Kapitel 97 - Opferbereitschaft
Mittlerweile war Greengore in Atlon angekommen. Der massive Golem, dessen Körper aus uralten, smaragdgrün leuchtenden Steinschichten bestand, ließ bei jedem Schritt die Erde erbeben. Staub und Splitter stiegen auf, als er sich neben Atlon niederkniete. Greengore legte eine Hand, die so groß war wie eine Mauer, vorsichtig auf Atlons Schulter.
„Wir werden deine Freundin retten“, sagte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme, die wie fernes Grollen in der Luft vibrierte. „Wir haben Ärzte dabei. Nicht irgendwelche. Sie haben das Wissen aus vielen Welten. Sie wissen, wie man Menschen rettet, die andere längst aufgegeben hätten.“
Atlon hob langsam den Kopf. In seinen Augen flackerte ein kleiner, aber hartnäckiger Hoffnungsschimmer. Er nickte stumm, unfähig, Worte zu finden.
Greengore drehte sich in die Richtung, aus der dumpfes Dröhnen kam. Der Boden vibrierte stärker, als sich zwei gewaltige Schatten über die zerstörte Ebene bewegten. Sekunden später rissen grelle Lichtkegel den Nebel auf: zwei Graveships, schwer gepanzert, dunkelgrau und von bläulichen Energielinien durchzogen. Ihre Triebwerke ließen Funkenregen auf die Ruinen niedergehen. Atlon sprang auf.
„Bleib ruhig“, sagte Greengore, ohne ihn anzusehen.
Er beobachtete, wie sich die Luken öffneten. Aus dem ersten Schiff stieg eine Gruppe Medics und Techniker aus, begleitet von zwei Custodians. Sie bewegten sich zügig und koordiniert, während sie Tragen und Ausrüstung ausluden. Atlon sog scharf die Luft ein. Dann kam Bewegung aus dem zweiten Schiff.
Gegen das Licht der Triebwerke zeichnete sich der Umriss von Jonah ab, ehe er festen Boden unter den Füßen erreichte. Ohne nachzudenken, ohne zu zögern, lief er los.
Er rannte über den Schutt, sprang über ein umgestürztes Fahrzeug, rutschte kurz aus, fing sich wieder und stieß sich ab. Mit einem kräftigen Satz überwand er die letzten Meter, landete hart und stand nun direkt vor Jonah. Der Lärm der Schiffe verstummte in seinem Kopf.
Jonah lächelte schwach, erschöpft, aber lebendig. Sein Gesicht war von Ruß und Blut verschmiert, doch seine Augen leuchteten noch immer in diesem hellen, unerbittlichen Blau.
Atlon öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Nur ein heiseres „Wie …“ kam über seine Lippen, dann stockte er. Die Emotionen schnürten ihm die Kehle zu.
Jonah legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nate“, sagte er leise. „Sie ist stabil.“
Atlon blinzelte und verstand im ersten Moment nicht.
„Was?“, fragte er mit flüsternder Stimme.
„Deine Freunde …“ Jonah sah kurz zu den Rettungsschiffen, aus deren offenen Luken Licht strömte. „Sie sind eine große Hilfe. Ohne sie hätten wir sie nicht aufhalten können. Sie atmet wieder.“ Atlon atmete scharf ein. Sein Blick suchte Greengore, dann wieder Jonah, als wolle er sich vergewissern, dass dies kein Trugbild war.
„Danke …“, murmelte er kaum hörbar.
Jonah lächelte, diesmal wärmer. „Nicht mir. Sag es ihr, wenn sie wieder wach ist.“
Ein lautes Knirschen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. In der Ferne senkte sich eines der Graveships tiefer und ließ Frachtcontainer mit medizinischer Ausrüstung herab. Drohnen flogen aus den Seitenluken und errichteten auf einer unversehrten Asphaltfläche ein provisorisches Feldhospital. Blaue Lichtfelder markierten die Operationszonen, während sich die in silberne Anzüge gekleideten Ärzte um die Verwundeten kümmerten.
Atlon beobachtete das hektische, aber präzise Treiben. Zum ersten Mal seit Stunden, vielleicht seit Tagen, fühlte sich die Welt nicht mehr wie ein Grab an.
Greengore trat hinter ihn.
„Atlon, wir … ich habe einen Plan.“ Greengores Stimme war wie immer ruhig. Er knetete mit zwei steinernen Fingern den Rand des zerborstenen Fundaments, als würde er darauf die Taktik zeichnen. „Wir müssen Umbra überzeugen. Nur von innen können wir das Ilum wirklich verwunden.“
Atlon sah ihn an. Sein Herz schlug noch immer hastig, und die Erinnerungen an Iris und das Schlachtengetümmel brannten in ihm. „Überzeugen?“, wiederholte er, obwohl er ahnte, was Greengore meinte. „Mein Vater wird nicht zuhören. Er hat sich verändert.“
„Wir überzeugen ihn nicht durch Worte allein“, erwiderte Greengore. „Wir geben ihm eine Wahl. Wir zeigen ihm, was bleibt, wenn er weiter für Apex kämpft, und was er wiedergewinnen kann, wenn er sich gegen ihn stellt.“
Greengore trat einen Schritt näher, seine Augen funkelten wie in Stein eingeschlossene Sterne. „Apex zieht seine Macht aus dem Ilum. Wenn wir das Schiff von innen gezielt und präzise angreifen, dann wird die Verbindung, die seinen Einfluss nährt, geschwächt. Ohne diesen Rückhalt ist Apex verletzlicher. Dann kann ich versuchen, sein Erbe zu verfestigen. Ich kann versuchen, ihn zu versteinern, Atlon, nicht zu töten, sondern zu bannen.“
Atlon spürte, wie sich ein Knoten in ihm langsam löste.
„Und wenn Umbra nicht überzeugt werden kann?“, fragte er leise.
Greengore legte seine steinerne Hand auf Atlons Schulter. Sie war warm, auf eine unerwartete Weise. „Dann kämpfen wir. Aber wir kämpfen mit einem Plan. Nicht blind. Du willst ihn stellen, gut. Aber du wirst nicht allein in die Schlacht stürmen.“
Atlon nickte. „Dann kümmere ich mich um meinen Vater. Ich werde ihm zeigen, wer er einst war und was er noch werden kann.“
Greengore trat zurück. Sein Umriss war wie eine Statue im Flackern der Feuerscheinwerfer. „Gut, dann bereiten wir alles vor. Zeit ist unser Feind. Aber mit einem Plan sind wir gefährlich.“
Plötzlich zerriss ein Schrei die Luft: roh, schrill, voller Schmerz und Verzweiflung. Atlon erstarrte für einen Herzschlag, dann fuhr sein Kopf herum. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Amet stand nur wenige Meter entfernt. Ihr ganzer Körper war übersät mit Blut, ihr Gesicht war von Entsetzen verzerrt. Sie schrie nicht vor Wut, sondern vor purer Verzweiflung. Vor ihr kniete Nyreth, und durch ihren Oberkörper ragte eine Hand, die weder menschlich noch natürlich war, sondern aus pulsierender Schattenenergie geformt war. Apex.
Er zog die Hand langsam zurück, und das Geräusch dieses widerwärtigen, nassen Reißens brannte sich in Atlons Ohren ein. Ein Schwall Blut spritzte in hohem Bogen in die Luft, glitzerte im Licht der brennenden Trümmer und tropfte schließlich auf den Boden. Nyreth sackte in sich zusammen und ein gurgelnder Laut entwich ihrer Kehle.
„Nein!“, brüllte Atlon und rannte los. Alles verschwamm. Der Sand, die Schreie, der Geruch nach Metall und verbrannter Luft. Sein einziger Gedanke war Amet. Er rannte schneller, seine Füße schlugen auf den Boden, sein Herz hämmerte. Apex stand immer noch über Nyreth, seine Augen glühten in einem unnatürlichen Violett. Mit jeder Bewegung seiner Finger flackerte Schattenenergie um ihn herum, als würde sie auf seinen Zorn reagieren.
Atlon war nur noch wenige Meter entfernt, als er sah, wie Apex den Blick hob und auf Amet einschlug. Der Schlag war kein wütender Angriff, sondern entsprang einer erschütternden Mischung aus Verzweiflung und Macht. Schattenenergie zerriss die Luft, Sand explodierte und Amet wurde zu Boden geschleudert.
Atlon brüllte, stieß sich ab, doch dann traf ihn, ehe er reagieren konnte, etwas Unsichtbares. Eine Druckwelle. Gewaltig. Sie schlug ihm die Luft aus den Lungen, als hätte ihn ein Zug erfasst. Er prallte mehrfach auf den Boden, Staub und Sand schossen auf, bis er mit einem dumpfen Krachen liegen blieb.
Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Alles drehte sich.
Er blinzelte und zwang seine Sicht, sich zu klären. Umbra stand ein paar Meter entfernt und blickte auf Apex. Doch darin war kein Zorn, sondern Verzweiflung.
Atlon konnte ihre Gesichter erkennen, wenn auch durch Staub und Energieflimmern verschwommen. Umbra stand mit geballten Fäusten da, die Schatten um ihn bebten, doch er griff nicht an. Er starrte nur zwischen Vater und Sohn, zwischen Pflicht und Blut hin und her.
Apex’ Brust hob und senkte sich, Schattenenergie kroch wie Rauch über seine Haut. In seiner rechten Hand materialisierte sich eine Waffe, eine Sichel, geformt aus reiner Finsternis. Groß, elegant, tödlich. Der violette Schimmer, der seinen Körper umgab, wurde stärker und verdichtete sich schließlich, sodass er aussah, als wäre er in Licht und Dunkel zugleich gehüllt.
Sein durchtrainierter Oberkörper, der mit Narben überzogen war, die in violettem Glanz leuchteten, wirkte beinahe menschlich. Doch seine Augen waren nicht die eines Menschen. Sie waren die eines Gottes, der seinen eigenen Schmerz nicht mehr tragen konnte.
Er stand über seiner Schwester, als wäre er ein Wächter, nicht mehr der Mörder von eben, sondern etwas Zerrissenes. Etwas zwischen Schutz und Vernichtung.
Atlon kroch langsam hoch, seine Muskeln zitterten, doch seine Augen waren fest auf Apex gerichtet. Er sah, wie Umbra zögerlich einen Schritt machte, fast flehend.
Atlon stand ein paar Meter entfernt, sein Herz raste und seine Hände zitterten leicht.
„Vater!“, rief er, und seine Stimme bebte. „Du musst das alles nicht tun!“
Umbra blieb stehen. Der dunkle Schimmer um seinen Körper pulsierte unruhig, als ob seine Macht selbst gegen ihn rebellierte. Die Schatten krochen über seine Schultern, verdichteten sich an seinen Händen und flackerten auf, als sie Atlons Stimme hörten.
Amet stand wieder, wankend, blutüberströmt, aber lebendig. Ihre Tentakel schossen aus ihrem Rücken, peitschten durch die Luft und zischten wie lebendige Klingen auf ihren Bruder zu. Apex stand nur wenige Meter entfernt, ruhig und gelassen. Die Sichel in seiner Hand pulsierte mit einem tiefvioletten Licht.
Der erste Schlag kam mit brutaler Geschwindigkeit. Doch Apex hob nur kurz die Waffe, und ein glühendes Schild aus Schattenenergie flammte auf. Der Tentakel prallte ab, zerschnitt den Boden und ließ Funken regnen.
Amet schrie und ließ die restlichen Tentakel wie einen Sturm auf ihn niedergehen – unberechenbar und wild. Die Luft vibrierte vor Energie, die Einschläge donnerten wie Explosionen. Doch Apex bewegte sich kaum. Sein Schild absorbierte die Schläge und das violette Licht wurde mit jeder Abwehr stärker, als würde es die Energie ihrer Angriffe verschlingen.
Atlon spürte, wie ihm der Atem stockte. Der Sand um sie herum wurde aufgewirbelt und Rauchschwaden krochen über den Boden. Und dann, mitten im Chaos, stand Umbra plötzlich direkt vor ihm.
Nathaniel, Atlon, hob langsam die Hand. Dann drehte sich Umbra um und griff Apex an und sie verschwanden ihm Staub des Kampfes.
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