Kapitel 94 - Lykan
Der Kampf zwischen Bera und Therion wütete bereits seit einer gefühlten Ewigkeit, obwohl erst wenige Minuten vergangen waren. Bera, dessen massige Gestalt wie eine wandelnde Mauer wirkte, ließ schwere, beinah träge wirkende Schläge durch die Luft schneiden. Doch in jedem einzelnen lag eine rohe Kraft, die selbst den Boden beben ließ. Therion bewegte sich im Kontrast dazu geschmeidig und flink wie ein Schatten und entkam den gigantischen Attacken knapp. Er wich aus, duckte sich, sprang zurück, stets auf der Suche nach der einen Schwachstelle in Beras Verteidigung. Doch bisher fand er nichts außer der endlosen Wucht seines Gegners. Schweiß rann ihm die Schläfen hinab, während er für einen Moment innehielt; seine Lungen brannten vom schnellen Atem. Er spürte das Rasen seines Herzens und das Dröhnen seines Blutes in den Ohren. Sein Blick ruhte auf Bera, der mit diesem unerschütterlichen, beinah animalischen Grinsen dastand und die Fäuste für den nächsten Schlag bereithielt. Therion sog die Luft ein, zwang sich zu ruhigerem Atem und murmelte keuchend, aber mit einem Hauch von Spott:
„Hey … was sollen wir machen? Wollen wir wirklich bei diesem absurden Gerangel bleiben?“
Doch statt verunsichert zu wirken, verzog Bera die Lippen zu einem noch breiteren, gefährlich lodernden Grinsen. Ohne ein weiteres Wort schnellte er nach vorne, und seine Schritte rissen Furchen in den Boden. Der folgende Schlag war nicht nur eine Bewegung, sondern eine Naturgewalt. Mit brachialer Wucht traf Bera Therion und der Aufprall war wie der Einschlag einer Kanonenkugel. Therions Körper wurde wie ein Blatt im Sturm fortgeschleudert, wobei jedes Hindernis, das er traf, unter seiner Wucht zersplitterte. Eine Häuserwand nach der anderen zerbarst, Steine flogen auseinander und Splitter regneten herab. Dumpfe Schläge hallten durch die Straßen, begleitet vom Knirschen von Mauerwerk und dem Splittern von Glas.
Schmerz durchfuhr Therion wie ein Feuer, das durch jede Faser seines Körpers raste. Rippen knackten, sein Atem stockte und jeder Aufprall brannte wie ein Donnerschlag in seinen Knochen. Er verlor die Orientierung und wusste nicht mehr, wo oben und unten war, bis er schließlich an Höhe verlor. Staub wirbelte auf, Steine krachten in alle Richtungen und der Aufprall riss eine tiefe Schneise in die Erde. Für einen Augenblick war alles still. Nur Therions schwerer, abgehackter Atem erfüllte die Luft. Seine Gedanken waren benommen und verschwommen, als wären sie im Nebel gefangen. Doch da war er wieder, dieser eine Gedanke, schummrig und hartnäckig wie ein Schatten, der sich weigerte zu verschwinden, etwas, das ihn schon seit langer Zeit verfolgte.
„Sir Lykan, begleiten Sie mich zum Ordensvater.“
Die Stimme des Dieners hallte dumpf durch die steinernen Gänge, während Therion seinem Begleiter folgte. Er befand sich in der großen Vorhalle der Festung. Deren Wände bestanden aus rauem Mauerwerk und wurden von dicken Fackeln erleuchtet, deren Flammen unruhig flackerten und lange Schatten warfen. Der Klang ihrer Schritte hallte wie das Echo einer unsichtbaren Prozession zwischen den hohen Säulen wider.
Am Ende der Halle erhob sich ein gewaltiges, mit Eisenbändern verstärktes hölzernes Tor, das so alt war, dass die Maserung des Holzes Geschichten zu erzählen schien. Gerade rechtzeitig wurde es von zwei Wächtern aufgestoßen und knarrend tat sich der Durchgang auf. Ein Hauch kalter Luft wehte ihnen entgegen.
Hinter dem Tor offenbarte sich eine weitere Halle, die noch größer und ernster wirkte als die erste. Im Zentrum stand ein mächtiger, runder Tisch aus dunklem Eichenholz, umstellt von Kerzenleuchtern, deren schwaches Licht den Raum in goldene Inseln und tiefschwarze Schatten tauchte. Rund um den Tisch ragten unzählige Bücherregale empor, die mit schweren Folianten, Runensammlungen und Chroniken vergangener Jahrhunderte gefüllt waren. Die Luft roch nach Wachs, nach altem Pergament und nach kaltem Stein, nach Wissen, das schwer auf den Schultern derer lastete, die es trugen.
An diesem Tisch saß ein einzelner Mann. Es war Garin von Dornfeld, der Kastellan, das Oberhaupt und zugleich der Hüter der Ordenshalle. Sein Rücken war gebeugt von den Jahren der Verantwortung, doch seine Gestalt strahlte Härte aus wie gemeißelter Granit. Seine Gesichtszüge waren scharf und von Narben gezeichnet, und seine Augen blickten kühl, als wären sie Spiegel einer eisernen Pflicht. Er war ein Mann, dem man nichts abhandeln konnte, außer durch den Tod.
Therion trat näher. Sein Herz schlug schneller, denn er wusste, was dieser Tisch bedeutete. Es war die Tafelrune, ein Heiligtum der Radiant Order, an der seit Generationen die großen Entscheidungen gefällt und die Namen der Erwählten in Runenform eingebrannt worden waren. Kein Ort in dieser Festung war gewichtiger, kein anderer Raum verströmte eine solche Mischung aus Ehrfurcht und Furcht.
„Ich habe diesen Auftrag erledigt“, eröffnete Therion mit fester Stimme. Der Klang seiner Worte verhallte in der großen Halle, als müsse selbst der Stein entscheiden, ob er sie anerkennen wollte.
„Gut. Das Minimum“, erwiderte Garin trocken und ohne jede Regung. Er nickte knapp, als wolle er einen lästigen Formalakt beenden.
Therion runzelte die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Garin fort. „Ich mache es kurz. Sie werden auf unbestimmte Zeit kein Mitglied der Radiant Order sein.“
Diese Worte trafen Therion wie ein Dolchstoß. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen, der Atem stockte ihm in der Brust. Seine Augen wanderten über die Maserung des Tisches und die alten, eingebrannten Runen, die die Namen jener Ritter trugen, die ihr Leben im Dienste des Ordens gegeben hatten. Und nun sollte er, der sich für würdig hielt, aus dieser Gemeinschaft verstoßen werden?
„Aber ich sollte doch …“, begann er, seine Stimme bebte zwischen Trotz und Verzweiflung.
Therion raffte sich mühsam auf. Mit einem grollenden Knirschen lösten sich die schweren Trümmerstücke von seinem Körper, als würden sie widerwillig von ihm ablassen. Staub legte sich wie eine graue Haut über seine Schultern, während seine Muskeln unter der Anspannung zitterten. Ein tiefes, animalisches Atmen drang aus seiner Brust hervor, rau und gehetzt, als müsse er sich mit jedem Atemzug die Kontrolle zurückerobern. Er spürte nicht nur ein dumpfes Rauschen im Kopf, sondern auch, wie sein Adrenalinspiegel in die Höhe schoss – ein präzises Signal, das sein inneres Raubtier für ihn aufbereitete. Seine Werwolf-Version war längst nicht mehr nur eine Verwandlung, sondern ein zweiter Sinn, eine gnadenlose Instanz, die jede Veränderung in seinem Körper registrierte. Jede Faser, jeder Schlag seines Herzens wurde zu einem messbaren Faktor und er verstand instinktiv, wie nah er an der Grenze zwischen Überleben und Zerstörung stand.
Langsam hob er den Kopf. Sein eben noch flackernder Blick schien sich zu sammeln, er wurde fokussiert und scharf, mit jenem kalten Glanz, der seine Gegner erzittern ließ. Vor ihm lag die Ruine, die einst Kansas City gewesen war. Doch was sich vor seinen Augen erstreckte, war kaum mehr als ein Mahnmal der Apokalypse: Türme, die nur noch Gerippe aus Stahl waren, ragten wie gebrochene Knochen in den Himmel. Türme, die nur noch Gerippe aus Stahl waren, ragten wie gebrochene Knochen in den Himmel. Die Straßen glichen offenen Wunden: klaffend und voller Asche. Rauchschwaden zogen durch die Luft und ließen die Sonne wie eine matte, kranke Scheibe erscheinen.
Therion zweifelte daran, ob man diesen Ort überhaupt noch „Stadt“ nennen konnte. Vielleicht war er nur noch ein Schlachtfeld, ein Ort, an dem die Zukunft der Welt in Trümmern lag. Die Stille, die die Zerstörung durchzog, war beinahe unerträglich – ein Schweigen, das immer wieder von fernem Donner und dem Knacken einstürzender Mauern durchbrochen wurde. Mit einem schweren Seufzen setzte er sich auf. Der Boden vibrierte unter seinen Schritten, als er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Sein Körper schmerzte bei jeder Bewegung, doch seine animalische Seite zwang ihn nach vorne und ließ ihn nicht in Selbstmitleid oder Schwäche versinken. Seine Hände krallten sich in den Schutt, als er sich aufrichtete, und seine Muskeln spannten sich wie Sehnen aus Stahl. Sein Ziel war klar, sein Instinkt schob ihn voran: Bera. Der Gegner, der ihn niedergeworfen hatte. Der Kampf war nicht vorbei, nicht für ihn. Mit einem tiefen Knurren, das eher einer Bestie als einem Menschen gehörte, lief Therion wieder auf Bera zu. Jeder Schritt war schwer, aber er war entschlossen, als würde die Erde selbst ihm den Weg bereiten.
Er saß in einer zwielichtigen Taverne, deren Wände vom Rauch unzähliger Fackeln geschwärzt waren. Der Gestank von altem Bier, verschüttetem Wein und feuchtem Stroh hing schwer in der Luft. Stimmengewirr, Gelächter, Flüche und das Klirren von Bechern erfüllten den Raum, doch Therion, damals noch Lykan genannt, achtete kaum darauf. Sein Blick war starr auf die Fässer gerichtet, die hinter der Theke aufgestapelt lagen. Jeder Schluck Bier in seiner Hand schien nur ein Tropfen in einem viel größeren Becken des Vergessens zu sein. Die Taverne war ein Ort voller Gesichter, die lieber anonym blieben. Söldner mit zerschlissenen Rüstungen, Händler mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen und Dirnen, deren Augen mehr über das Leben wussten, als sie jemals hätten sehen dürfen, saßen an den Tischen. Zwischen ihnen saß er, zerrissen zwischen Pflicht und Ablehnung, zwischen der Hoffnung, Teil der Radiant Order zu sein, und dem bitteren Wissen, dass er dort nicht willkommen war.
„Lykan, wenn die dich nicht wollen, er würde dich nehmen.“
Die Stimme schnitt durch den Lärm wie ein Dolch durch Stoff. Therion hob den Kopf und sein Blick glitt zur Seite. Der Mann, der neben ihm Platz genommen hatte, wirkte wie ein Schatten, der sich verdichtet hatte, um Gestalt anzunehmen. Sein Mantel war schwarz wie eine mondlose Nacht und seine Kapuze warf tiefe Schatten auf ein kaum erkennbares Gesicht. Doch in seinen Augen glomm eine Glut, die gleichzeitig Verheißung und Drohung war.
Therions Lippen formten ein Wort, das mehr aus Erkennen als aus Sprache bestand. „Mor ...“
Doch der Fremde hob die Hand und legte seinen Zeigefinger sanft, beinahe vertraulich, auf Lykans Lippen. Das Lärmen der Taverne rückte in die Ferne, als wäre die Welt um sie herum plötzlich verstummt.
„Lykan“, sprach der Mann mit leiser, fester Stimme, „du kannst Teil von Citadel werden. Wir sind nicht nur eine Alternative, wir sind diejenigen, die kommen werden, wenn die Radiant Order zerbricht. Wir sind die Konkurrenz, die sie fürchten. Wir sind der Schatten, der stärker wächst, je heller euer Licht scheint.“ Für einen Moment schloss Lykan die Augen.
Therion nickte. Zuerst zögerlich, dann entschlossen, als hätte er gerade einen unausweichlichen Pakt geschlossen. Ein stilles Ja, das schwerer wog als jedes geschriene Wort.
Es waren nur noch wenige Meter. Therion zwang seine schweren Beine, Schritt für Schritt durch das Chaos voranzukommen. Staub und Schutt wirbelten in der Luft, und jeder Atemzug schmeckte nach Eisen und Rauch. Die Geräusche des Schlachtfelds – kreischendes Metall, das Krachen einstürzender Mauern, das Brüllen von Maschinen und das Stöhnen Verwundeter – formten ein einziges dröhnendes Geräusch in seinen Ohren. Sein Herz hämmerte, sein Puls jagte wie ein Trommelschlag durch die Schläfen. Plötzlich flog ein Körper quer an ihm vorbei, als wäre er von einer unsichtbaren Faust durch die Luft geschleudert worden. Therions Kopf fuhr herum und seine Augen folgten der Bewegung bis zu dem dunklen Krater, in den der Körper mit einem dumpfen Schlag einschlug. Es war nicht irgendein Körper. Sein Inneres zog sich schlagartig zusammen. Jeder Nerv in seinem Leib schien zu gefrieren.
Er sah ihn.
Jareth.
Therion stolperte ein paar Schritte vorwärts, sein Atem wurde flacher, schneller und verzweifelter. Der Staub lichtete sich für einen Augenblick, gerade lang genug, damit er die grausame Wahrheit sehen musste. Jarreths Bauchraum war aufgerissen, nicht einfach eine Wunde, sondern ein grotesker Spalt, als hätte ihn etwas Brutales und Gnadenloses aufgeschlitzt. Organe, die niemals ein Auge sehen sollte, lagen frei. Blut sickerte in den Boden und zog dunkle Muster in den Staub und Stein. Ein metallischer Geruch stieg auf, so intensiv, dass Therion würgen musste. Seine Knie gaben nach. Er sackte zusammen und war unfähig, dem Bild zu entfliehen. Seine Hände zitterten, als er sich mit ihnen abstützte.
„Nein …“, flüsterte er heiser und kaum hörbar, als könnte das Wort die Zeit zurückdrehen. Doch die Realität antwortete nicht. Sie blieb unerbittlich, hart und grausam.
Therion griff sich an den Kopf, krallte die Finger in sein Haar und versuchte, das Bild zu verdrängen. Doch es war eingebrannt. Mit jedem Pulsschlag und jedem Atemzug drang die Szene tiefer in ihn ein. Der Krieger in ihm, der Werwolf, die Bestie, alles in ihm bäumte sich auf zwischen Schmerz, Raserei und drohendem Kontrollverlust. Langsam hob er den Kopf, seine Augen brannten. Der Staub hatte sich wieder verdichtet und das Schlachtfeld schrie weiter von Chaos und Verderben. Doch für Therion hatte sich alles verengt. Sein Blut rauschte, der Zorn brodelte.
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