Kapitel 87 - Scharen

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Das Graveship glitt lautlos durch die immer dünner werdende Atmosphäre, während unter ihnen die Meerenge zwischen Alasteria und Afran wie ein silbernes Band aufblitzte.

Von hier oben war deutlich zu erkennen, dass sich Alasteria einst wie ein zerbrochenes Puzzlestück vom Kontinent Afran gelöst hatte. Die Bruchlinien an den Küsten passten noch immer zueinander wie die Teile einer gewaltsam getrennten Einheit.

Während Afran unter ihnen in einem endlosen, sandfarbenen Schimmer leuchtete, wirkte Alasteria im Rückblick wie ein grünes Wunder.

Üppige Wälder, von Nebelschwaden umspielt, bedeckten die nördliche Landmasse. Dort herrschten dichte Vegetation, lebendige Farben und ein feuchtes Klima.

Unter ihnen breitete sich jedoch Afran aus: staubig, flirrend, uralt – der heißeste und trockenste Ort auf ganz Terra.

Nathaniel hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet, als Mailas Stimme plötzlich wie aus dem Nichts erklang:

„Du hast dich verändert.“ 

Er drehte sich zu ihr. Ihre Augen ruhten ruhig auf ihm, forschend, ohne Vorwurf.

Nathaniel nickte nachdenklich. „Ich musste“, sagte er mit leiser Stimme.

„Man hat mich gefeiert, als hätte ich die Welt gerettet. Und das verpflichtet … Ich musste weitergehen, wachsen, lernen, härter werden. Ich weiß nicht, ob ich das gut finde. Ich weiß nicht einmal, wer ich jetzt bin.“

Maila schwieg einen Moment, dann löste sie ihren Gurt, erhob sich vorsichtig im leicht vibrierenden Schiff und ließ sich wortlos auf den Sitz neben ihm nieder.

Ihre Nähe war beruhigend, wie ein warmer Hauch inmitten der Kälte, die ihn oft begleitete.

„Ich mochte dich vorher“, sagte sie leise, aber mit fester Stimme.

„Und ich glaube … ich mag auch dein neues Ich, Nate.“

Bevor er reagieren konnte, lehnte sie sich vor, küsste ihn zärtlich auf die Wange und ließ ihre Stirn ganz leicht gegen seine ruhen.

Es war ein Gefühl, das nichts mit Pflicht, Verantwortung oder Kampf zu tun hatte. Kein Heldentum, kein Drama. Nur ... Maila.

Er erwiderte ihren Blick verlegen, aber ehrlich. Seine Lippen formten ein schiefes Lächeln und sein Herz schlug schneller.

Doch der Moment hielt nicht lange an.

„Wir sind in zehn Minuten da.“

Die Stimme des Piloten schnitt wie ein Funksignal durch die stille Verbindung zwischen ihnen.

Nathaniel blinzelte, sah kurz zum Cockpit und dann wieder zu Maila.

Draußen begann sich der Horizont zu verändern, das endlose Gold des Sandes wich dunkleren Linien.

Etwas Großes wartete dort unten.

Zehn Minuten später öffnete sich vor ihnen ein Bild der Zerstörung: eine Schlacht, roh und apokalyptisch, die sich wie ein Sturm durch die Ebene wälzte.

Der Boden bebte, als ob selbst die Erde vor den Kreaturen zurückweichen wollte.

Im Hintergrund tobte das Chaos.

Schwärme von Wesen – grotesk, fremd und erschreckend – bewegten sich in Wellen auf die Verteidigungslinien zu. Maila trat näher an das Panoramafenster des Graveships, das sich nun vollständig transparent geschaltet hatte.

„Was … was sind das für Kreaturen?“, fragte sie mehr wie ein leises Wispern als eine echte Frage.

Ihr Blick war starr, ihr Atem flach.

Neben ihr stand Nathaniel, ruhig, aber angespannt. Sein Blick fixierte die vorrückenden Truppen der Gegner.

„Shenth“, sagte er. Seine Stimme klang fest und ruhig, beinahe so, als hätte er sich an diese Realität gewöhnt.

Dann erklärte er weiter, während das Schlachtfeld lebendig wurde:

„Die kleinen dort mit den spinnartigen Gliedmaßen, das sind Triklin. Bodenjäger. Sie sind extrem aggressiv, attackieren in Schwärmen und zerreißen alles, was sie einkreisen.“

Maila verzog bei diesem Gedanken das Gesicht.

„Die dort, die wie muskulöse Menschen mit metallischer Haut aussehen, sind Noklin. Standardkrieger. Sie sind brutal, aber nicht sonderlich schlau.“

Sein Finger deutete auf eine Gruppe weiter hinten, die von einer lodernden Energieaura umgeben war.

„Tragon. Magische Einheiten. Die schleudern dir Flammen, Dunkelblitze oder sogar Gravitation entgegen. Bleib weg, wenn du keinen Schild hast.“

Dann kam der letzte Gegner, kolossal, mehr als drei Meter groß, wie ein wandelndes Monument aus Obsidian.

„Und das da … das ist ein Xakis. Golemklasse. Er ist langsam, aber fast unaufhaltbar. Wenn der durchbricht, brauchst du mehr als Glück.“

Maila schüttelte ungläubig den Kopf. „Alles in allem ziemlich unangenehme Viecher“, murmelte sie.

Nathaniel schmunzelte trocken. „Habe ich doch gesagt.“

Maila trat zurück, streckte die Arme aus und ließ ihr Tactical-Suit-Modul hochfahren. Die Nanofasern schlossen sich in einem blitzenden Impuls um ihren Körper.

„Dann sehen wir uns diese Kreaturen mal aus der Nähe an.“

Nathaniel aktivierte ebenfalls seinen Anzug. Ein sanftes Summen ging durch das Schiff, als der Energiekern auflud. Nun standen beide kampfbereit da, zwei Silhouetten, bereit, sich dem Wahnsinn entgegenzustellen.

Draußen formierten sich die Section-Shield-Truppen mit ihren taktischen Rüstungen, die Custodians in leuchtenden Rüstungen mit Energiehämmern und die Sandborn, die Afran Wüstenkrieger, die in leichte Panzerung gehüllt waren und Schleier trugen, die ihre Gesichter vor Hitze und Staub schützten.

Nathaniel fokussierte die vordere Linie.

„Rasun … da, neben dem Transporter. Und ist das Captain Cross?“

Die beiden kämpften Seite an Seite gegen einen Xakis, der wie ein Koloss durch die Menschenmassen pflügte.

In einem koordinierten Manöver sprangen Rasun und Cross auf den Rücken der Kreatur. Zwei Energiegranaten, ein Sprung – und der Golem zerfiel in ein glühendes Wrack.

Nathaniel staunte. „Rasun hat sich extrem entwickelt.“

Maila nickte. „Ja, wir alle. Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde.“

Dann trat sie an die Laderampe. Ein letzter Blick.

„Bereit?“

„Immer“, antwortete Nathaniel.

Die Rampe öffnete sich, und die Hitze Afrans schlug ihnen wie eine Wand entgegen. Doch sie hielten stand.

Denn nun begann der wahre Kampf.

Sie setzten zum Landeanflug an. Das Graveship senkte sich langsam durch die staubverhangene Hitze Afrans, während draußen bereits das Echo der Schlacht wie ein ferner Donnerschlag gegen die Außenhülle pochte.

Unter ihnen tobte das Chaos.

Der Pilot verringerte abrupt die Geschwindigkeit und manövrierte knapp hinter der vordersten Verteidigungslinie in den Sand – eine präzise Bewegung, trainiert, automatisiert, aber trotzdem todesmutig.

Noch bevor das Schiff vollständig den Boden berührte, öffneten sich die Seitentüren mit einem hydraulischen Zischen.

Der Pilot drehte sich nicht einmal um. „Los jetzt! Die Tür ist offen. Viel Glück da draußen.“

Ohne zu zögern stürzten sich Nathaniel und Maila in den Sandsturm.

Nathaniel sprang mit einer fließenden Bewegung hinaus; seine Füße berührten kaum den Boden, da schützte er sich bereits mit seiner Lichtkraft. Ein pulsierendes Leuchten umhüllte seinen Körper und die Hitze prallte an seiner Aura ab wie Regen an Glas.

Neben ihm rutschte Maila auf einer von ihr erzeugten Wasserrutsche aus kondensierter Feuchtigkeit elegant den letzten Hang hinab, hinterlassend eine glitzernde Spur inmitten der trostlosen Hitze.

Sie landeten gleichzeitig im Wüstensand, richteten sich auf und liefen ohne ein Wort durch die chaotisch kämpfenden Massen.

Captain Cross fällte mit seiner taktischen Energiekanone ruhig und methodisch einen Gegner nach dem anderen, während daneben Rasun stand, dessen Arme von einer Steinschicht durchzogen waren und der die Umgebung wie lebendige Erde und Stein formte.

„Wie ist die Lage? Was ist der Plan?“, rief Nathaniel, während sich ein Triklin von der Seite auf ihn stürzen wollte. Doch ein gezielter Lichtimpuls brannte das Wesen mitten in der Luft weg.

Rasun fuhr herum und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. „Nat …“ Er hielt inne, korrigierte sich und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Atlon! Du bist zurück.“

Nathaniel nickte knapp; die Situation ließ keine Zeit für emotionale Wiedersehensrituale. Doch seine Augen verrieten, wie sehr ihn Rasuns Reaktion berührte.

Noch bevor Nathaniel etwas erwidern konnte, übernahm Rasun das Wort.

„Die Fläche ist voll von Kleinvieh: Triklin, Noklin, ein paar Xakis im Hintergrund. Aber der eigentliche Plan ist: Wir suchen gezielt die Generäle raus. Die Hochkommandanten. Wenn wir die treffen, bricht die Ordnung im Schwarm zusammen.“

Hinter ihm sah man, wie sich die riesigen Steinplatten, die er gerade noch zur Verteidigung geformt hatte, langsam in Sand auflösten, als ob Rasun seinen Fokus neu ausgerichtet hätte.

Maila trat neben Nathaniel und ließ das Wasser um ihre Hand kreisen wie ein tänzelnder Geist. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“

In der rechten Hand hielt Captain Cross ein massives Langschwert, das trotz seiner Größe mühelos und präzise durch Fleisch, Chitin und Metall schnitt. In der Linken hielt er beinahe beiläufig einen schweren Granatwerfer, aus dem er im regelmäßigen Takt explosive Projektile in die feindlichen Reihen feuerte.

Jeder seiner Schritte war ein Angriff, jeder Atemzug ein neues Ziel.

Er bewegte sich mit der Wucht eines Berserkers, aber mit der Präzision eines Veteranen. Sein Kampfstil wirkte für Außenstehende vielleicht chaotisch, ja sogar wahnsinnig, doch hinter jeder seiner Bewegungen steckte kaltes Kalkül.

Er bahnte sich einen Weg durch die feindlichen Linien wie ein Sturm aus Rauch, Stahl und Schall.

Maila runzelte die Stirn, während sie das Schauspiel beobachtete. „Was … macht er da?“ Ihre Stimme klang skeptisch, fast ein wenig schockiert.

Atlon trat neben sie und ließ den Blick keine Sekunde von Cross. „Er ist ein Söldner“, erklärte er ruhig. „Er wurde bezahlt, um abzuliefern. Und ich glaube, er liefert gerade verdammt eindrucksvoll.“

Ohne weitere Worte trat Atlon vor.

Ein Schimmer aus Licht sammelte sich unter seinen Füßen und mit einem einzigen Satz, mehr ein Aufblitzen als ein Sprung, katapultierte er sich mindestens vierzig Meter weit nach vorn. Er landete hart und präzise direkt vor einem gewaltigen Xakis, dessen Arme wie steinerne Türme wirkten.

Doch bevor das Wesen reagieren konnte, traf Atlon es mit einem Strahl reiner Lichtenergie, der es ins Wanken brachte.

Zur selben Zeit entfaltete Maila als Tidal ihre Kraft.

Das Wasser um sie herum wirbelte empor, sammelte sich, verdichtete sich und formte sich schließlich zu schimmernden Klingen. Die Klingen bewegten sich nicht starr oder mechanisch, sondern sie tanzten. Wie Sägeblätter aus flüssigem Glas kreisten sie mit präziser Grazie um sie herum, glitten durch die Körper der Triklin und schnitten sauber durch Panzerplatten und Glieder. Maila selbst drehte sich, nutzte die Eigenbewegung des Wassers und wurde so Teil dieses flüssigen Angriffs.

Sie wirkte wie eine Göttin des Meeres, die über die Wüste tanzte – ein Kontrast aus Anmut und tödlicher Macht.

Die Feinde hatten keine Chance.

Dort, wo sie kämpfte, war kein Platz für Zufall. Jeder Triklin, der sich ihr näherte, wurde von den rotierenden Wasserklingen zerschnitten, noch bevor er zum Angriff ansetzen konnte.

Ihre Bewegungen waren fließend und kaum greifbar. Das Wasser, das sie kontrollierte, schien ihre Emotionen zu lesen und formte sich zu Wellen, Schneiden und Strahlen.

Atlon blickte zurück und sah Maila inmitten der Explosionen, der Sandwirbel und der sterbenden Kreaturen. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.

Schweiß, Blut und Sand vermischten sich in der Luft zu einem brennenden Dunst, der alles bedeckte. Der Himmel war ein flackerndes Mosaik aus Energiestrahlen, Rauchfahnen und den Schreien der Verwundeten.

Atlon landete gerade mit federnder Präzision auf den Füßen.

Die Leiche des Tragon, dem er soeben mit einem gezielten Lichtschlag den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, fiel scheppernd zu Boden.

Der Aufprall war dumpf und fast unspektakulär, als hätte der Tod dieser Bestie auf diesem Schlachtfeld kaum noch Bedeutung.

Atlon richtete sich auf; seine Brust hob und senkte sich rasch. Licht pulsierte noch in seinen Fingern.

Dann geschah es.

Etwas veränderte sich.

Ein tiefes Grollen ging durch die Luft, nicht wie ein Schrei, sondern wie das Krächzen eines uralten Ungeheuers aus dem Erdinneren.

Atlon hob den Blick.

Über der Wüste schob sich langsam ein gigantischer Bohrkopf aus dem dunstigen Himmel, als wolle er den Sand unter sich zerreißen. Metallisch, bedrohlich, rotierend.

Ein Monster aus Technik und Gewalt.

Doch es war nicht allein.

Zu seiner Linken und Rechten schwebten zwei dunkle Gestalten, deren scharf umrissene Silhouetten sich vom gleißenden Licht abhoben.

Atlon kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die blendenden Reflexionen. Sein Herz schlug schneller.

Dann erkannte er sie: Amet.

Und rechts ...

Atlon spürte, wie ihm für einen winzigen Moment die Luft aus den Lungen wich.

Jack Reuel Cash oder wie er sich nun nannte. Umbra. Sein Adoptivvater. Der Mann, der ihn aufgenommen, geprägt, ihm Schutz und Stärke gegeben hatte, stand nun dort oben als Feind, als Schatten seiner selbst.

„Umbra …“, flüsterte Atlon, doch der Name schmeckte bitter.

Der Anblick traf ihn wie ein Blitzschlag.

Eine schmerzhaft heiße Welle durchfuhr seinen gesamten Körper, als würde sein Licht für einen Augenblick flackern.

Und nun ...

stand dieser Mann an der Seite des Bösen.

Eine Kälte legte sich um Atlons Herz. Nicht der Hass. Nicht der Zorn.

Es war ein leiser, pochender Schmerz.

Der Schmerz der Enttäuschung.

Doch selbst dieser Schmerz konnte nicht verhindern, dass Atlon seine Haltung wieder aufrichtete. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, Licht leckte an seinen Armen.

Seine Stimme klang rau und fast heiser, als er sagte:

„Er ist also wirklich hier.“


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