Halloween Special 2025 - Das Netz von Lutetia

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Sie spürte ein dumpfes Pochen in den Ohren, ein rhythmisches Dröhnen, das lauter war als ihr eigener Atem. Jeder Herzschlag hallte wie ein Trommelschlag durch ihren Schädel. Der metallische Geschmack von Blut lag schwer auf ihrer Zunge. Sie wusste nicht, ob er von der angestrengten Flucht kam, bei der ihre Lungen zu zerreißen drohten, oder von den unsichtbaren Frakturen, die sich tief in ihren Körper gegraben hatten. Jeder Schritt, jede Bewegung fühlte sich an wie zerbrechendes Glas. Die Luft der Stadt war schwer und roch nach feuchtem Stein, nach altem Moos, das sich an den Fassaden festklammerte, und nach dem modrigen Hauch des Wassers, das in den Katakomben unter der Erde ruhte. In dieser Nacht wirkte Lutetia wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Zwischen den hohen Türmen und den bröckelnden Mauern der Kathedralen hing eine Düsternis, die den Himmel selbst zu verschlingen schien. Das Licht der wenigen alten Laternen flackerte unstet und warf groteske Schatten auf die Pflastersteine. Vor ihren Füßen erkannte Claire den verzerrten Schatten eines der steinernen Gargoyles, für die die Stadt berüchtigt war. Sein Maul schien weit geöffnet, als würde er in ihrem Zittern ein Festmahl wittern. Mit jedem Atemzug hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden – von Augen aus Stein, die nie blinzelten.

Claire hockte dicht gedrängt in einer Ecke, die Knie fest an die Brust gezogen, die Finger verkrampft ineinander verschlungen. Ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie wollte still sein, unsichtbar, doch das Rasseln ihres Atems verriet ihre Anwesenheit. Der Wind, der durch die verwinkelten Gassen peitschte, heulte wie ein unheilvoller Chor und schnitt scharf durch ihre Kleidung. Er brachte den Geruch von Regen und Rauch mit sich – das Aroma einer Stadt, die gleichzeitig verfallen war und voller Geheimnisse steckte.

Die Gassen von Lutetia waren ein Labyrinth: schmal, unbarmherzig und von gotischen Gemäuern gesäumt, deren Spitzen wie Speere in den Himmel ragten. Überall bröckelten Steine, Risse durchzogen die Fassaden und dennoch wirkten die Gebäude wie unerschütterliche Zeugen vergangener Zeitalter. Manche Fenster waren blind vor Staub, andere erstrahlten schwach im Kerzenlicht, das sich wie schwaches Leben in der Dunkelheit behauptete. Brücken aus Stein überspannten die Straßen, als wollten sie Himmel und Erde verbinden. In den Tiefen der Schatten lauerten die Erinnerungen an längst vergessene Schrecken.

Claire versuchte, ihren Atem zu beruhigen, doch er gehorchte ihr nicht. Er war heiser und keuchend, und jedes Einziehen der Luft war eine Qual. Ihr Herz raste so schnell, dass sie fürchtete, es würde sie verraten – nicht durch ein Geräusch, sondern durch die pure Panik, die in ihrer Brust explodierte.

Dann riss erneut ein Windstoß durch die Gasse, wirbelte Staub und Laub auf und sie duckte sich noch tiefer in die Schatten. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Haut, bis sie fast Blut spürte. Sie wollte rennen, schreien, einfach nur entkommen. Doch ihre Beine waren bleischwer, als hätte die Stadt sie selbst in Ketten gelegt.

„Claire? Wo bist du?«

Die Stimme hallte tief und aggressiv durch die Gasse, durchdrungen von jener Härte, die Claire schon immer an ihm gefürchtet hatte. Es war, als würde die Dunkelheit selbst sprechen, als ob die Mauern ihr eigenes Echo gegen sie richteten. Victor. Er war hier. Trotz aller Anstrengungen, trotz der Hölle, durch die sie gerannt war, hatte er sie eingeholt.

Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie hatte geglaubt, schneller zu sein, weiter. Sie hatte gehofft, dass die verwinkelten Straßen der Stadt ihn verwirren und ihm den Weg erschweren würden. Doch Victor war wie ein Schatten, der sich an sie klammerte – unausweichlich und immer hinter ihr.

Claire stemmte sich hoch. Ihre Beine zitterten, die Muskeln brannten, jeder Nerv schrie. Ihr Oberschenkel gab nach, ein kurzer, stechender Schmerz ließ sie straucheln. Für einen Augenblick verlor sie das Gleichgewicht und stürzte beinahe zu Boden. Mit letzter Kraft fing sie sich ab, ihre Handfläche schürfte über den feuchten, kalten Stein. Sie keuchte, schmeckte Blut und roch den Moder des Pflasters, der sich mit ihrem Schweiß vermischte.

„Komm raus, Claire! Du kannst dich nicht ewig verstecken!« Victors Stimme hallte erneut, diesmal näher und drohender.

Sie schleppte sich Schritt für Schritt vorwärts über den nassen Boden, der von unzähligen Jahrhunderten gezeichnet war. Die Steine glänzten dunkel vom Regen, jeder Tritt war ein Rutschen, jeder Meter ein Kampf. Ihre Lunge brannte, ihr Herz schlug so heftig, dass es sich anfühlte, als würde es gegen ihren Brustkorb donnern.

Über ihr leuchteten holografische Projektionen. Sie schwebten wie künstliche Geister zwischen den Häusern: Werbung, die mit grellen Farben pulsierte. Eine Weinhandlung, eine Klinik, ein alter Buchladen. Doch für Claire waren es nur blendende, nutzlose Illusionen. Nichts davon konnte sie retten. Nichts davon würde Victor aufhalten.

In den Straßen von Lutetia mischte sich Altes mit Neuem. Gotische Bögen und bröckelnde Steinsäulen standen neben kalten Glasfassaden, über denen Hologramme wie Gespenster der Moderne tanzten.

Ihre Augen tasteten fieberhaft die Umgebung ab, suchten nach einem Ort, einem Schlupfloch, einer Zuflucht. Und dann sah sie es.

Vor ihr erhob sich eine alte Kirche, dunkel und ehrwürdig, deren Mauern von Jahrhunderten des Regens schwarz gefärbt waren. Ihre Fenster waren blind, die bunten Glasmalereien längst zerstört und das schwere Tor zwar verschlossen, aber nicht ganz verriegelt. Einst war sie ein Ort der Zuflucht, der Gebete und der Hoffnung gewesen. Doch seit der Vereinigung der christlichen Religionen zum Sanctus Orbis stand sie still, verlassen, ein zweckloses Relikt.

Claire blieb einen Moment stehen und atmete schwer.

Der Wind peitschte durch die Gasse und trug Victors Stimme erneut mit sich. Sie klang diesmal sanfter, beinah schmeichelnd, was es jedoch nur schlimmer machte. Claire wusste, dass sich hinter diesem Ton keine Güte verbarg, sondern das Versprechen von Gewalt.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich weiter, ihre Augen auf die alten Türen des heiligen Gemäuers fixiert. Sie legte ihre Hand an die massive Holztür, deren Oberfläche von den Jahrhunderten gezeichnet war. Risse durchzogen das Holz wie Adern, das Metall der Beschläge war stumpf und grünlich angelaufen. Mit einem Ruck drückte sie dagegen. Das Scharnier kreischte langgezogen, ein klagendes, rostiges Geräusch, das durch das Kirchenschiff widerhallte und die Stille der Nacht durchbrach. Das Quietschen war so laut, dass es ihr das Herz stocken ließ, als hätte sie mit dieser Bewegung der ganzen Welt ihre Anwesenheit verraten.

Eine Ratte huschte aufgeschreckt aus einer dunklen Ecke hervor, ihre kleinen Krallen kratzten über den Steinboden, bis sie in einem Loch zwischen den Steinen verschwand. Claire blieb kurz stehen, atmete flach und lauschte in die Finsternis hinein. Doch nichts folgte. Nur das Echo ihres eigenen Atems begleitete sie. Langsam schob sie sich hinein. Der erste Schritt brachte sie in eine Kälte, die sich sofort in ihre Haut fraß. Der Raum wirkte wie eingefroren, unbewohnt und von der Welt vergessen. Staub hing wie eine unsichtbare Decke in der Luft. Spinnenweben klebten an den hohen Bögen und schimmerten matt im Licht, das durch die zerbrochenen Reste der bunten Kirchenfenster fiel. Die Glasmalereien, die einst Heilige und Geschichten gezeigt hatten, waren nur noch Fragmente; die Farben wirkten wie blutige Tränen an den zerborstenen Scheiben.

Die Bänke standen noch in Reihen: dunkel, wurmstichig, manche umgekippt, andere von Schimmel überzogen. Über allem lag ein dumpfer Geruch nach Moder und Kerzenwachs. Claire schlich durch das Kirchenschiff. Ihre Schritte hallten gespenstisch nach, als sei jeder Tritt ein Verrat an ihrem Versteck.

In der Ferne, jenseits der massiven Mauern, hörte sie Victor. Der Wind trug seine Stimme in Fetzen zu ihr. Sie konnte keine Worte ausmachen, nur den Tonfall: tief und drohend, wie der eines Jägers, der nicht hetzen musste, weil er wusste, dass seine Beute nirgendwohin konnte. Claire beschleunigte ihre Schritte und zwang ihre Augen, nach einer Möglichkeit zu suchen, tiefer ins Gebäude zu gelangen. Die Schatten waren ihr einziger Schutz, doch in diesem Kirchenschiff gab es kaum Verstecke. Jede Säule war zu schmal, jede Bank zu niedrig und jeder Altarstein zu offen. Sie brauchte eine Tür, einen Durchgang, ein Loch, das sie verschluckte.

Im hinteren Teil des Raumes, halb verborgen hinter einer verfallenen Kanzel, entdeckte sie schließlich eine schmale Tür. Das Holz war heller als das des Hauptportals, weniger prunkvoll, eher funktional, vielleicht für die Diener der Kirche bestimmt. Ihre Hand griff nach der Klinke. Das kalte Metall ließ sie zusammenzucken. Vorsichtig drückte sie sie hinunter. Die Tür gab nach, ohne zu knarren, als hätte sie nur auf sie gewartet. Sie trat in einen Gang, der nach altem Rauch roch, als wären hier vor Jahren viele Kerzen verbrannt worden. Links von ihr öffnete sich ein Raum. Sie warf einen Blick hinein und erkannte sofort, was es gewesen sein musste: ein kleines Büro. Auf einem einfachen Tisch lagen zerfledderte und feuchte Bücher mit Tintenklecksen, die längst verlaufen waren. Ein hölzerner Stuhl stand schief an der Wand, an einem Haken hing eine Soutane wie ein vergessenes Gespenst. Hier hatte der Pfarrer einst gesessen, Reden vorbereitet und vielleicht Trost gespendet. Nun war es nur noch ein Raum voller Erinnerungen und Staub. Doch Claire hatte keine Zeit für Sentimentalität. Ihr Blick fiel auf das Ende des Ganges. Dort führte eine steinerne Treppe hinab in die Dunkelheit. Von dort wehte ein kalter Hauch herauf, feucht und erdig, wie aus einem seit Jahrzehnten unbetretenen Keller.

Mit einem letzten Blick in den Büroraum, als wolle sie sich vergewissern, dass sich dort niemand verbarg, wandte sie sich ab und setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Stufe. Der Stein war glitschig und kalt wie Eis. Sie stützte sich an der Wand ab und zwang ihren Körper, weiterzugehen. Schritt für Schritt verschlang die Finsternis sie, während das Echo ihrer Schritte von den Mauern widerhallte wie eine Totenglocke. Claire hob ihr Handgelenk, und sofort flackerte eine Reihe holografischer Nachrichten in die Dunkelheit auf. Kalte, grelle Lichtbalken schwebten über der Treppe und zerschnitten die Schatten wie Klingen. Auf den ersten Blick sah sie nur den Absender, den Namen, der ihr Herz jedes Mal zum Stillstand brachte: Victor Delacroix.

Ihre Kehle zog sich zusammen. Ein Schwindelgefühl überkam sie. Gegen ihren Willen klickte sie die erste Nachricht an. Und da waren sie: das Bild, die Stimme, die Erinnerungen, die sich wie glühende Nadeln durch ihre Haut bohrten.

Plötzlich riss die Realität auf und der Flashback stürzte auf sie nieder. Sie war wieder am Boden. Kalt. Schmutzig. Ihre Arme zitterten, ihre Haut brannte. Über ihr stand Victor, hoch und bedrohlich, seine Augen waren glasig und rot unterlaufen vom Alkohol. Der Geruch war unerträglich: eine Mischung aus Schweiß, billigem Branntwein und Gewalt. Sein Atem lag wie eine giftige Wolke über ihr, schwer und erstickend. Seine heruntergelassene Hose bot einen grotesken Anblick, der sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Der Gestank von Alkohol vermischte sich mit der ekelerregenden Nähe seiner Haut. Sie hörte sein Schreien, das in ihrem Kopf wie Donner hallte; jedes Wort war wie eine Peitsche, die tiefer schnitt als jeder Schlag. Dann sah sie den Gürtel. Dunkles Leder, die Metallschnalle glänzte im Licht. Er schwang ihn ohne Gnade. Das Geräusch war scharf, ein Knall, der immer wieder auf ihren Körper niederprasselte. Schmerz explodierte in ihr, Welle um Welle, bis sie nicht mehr wusste, wo ihr Körper aufhörte und die Qual begann. Sie wimmerte, krümmte sich und flehte, doch nichts hielt ihn zurück. Es gab nur die endlose Spirale aus Schlägen, Schreien, Alkohol und Demütigung.

Claire riss die Augen auf und war wieder in der Gegenwart. Ihr Atem ging stoßweise. Ihr Herz schlug so schnell, dass es schmerzte. Mit einem heftigen Zucken ihrer Hand wischte sie die Nachrichten weg, als könnte sie damit Victor auslöschen. Doch die Bilder brannten weiter in ihr nach, unauslöschlich. Sie zwang sich, nicht zusammenzubrechen. Eine schwach leuchtende Lampe aktivierte sich an ihrem Handgelenk in ihrem Synect. Ein bläuliches Licht legte sich über die Mauern und ließ die Schatten wie lebendige Gestalten zucken. Ihr linkes Handgelenk begann stärker zu leuchten und der Projektionseffekt pulsierte in unregelmäßigen Abständen, als würde auch die Technik ihre Panik widerspiegeln. Claire verharrte auf dem oberen Absatz der Treppe. Unter ihr lag Dunkelheit und das Licht ihres Synect wirkte darin viel zu schwach, als könne es jederzeit verschluckt werden. Sie legte eine Hand an die Wand und spürte die kalten Steine unter ihrer Haut. Sie waren rau und feucht, und kleine Tropfen glitten über ihre Finger. Ihr Atem war heiß, ihre Lungen arbeiteten fieberhaft, als hätten sie sich gegen sie verschworen. Sie schloss kurz die Augen und versuchte, ihren Puls zu beruhigen. „Nur ein Schritt“, flüsterte sie heiser. „Nur ein Schritt weiter.“

Sie stieg tiefer und tiefer, Schritt für Schritt. Die Treppe schraubte sich spiralförmig nach unten, als wollte sie nie enden. Jeder Tritt hallte dumpf gegen die feuchten Wände und klang wie ein fernes Echo in einem unterirdischen Labyrinth. Der Kreis, den die Stufen zogen, schien sie einzuschließen, als würde sie in den Schlund eines uralten Ungeheuers hinabsteigen. Je weiter sie ging, desto stickiger und schwerer wurde der Atem. Der Geruch von Moder, Stein und alter, abgestandener Feuchtigkeit legte sich wie eine zähe Schicht auf ihre Zunge. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte sie den letzten Absatz. Ihre Hand, die sich an der Wand abgestützt hatte, zitterte, als sie die Stufen hinter sich ließ. Vor ihr stand ein Durchgang, dessen Gemäuer vom Zahn der Zeit zerfressen war. In den brüchigen Steinen war noch das Wort „Krypta“ zu erkennen, doch der Rest der Inschrift war längst ausgewaschen. Claire spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Mit einem vorsichtigen Schritt trat sie durch den Torbogen und sofort eröffnete sich ihr ein Anblick, der ihr den Atem raubte.

Eine gewaltige Halle erstreckte sich im Untergrund, größer, als sie je erwartet hätte. Die Dunkelheit verschluckte den Raum fast vollständig, nur ihr Synect warf einen schwachen Schein. Der Lichtkegel wanderte über die Mauern, tastete sich über verfallene Bögen und Säulen, die sich wie gebrochene Rippenbögen in die Schwärze reckten. Der Raum war so leer, dass er zugleich endlos und erdrückend wirkte. Ein Nichts, das sie zu verschlingen drohte. Nur Spinnenweben zeugten davon, dass hier einst Leben gewesen war: dicke, zähe Netze, die von den steinernen Vorsprüngen bis zu den Bögen gespannt waren. Sie wirkten wie fahle Schleier. Irgendwo huschte eine Ratte über den Boden, ihr kleiner Körper zeichnete ein flüchtiges Rascheln im Staub, dann verschwand sie in einer Fuge. Claire zuckte zusammen und ihr Herzschlag beschleunigte sich, als wäre schon dieser Laut ein Vorbote von Victors Schritten.

Von der Decke tropfte in unregelmäßigen Abständen Wasser herab. Jeder Tropfen traf den Stein mit einem scharfen, klaren Klang, der in der Stille wie ein Peitschenhieb wirkte. Das Tropfen wurde zu einem Takt, einem grausamen Metronom, das ihre Angst strukturierte. Eins. Zwei. Drei. Sie spürte, wie ihr Herz im gleichen Rhythmus schlug – nur viel zu schnell und viel zu heftig. Claire drehte sich langsam, die Augen weit geöffnet und suchend. Wo konnte sie sich verstecken? Eine Ecke, ein Vorsprung, irgendetwas, das ihr Deckung bot. Doch der Raum war so leer, dass die Dunkelheit die einzige Tarnung versprach. Die Leere machte sie verletzlich. Jede Bewegung, jeder Atemzug hallte zurück. Es kam ihr so vor, als würde die Krypta ihre Anwesenheit verraten.

Sie versuchte, sich zu orientieren, doch es war fast unmöglich. Die Schwärze war erdrückend, als wäre sie eine Substanz, schwer und dick. Das Licht ihres Synect reichte nur wenige Schritte weit; alles darüber hinaus war ein Meer aus Schatten. Claire hob die Lampe höher, doch die Schatten zogen sich nicht zurück, sondern bewegten sich, als würden sie lebendig flackern.

Claire stolperte, als hätte der Boden ihr den Halt entzogen. Ein Schrei blieb ihr im Hals stecken, während sie nach vorne kippte und hart auf alle Viere fiel. Ihre Knie schlugen gegen den kalten Stein, doch der Schmerz war nebensächlich im Vergleich zu dem, was ihre Hände in diesem Moment berührten. Ein widerliches, zähes Gefühl kroch über ihre Finger. Sie blickte hinab und erstarrte. Es waren Spinnenweben, nicht dünn und zerbrechlich wie die, die sie zuvor an den Wänden gesehen hatte, sondern dick, feucht und klebrig wie die Fäden einer monströsen Kreatur. Sie klebten an ihren Händen fest, ließen sich weder abschütteln noch zerreißen. Claire riss daran, versuchte panisch, die Fäden abzuschütteln, doch sie klebten nur noch stärker. Ein Gefühl von Enge legte sich über ihre Brust. Ihre Atmung wurde immer schneller, stoßweise und unrhythmisch. Jeder Atemzug klang, als würde sie ertrinken, und die Panik schnürte ihr die Kehle zu. In ihrer Verzweiflung bemerkte sie zunächst nicht, dass sich der Raum um sie herum veränderte. Erst als ein fahles, grünes Leuchten den Raum erfüllte, hob sie langsam den Kopf.

Ein kalter Schauer kroch ihr den Rücken hinauf, als die Lichtquelle sichtbar wurde. Wenige Meter vor ihr erhob sich ein Thron, der so gewaltig war, dass er in der Dunkelheit beinahe mit den Schatten verschmolz. Die Spinnenweben, die Claire gefangen hielten, schienen von diesem Thron auszugehen. Sie wirkten nicht wie natürliche Gebilde, sondern wie Adern, die wie Stromleitungen in den Raum hinauswuchsen, sich an Wänden und Decke festsaugten und die gesamte Krypta durchzogen. Aus ihnen pulsierte das grünliche Leuchten, das die Finsternis verdrängte und gleichzeitig noch unheimlicher machte.

Claire keuchte und starrte gebannt auf den Thron. Und dann sah sie sie.

Eine Frau saß dort, regungslos und majestätisch, als wäre sie seit Jahrhunderten Teil dieses Ortes. Ihr Gesicht war pfahlgrau, unnatürlich blass, beinahe steinern, doch ihre Augen glommen in einem unirdischen Schimmer. Sie hatten einen unheilvollen, beinahe hypnotischen Ausdruck, als ob sie Claire schon seit Ewigkeiten beobachtet hätte. Die Frau bewegte sich. Langsam und kontrolliert, als wäre jede Geste von Bedeutung. Sie erhob sich vom Thron und in diesem Moment lösten sich die Spinnenweben an Claires Händen. Die Fäden glitten wie von selbst von ihren Fingern, als wären sie nie dort gewesen. Claire japste, rieb sich hektisch die Hände und wich einen Schritt zurück.

Ihre Stimme brach, als sie mit bebenden Lippen ein Wort hervorbrachte:

„W....was… wer sind Sie?“

Ein leises, fast schmeichelndes Lächeln huschte über das graue Gesicht der Frau. Ihre Stimme war von einer Ruhe getragen, die Claire zugleich beruhigte und in den Wahnsinn zu treiben drohte.

„Ich habe eine Wahl für dich, Claire Moreau.“

Claire riss die Augen auf. Ihr Herz stolperte. Wie konnte sie ihren Namen kennen?

„Ich weiß um deine Situation.“ Die Stimme der Frau wurde dunkler und eindringlicher. „Gepeinigt, gedemütigt, geschändet von Victor Delacroix. Ich sehe den Schmerz, der in dir wütet. Ich spüre die Ketten, die dich gefangen halten.“

Claire begann zu zittern.

„Ich bin …“ Die Gestalt trat einen Schritt näher. Ihr Körper wirkte groß, beinah übermenschlich, und zugleich zerbrechlich, als wäre sie aus uraltem Pergament geformt. „Ich bin die Schutzpatronin der Frauen.“

Claire schluckte hart, ihr Herz raste. Schutzpatronin. Ein Teil von ihr wollte es glauben, ein anderer schrie, dass das unmöglich war und sie den Verstand verlor.

„Ich will dir helfen.“ Die Stimme senkte sich zu einem sanften Flüstern und das grüne Licht wurde heller, als wolle es Claires Herz umschließen. „Ich will dir helfen, deine Kraft zu finden. Deine Macht.“

Das Wort hallte wie eine Offenbarung in der Krypta wider. Macht. Claire spürte, wie ihr der Atem stockte und ein Funke Hoffnung inmitten ihrer Angst aufflackerte. Doch zugleich flüsterte ihr Inneres, dass diese Macht ihren Preis fordern würde.

Zitternd atmete Claire ein, ihre Brust hob und senkte sich in kurzen, unruhigen Stößen. Die Worte der Frau hallten in ihrem Kopf wider wie das Echo einer Glocke, die niemals verstummte: „Deine Macht.“

„Willst du nur entkommen … oder endlich weben, was andere fürchten?“

Die Stimme klang nun klarer, eindringlicher, beinah beschwörend.

„Ich gebe dir mehr Informationen … mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich will dich als meine erste Generälin. Als meine erste Spinnerin. Ich will dich, Claire Moreau, genannt Webweaver.“

Claire sog scharf die Luft ein.

„Wer bist du?“ Ihre Stimme klang jetzt fester, klarer, beinah trotzig, als müsste sie sich selbst beweisen, dass sie die Kontrolle noch nicht verloren hatte.

Claire betrachtete die Frau genauer. Ihre Haut war grau und schimmerte matt wie kalter Stein. Doch überall durchzogen grün leuchtende Linien ihren Leib, kristallene Adern, die sich wie Spinnennetze unter ihrer Haut verzweigten. Sie pulsierten. Sie lebte. Sie wirkte wie eine uralte Statue, die plötzlich zu atmen begonnen hatte.

Ihre Augen waren tiefgelb, brennend, voller Wissen und Versprechen. Mit jedem Schritt, den sie auf Claire zuging, knisterte die Luft stärker, als würde die Krypta selbst den Atem anhalten.

Sanft hob sie ihre Hand, und Claire konnte den Hauch ihrer Finger spüren, bevor sie sie berührten. Zärtlich legte sie zwei Finger unter Claires Kinn und hob ihren Kopf an. Claire keuchte leise, nicht aus Schmerz, sondern weil sie durch diesen Kontakt in eine Mischung aus Furcht und unbegreiflicher Sehnsucht gestürzt wurde.

Die Stimme der Frau war nun sanft, schmeichelnd und fast trügerisch lieblich.

„Ich … ich habe viele Namen. Über Jahrhunderte und Epochen hinweg nannten sie mich unterschiedlich. Nethis … Silandra … Araquiel … Nyxara … Thessara.“

Doch der wichtigste Name ist … Arachne.“

Arachne glitt an ihr vorbei, bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze und stand schließlich hinter Claire. Claire wagte es kaum, sich umzudrehen, doch sie spürte ihren Atem im Nacken. Heiß, fremd, verführerisch. Ein Schauer lief über ihren ganzen Körper und ihre Knie drohten nachzugeben.

„Ich bin die Hüterin der giftigen Weiblichkeit“, flüsterte Arachne, und jedes Wort legte sich wie ein Seidenfaden um Claires Herz. „Ich bin jene, die das Weben der Zeit voraussieht … die Fäden von Schicksal und Macht in den Händen hält.“

Claire spürte es. Eine Energie, die nicht von dieser Welt war, durchströmte sie. Sie kroch durch ihren Nacken, hinunter über ihre Wirbelsäule und durchflutete ihre Adern. Es war nicht einfach nur Macht, es war ein Rausch. Ein süßes Gift, das ihr Innerstes betäubte und gleichzeitig erweckte.

„Ich bin die Göttin der Spinnen“, hauchte Arachne ihr schließlich ins Ohr, so nah, dass Claire unwillkürlich die Augen schloss.

Sie atmete laut und stoßartig aus, als hätte sie all die Zeit den Atem angehalten. Ein wohliges, beinah berauschendes Gefühl schoss durch ihren Körper und breitete sich wie eine Flutwelle aus. Ihre Angst begann zu schwinden und wurde von etwas Unbekanntem ersetzt: einem tiefen, brennenden Verlangen.

Diese Frau, diese Göttin, löste etwas in ihr aus, das sie zugleich erschreckte und anzog. Jede Bewegung, jedes Wort, jeder Blick dieser Frau war wie ein Netz, das sich immer enger um Claire schloss. Und Claire, sie wollte nicht fliehen. Sie wollte mehr. Unendliches Verlangen loderte in ihr auf. Ein Gefühl, so stark, dass es ihr beinahe den Verstand raubte.


Die Dunkelheit löste sich langsam wie ein Schleier von ihren Augen. Claire blinzelte und wurde von einem gleißenden, goldenen Licht umfangen. Sie saß auf einer steinernen Bank und spürte die Kälte des Gesteins bis in die Knochen. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, doch in ihrem Inneren herrschte ein flackerndes Vibrieren, als sei etwas erwacht, das sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Die Sonne stieg langsam und unaufhaltsam empor, als würde sie das nächtliche Grauen von der Stadt abwaschen wollen. Claire hob den Kopf, und ihr Blick glitt über den Horizont, bis er an dem Wahrzeichen der Stadt hängen blieb. Der Eiffelturm ragte empor wie ein uraltes Skelett aus Eisen, umrankt von feuchten Blättern und wild wucherndem Grün, das sich im Laufe der Jahre an seinen Metallstreben hochgeschlängelt hatte. Das erste Sonnenlicht ließ die Tropfen auf den Blättern funkeln, als seien sie mit Diamanten besetzt. Claire atmete tief ein, doch der Luftzug brachte einen metallischen Geruch mit sich, der sie sofort alarmierte. Sie rieb ihre Hände aneinander und spürte dabei, wie etwas Zähes an ihren Fingern klebte. Je mehr sie rieb, desto stärker haftete es an ihr wie feine, unsichtbare Fäden. Ihr Herz schlug schneller, ihr Atem wurde flacher. Sie zwang sich, den Blick wieder auf den Turm zu richten, und plötzlich spürte sie, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Inmitten der filigranen Eisengitter, zwischen den Streben, die sich wie eine Kathedrale aus Metall zum Himmel erhoben, hing etwas.

Ein Kokon.

Er schimmerte leicht im Morgenlicht und wirkte wie ein perverses Kunstwerk aus weißen, silbrig glänzenden Spinnenfäden. Er war weder klein noch unauffällig. Nein, er hing für alle sichtbar im Zentrum des Monuments, als wäre er absichtlich zur Schau gestellt worden. Claire stockte der Atem. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab und sie klammerte sich an die Bank, als müsse sie sich vergewissern, dass sie noch hier war, dass alles real war. Ihre Augen wanderten über die Umrisse dieses Kokons, über die verschlungenen Fäden, die sich wie Adern durch das eiserne Gerüst zogen.

Dann sah sie es.

Eine Silhouette. Ein Körper im Inneren. Arme, Beine, der Kopf eingewickelt, gefangen, reglos. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie stand auf und wankte einen Schritt nach vorn, als könnte diese Bewegung ihr helfen, das Gesehene zu verstehen. Und dann erkannte sie das Gesicht, das unter den Schichten von Fäden und Blut hervorblitzte: Victor.

Victor.

Sein Hals war aufgeschlitzt, tief und grausam. Blut sickerte aus der Wunde, tränkte den Kokon und färbte ihn von innen rot. Tropfen lösten sich und fielen in die Tiefe – unsichtbar. Doch in Claires Kopf hallte jeder Aufprall wie ein Glockenschlag wider. Sie keuchte und hielt sich den Mund zu, als wolle sie einen Schrei unterdrücken. Ihr Körper begann zu zittern.

Victor war tot. Er war wirklich tot.

Claire taumelte zurück, ihre Gedanken rasten. War sie das gewesen? Hatte sie in der Dunkelheit, in diesem Rausch, in dieser Verbindung zu Arachne den Tod ihres Peinigers gewoben? Oder war es Arachne selbst, die ihre Macht demonstriert hatte?

Sie wusste es nicht.

Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie nicht mehr dieselbe war. Sie stand auf. Ihr Blick blieb noch einen Moment am Turm hängen, an diesem grausamen Monument aus Eisen und Fäden, das nun ein Grabmal war. Dann wandte sie sich ab.

Die Straßen von Lutetia lagen still vor ihr, feucht vom Morgentau, noch nicht von Menschen belebt. Sie setzte sich in Bewegung, Richtung Zuhause.




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