Kapitel 96 - Mach doch!
Jareth lag reglos neben Therion. Sein Brustkorb hob und senkte sich kaum wahrnehmbar, während sich der Staub der zerstörten Straße langsam auf ihn legte. Sein Blut bildete kleine, dunkle Pfützen zwischen den Rissen im Beton. Therion kniete neben ihm und war unfähig, sich zu bewegen. Er hörte nur das ferne Grollen der Schlacht, das Prasseln von brennenden Trümmern und das metallische Knacken der Umgebung. Dann trat Shazad neben ihn. Seine Silhouette war im Gegenlicht kaum zu erkennen, doch seine Stimme klang ruhig und bestimmt und ließ keine Widerrede zu.
„Geh und kämpfe“, sagte Shazad leise, aber mit unüberhörbarer Schwere. Therion hob den Kopf. In seinen Augen lag der Schmerz, jemanden in den sicheren Tod geführt zu haben.
„Ich kümmere mich um ihn“, fügte Shazad hinzu und kniete sich hin.
Therion nickte zögernd und beinahe widerwillig. Sein Blick verweilte noch einen Moment auf Jarreths Gesicht, das so blass war wie der Staub auf den Ruinen ringsum. Dann stand er auf. Seine Schritte waren schwer, aber zielstrebig. Schon im nächsten Moment verschwand er wieder in Richtung Schlacht, wo das Donnern von Explosionen und das Kreischen von Energiewaffen erklang. Shazad blieb zurück. Er seufzte leise, dann beugte er sich zu seinem alten Freund hinunter. Die Kälte des Bodens kroch durch seine Knie, als er sie auf den rauen Untergrund presste. „Dann wollen wir das mal testen ...“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
Er griff in seine Tasche und zog ein kleines Fläschchen aus altem, durchsichtigem Glas hervor, in dem eine trübe, dunkelgrünliche Flüssigkeit langsam pulsierte, als ob sie leben würde. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Verschluss und ein süßlich-metallischer Geruch stieg auf.
„Drei Tropfen“, sagte er leise, fast wie eine Formel, und neigte das Fläschchen über Jarreths Mund. Die Tropfen fielen langsam, einer nach dem anderen. Shazad beobachtete es genau, seine Augen wachsam, seine Atmung kontrolliert. Dann, kaum merklich, hörte er es: ein erster, zittriger Atemzug.
„Da bist du ja“, flüsterte Shazad und für einen Moment glitt ihm ein Lächeln über die Lippen. Er griff in seine Tasche und holte mehrere Verbände hervor, improvisiertes, aber steriles Material. Mit ruhigen, geübten Bewegungen begann er, Jarreths Wunden zu versorgen. Er band Druckverbände um den aufgeschlitzten Bauch und reinigte die Ränder der Verletzung. Seine Hände zitterten, aber nicht aus Angst, sondern aus Erschöpfung. Jarreth drehte sich zu Shazad und öffnete die Augen. Seine Augäpfel waren grün gefärbt.
Über ihnen flogen Trümmerteile durch die Luft, und Shazad wusste, dass sie hier nicht lange bleiben konnten. Doch er blieb konzentriert. Jeder Handgriff war präzise. Er kannte Jarreth seit Jahren, sie hatten zusammen geforscht und viele stressige Situationen durchgemacht. Doch das in diesem Moment war neu. Es war ein Gefühl, das Shazad nicht einordnen konnte, da er normalerweise neue Situationen genießen konnte. Er beendete den Verband, überprüfte noch einmal die Atmung und nickte zufrieden. Dann legte er Jarreth eine Hand auf die Schulter. „Halte durch, alter Freund“, murmelte er. „Therion kämpft weiter, und wenn er siegt, dann war das hier nicht umsonst.“
In der Ferne donnerte eine Explosion. Der Boden vibrierte leicht. Shazad richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen Blick auf Jarreth, dessen Brust sich nun langsam, aber stetig hob und senkte.
Therion rannte. Sein Atem brannte in der Kehle, während seine Schritte über den aufgerissenen Asphalt hallten. Er schlängelte sich zwischen den umgestürzten Fahrzeugen, brennenden Laternen und zerborstenen Fassaden hindurch, ein Schatten unter Ruinen, eine fließende Bewegung aus Wut und Instinkt. Die Triklin waren überall. Ihre leuchtenden Augen glimmten im Rauch wie Glut unter Asche. Doch Therion wich ihnen aus, bewegte sich wie ein Tier auf der Jagd mit dem klaren Ziel, das Herz des Chaos zu erreichen. Bera. Er spürte sie. Noch bevor er sie sah, roch er sie: den metallischen, verbrannten Geruch des Krieges. Der Wind peitschte durch die Gassen und trug Schreie sowie das Summen von Energiewaffen mit sich. Therions Körper begann sich zu verändern. Sein Puls stieg und das vertraute Knacken seiner Knochen hallte durch die Leere. Seine Muskeln spannten sich, wuchsen, seine Klauen fuhren aus und seine Zähne verlängerten sich. Seine Haut spannte sich über die sich ausdehnenden Sehnen und ein tiefes, roh und urtümlich klingendes Knurren kroch aus seiner Kehle. Er war nicht mehr ganz Mensch. Nicht mehr ganz Wolf. Er war etwas dazwischen. Gefährlicher als beides.
Er rannte schneller. Immer schneller. Trümmer sprangen beiseite, wenn seine Schritte die Straße zertrümmerten. Im Sprung warf er sich über ein brennendes Fahrzeug hinweg, spürte die Hitze an seiner Seite, rollte sich ab und setzte erneut zum Sprung an, direkt auf Bera zu.
Der Moment dehnte sich.
Bera stand da, unbewegt. Seine riesige Gestalt zeichnete sich gegen das Flackern der Flammen ab, sein Panzer schimmerte rötlich im Licht. Therion war fast bei ihm, bereit zuzuschlagen, bereit, seine Zähne in seinen Hals zu treiben und mit seinen Klauen durch die Rüstung zu brechen. Er spürte den Wind in seinem Gesicht und das Adrenalin in jeder Faser seines Körpers.
Ein metallisches Krachen durchschnitt die Stille.
Bevor Therion begreifen konnte, was geschah, schloss sich eine Faust um seinen Hals – hart, kalt, unerbittlich. Der Aufprall war wie eine Explosion in seinem Brustkorb. Seine Beine verloren den Halt, der Sprung verflog in der Luft – es war, als hätte ihn eine unsichtbare Wand zerschmettert.
Bera hatte ihn gepackt.
Mit einer Hand hielt er ihn wie ein Kind. Panzerhandschuhe knirschten, als er den Griff verstärkte. Therion keuchte und seine Krallen fuhren reflexartig an ihrem Unterarm entlang, doch die rot-violette Haut gab kaum nach.
„Du kleine Ratte!“, zischte Bera, ihre Stimme vibrierte mechanisch. „Soll ich dir den Kopf abreißen?“ Bera spie das Wort wie Gift aus. Sein Griff verstärkte sich, die Gelenke knirschten, die Luft in Therions Luftröhre verengte sich zu einem brennenden Loch. Jeder Atemzug war ein Kampf. Doch mitten in dieser qualvollen Starre geschah etwas, das Bera nicht erwartet hatte: Therion begann zu lachen.
Zunächst kehlig und kratzend wie das Röcheln eines Sterbenden, dann lauter, tiefer und unheimlicher. Ein Lachen, das sich in die Ruinen bohrte; ein Ton aus Schmerz, Wahnsinn und jahrhundertelanger Verzweiflung. Seine Augen glühten in einem fremden goldenen Licht, durchzogen von Schatten, die darin tanzten.
„Mach doch …“, keuchte er zwischen abgewürgten Atemzügen. „Mach schon … Ich versuche seit Jahrhunderten, endlich zu sterben.“ Beras Griff lockerte sich einen Herzschlag lang.
Therions Stimme vibrierte, als er weitersprach: „Ich bin verflucht. Tag um Tag, Schlacht um Schlacht, ich blute, verliere, wache wieder auf. Denkst du, du kannst mir den Kopf abreißen?“ Er grinste, die Zähne blutig. „Dann versuch es, Dämon.“
Im selben Moment riss er die Arme hoch und ließ, vom animalischen Reflex getrieben, seine Klauen fahren.
Seine Krallen bohrten sich tief in Beras Unterarm. Es war kein präziser Hieb, sondern roher Hass, ungezügelte Wut, die Entladung uralter Raserei. Bera schrie auf, ein verzehrender, metallisch verzerrter Laut. Therion grinste und keuchte. Mit einem letzten Ruck zog er seine Klauen heraus.
Ein dumpfes, reißendes Geräusch füllte die Luft, als Fleisch auseinandergerissen wurde.
Bera taumelte zurück und löste reflexartig seinen Griff. Blut spritzte aus der Wunde. Die Muskeln an ihrem Unterarm hingen wie zerrissene, nasse Stränge und dampften auf den Boden. Therion richtete sich schwer atmend auf, sein Brustkorb hob sich unregelmäßig.
„Siehst du …?“, flüsterte er heiser. „Ich bringe den Tod, doch er holt mich nie.“ Er wischte sich das Blut von den Lippen und spuckte auf den Boden. Sein Blick war leer und zugleich von einer fremden, tiefen Wut durchzogen. Bera fixierte ihn, knurrend, schwankend, seine verletzte Hand zuckte, unfähig, sich zu schließen. Die Wunde pulsierte in einem unheimlichen Taktschlag.
„Verflucht oder nicht …“, grollte er, „ich werde dich in Stücke reißen.“
Therion lächelte erschöpft und bitter, und das Leuchten in seinen Augen flammte noch heller auf. „Dann komm doch …“ Seine Stimme war kaum noch menschlich. „Ich warte seit Jahrhunderten auf jemanden, der es endlich schafft.“ Therion sprang – nein, er schoss mit der Gewalt eines entfesselten Raubtiers nach vorn. Der Boden barst unter seinem Absprung, Trümmer flogen auseinander, als er sich auf Bera stürzte. Sein Körper war zu einem Werkzeug aus Wut, Schmerz und uraltem Instinkt geworden. Er prallte gegen Bera, krallte sich in seine Rüstung und ein Schwall aus Funken und Blutspritzern flog in alle Richtungen.
Seine Klauen gruben sich durch Schichten aus Fleisch. Bera brüllte auf, ein Schrei, der die Ruinen erbeben ließ. Doch Therion hörte nicht auf. Er biss zu. Wieder und wieder. Seine Zähne gruben sich in den Panzer und die Haut darunter, rissen Fetzen heraus, bis das Blut in warmen Strahlen auf ihn herabregnete. Der Nebel um sie herum färbte sich tiefrot, wurde dichter und schwerer, als ob das Schlachtfeld selbst den Atem anhielt. Jeder Biss, jedes Reißen hallte wie ein urzeitliches Echo durch die verwüstete Stadt. Beras Schläge wurden schwächer, sein Körper zitterte unter der unbändigen Raserei des Werwolfs, der sich wie eine lebendige Bestie an ihn klammerte.
Therion spürte nichts mehr außer den vibrierenden Impulsen seines eigenen Herzschlags. Die Welt verschwand in einem blutigen Tunnel. Sein Maul riss weiter auf, immer tiefer, bis seine Zähne auf etwas Hartes trafen. Etwas, das pulsierte. Warm. Lebendig.
Ein Organ.
Er wusste instinktiv, was es war. Die Lunge.
Mit einem wilden, unmenschlichen Knurren vergrub er seine Zähne tiefer, drehte den Kopf und riss sie mit einer einzigen, grausamen Bewegung heraus. Ein zäher, widerlicher Laut zerriss die Luft.
Bera sackte zusammen. Langsam, unaufhaltsam, wie ein kollabierender Koloss. Sein Körper, der noch immer halb aufrecht war, schien gegen die Schwerkraft zu kämpfen, bevor er mit einem dumpfen, donnernden Aufprall zu Boden ging. Der Schock jagte durch den Boden und ließ Staubfontänen aufsteigen.
Therion landete hart, rollte sich ab und blieb dann stehen – knurrend, bebend und blutüberströmt. Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Warmes Blut tropfte von seinem Kinn, vermischte sich mit dem Staub, rann über seine Brust und sickerte in die aufgerissenen Furchen des Bodens.
Hinter ihm fiel der Titan der Shenth Bera, nun ein entleertes, dampfendes Wrack aus Fleisch. Die Luft flirrte über seiner leblosen Hülle.
Therion richtete sich langsam auf. Seine Augen glühten noch immer in einem geisterhaften goldenen Licht, das durch den Nebel schnitt. Er drehte sich um, sah über die zerstörten Straßen von Kansas City hinweg und beobachtete schweigend und atemlos, was hinter ihm geschah.
Section Shield kämpfte weiter. Zwischen brennenden Trümmern und zerstörten Fahrzeugen schossen Polizisten und Custodians auf die anstürmenden Triklin. Energiewaffen rissen Lichtbahnen durch den Rauch. Schreie und Funken mischten sich mit dem metallischen Donner der Explosionen.
Therion stand regungslos inmitten des Chaos, blutgetränkt, aber aufrecht. Die Gewalt in ihm ebbte nur langsam ab. Er starrte auf seine Krallen, die von seinen Händen tropften und zitterten, und sah, wie das Blut von Bera zwischen seinen Fingern floss.
Dann blickte er wieder in die Ferne.
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