ein Drittel des Wegs zurückgelegt, als es geschah.

Amet packte Iris.

Ein letzter Widerstand, ein Aufblitzen von Licht.

Dann riss sie Iris mit brutaler Kraft den Kopf ab.

Ein leises Knacken.

Dann Stille.

Das goldene Leuchten erlosch augenblicklich.

Es war, als wäre ein Stern gestorben.

Nathaniel spürte es im ganzen Körper.

Amet blickte noch einmal zurück, ihre Augen waren kalt und leer.

Dann sprang sie durch das Portal, riss das Wasser auseinander und flog wie ein Pfeil der Dunkelheit zurück zum Ilum.

Das Licht des Portals flackerte.

Der Strahl riss auf, das Portal zerplatzte wie eine gespannte Wasserhaut, die plötzlich den Druck nicht mehr halten konnte.

Nathaniel stolperte heraus und fiel beinahe auf die Knie, als seine Füße festen Boden berührten. Der Übergang vom schwebenden Wasserfluss zur Realität war wie ein Schlag in die Brust.

Er hatte Alasteria erreicht.

Ein dichter Wald umgab ihn. Hochgewachsene Bäume mit blauen und grünen Blättern rauschten sanft im Wind. Der Boden war feucht und mit Moos bedeckt, und die Luft roch nach Leben, nach Erde und Hoffnung, aber auch nach Blut.

Langsam hob er den Kopf.

Vor ihm, kaum dreißig Meter entfernt, standen sie.

Maila. Adaja. Yasmin.

Sie hatten ihn gesehen. Ihre Körper waren angespannt, ihre Blicke voller Erwartung und Angst.

Sie wollten zu ihm rennen, das spürte er. Er sah die Erleichterung in ihren Augen und das kaum unterdrückte Zittern in ihren Bewegungen.

Doch sie blieben stehen.

Denn Nathaniel hatte sich abgewendet. Nicht aus Ablehnung, sondern aus einem inneren Drang heraus. Seine Schritte führten ihn zu einer kleinen Lichtung direkt neben dem Ausgang des Portals.

Dort knieten zwei gewaltige Gestalten: Greengore, der Steinriese, und Prometheus.

Zwischen ihnen lag etwas.

Iris.

Ihr Körper war reglos. Ihr Glanz war verschwunden, ihr Licht erloschen, als hätte jemand die Sonne aus einem lebendigen Wesen herausgerissen.

Sie wirkte klein und zerbrechlich zwischen den mächtigen Körpern ihrer Gefährten.

Prometheus hatte ihren Kopf sanft an seine Brust gezogen. Seine rechte Hand umklammerte den Gravitationskern, als würde er ihn um jeden Preis beschützen wollen oder sich in ihm vergraben wollen.

Sein Blick war starr und der sonst so entschlossene Krieger wirkte wie eine zerbrochene Statue. Ein Schatten aus Schmerz und Ohnmacht lag über seinem Gesicht. Greengore kniete neben ihm; sein massiger Körper bewegte sich kaum. Doch selbst aus Stein konnte man die Trauer lesen, die sich in der Neigung seines Kopfes, dem Flackern seiner smaragdfarbenen Augen und dem leisen Grollen, das aus seiner Brust kam, widerspiegelte.

Nathaniel trat näher.

Er sagte kein Wort.

Er hockte sich zwischen die beiden.

Langsam, behutsam.

Dann legte er seine Hände auf ihre Rücken.

Für einen Moment schien die Welt anzuhalten.

Kein Wind. Kein Laut.


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