Kapitel 79 - Der Tropfen
„Hast du etwas von Malik gehört?“, fragte Tasha mit angespannter Stimme, während sie das Skidcar durch die nächtlichen Straßen jagte. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die roten Rücklichter der wenigen anderen Fahrzeuge zogen Schlieren. „Nein, gar nichts“, antwortete Caleb, der auf dem Beifahrersitz saß und nervös auf die kleine Anzeige seiner Stinger-Drohne starrte. Das Bild war eingefroren, der Kontakt zu Malik abgebrochen. Calebs Finger zitterten leicht, als er versuchte, die Verbindung wiederherzustellen. Vergeblich.
„Scheiße …“, fluchte Tasha leise. Ihre Gedanken rasten.
Plötzlich riss ein grelles Blaulicht sie aus ihren Gedanken. Ein Polizeidrohnenkonvoi rauschte über sie hinweg in Richtung Innenstadt.
„Der hat uns gesehen!“, schrie sie plötzlich, als sie an Bricks Blick erinnert wurde. „Ich fahre zu unseren Eltern! Sie werden unseren Wohnort schnell herausfinden.“
Caleb nickte und spürte, wie sein Puls stieg. „Ja, sollten wir.“ Caleb war schon lange nicht mehr bei ihren Eltern gewesen. Das Verhältnis war schon immer schwierig gewesen. Das Skidcar bog scharf in eine Seitenstraße ein. Müll wehte über den Asphalt, eine Gruppe Jugendlicher sprang erschrocken zur Seite. Die Stadt wirkte gleichzeitig belebt und tot.
„Glaubst du, Brick und Malik kämpfen noch?“, fragte Caleb leise.
Tasha antwortete nicht sofort. Der Wind pfiff durch die leicht geöffneten Fenster und das elektrische Brummen des Fahrzeugs durchbrach die Stille.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich düster. „Aber ich weiß, dass wir uns auf das Schlimmste vorbereiten müssen.“ Und so rasten sie durch die Dunkelheit.
Die Straße lag in einem flackernden Meer aus Blaulicht. Polizeifahrzeuge, Notfallteams und ein Rettungswagen versperrten den Weg. Blaue Lichter warfen kalte Schatten auf die Fassaden der Häuser, während der Wind das schrille Kreischen eines offenen Funkgeräts über die Straße trug.
„Nein … nein, nein, nein …“, flüsterte Tasha immer wieder, fast beschwörend. Ihre Finger klammerten sich um das Lenkrad, doch sie konnte nicht verhindern, dass das Skidcar ins Schlingern geriet. Die Reifen quietschten, sie lenkte ruckartig ein und kam zum Stehen.
Das Blaulicht kam aus der Einfahrt. Aus ihrem alten Zuhause.
Beide sprangen aus dem Auto. Tasha rannte voraus. Ihre Schritte schlugen hart auf den Asphalt, während Caleb ihr wie unter Schock stehend folgte.
„Sie können nicht durch!“, sagte ein Polizist mit ausgestrecktem Arm.
„Das sind unsere Eltern!“, rief Tasha, und ihre Stimme überschlug sich. Tränen standen ihr bereits in den Augen.
Der Polizist wollte gerade widersprechen, als ein älterer Kollege dazukam. Er trug einen dunklen Mantel und sah erschöpft aus. „Lasst sie durch“, befahl er ruhig.
Er trat näher, sein Blick war ernst. „Es tut mir leid. Ihre Eltern … sie wurden getötet. Es war … es war kein schöner Anblick. Sie müssen nicht hinein. Glauben Sie mir.“
Doch Tasha ging weiter. Caleb folgte ihr.
Im Flur war alles still. Es war kein Leben, keine Bewegung zu sehen. Nur die gedämpften Stimmen der Einsatzkräfte waren zu hören, die in einem Nebenraum arbeiteten. In der Luft lag der Geruch von Eisen und etwas Unaussprechlichem. „Gab es jemanden, der Ihrer Familie schaden wollte?“, fragte der Polizist leise hinter ihnen. Die typische Frage, routiniert gestellt, doch diesmal war es keine Routine. Tasha schwieg. Caleb atmete flach und starrte mit leerem Blick ins Leere. Sie wussten, wer es gewesen war. Goliath. Aber was sollten sie sagen? Dass ein Drogenkartell mit korrupten Polizisten hinter ihren Eltern her war? Sie hätten sie ausgelacht. Oder sie hätten sie festgenommen.
„Nein“, sagte Tasha leise. Ihre Stimme war kaum hörbar. „Wir wissen von nichts.“
Der Polizist nickte langsam. Und so standen Tasha und Caleb da, im kalten, leeren Haus, das eben noch ihre Heimat gewesen war. Sie wussten, dass es nie wieder so sein würde.
Die Polizei hatte sie weggeschickt, nachdem sie ihnen unzählige Fragen gestellt hatte. Protokolle, Tatortaufbereitung, falsche Anteilnahme. Doch sie hatten keine Antworten erhalten.
Jetzt saßen sie auf dem abgewetzten Sofa, das ihre Eltern ihnen vor Jahren geschenkt hatten. Zwei Stunden lang hatten sie sich nicht bewegt. Sie hatten kein Wort gesprochen. Nur der Sekundenzeiger der alten Uhr tickte erbarmungslos weiter.
Tasha starrte ins Leere. Ihre Finger hielten eine leere Tasse, als wäre sie noch warm. Schließlich durchbrach sie das Schweigen.
„Soll ich es tun?“, fragte sie fast flüsternd. Ihre Stimme zitterte.
Caleb sah sie an. Seine Augen waren gerötet, leer und müde. Doch er nickte langsam.
Tasha nickte zurück. Dann senkte sie den Blick, als würde sie innerlich eine Grenze überschreiten.
„Soll ich dich begleiten?“, fragte Caleb nach einem Moment, seine Stimme klang brüchig.
Tasha zögerte. Dann sah sie ihn an und nickte.
„Ich kann dich nur nicht mit hineinnehmen“, fügte sie hinzu.
Sie standen langsam auf. Keine Eile. Keine Worte mehr.
Sie parkten vor dem hoch aufragenden Gebäude von WNN. Der sonst so lebendige Medienkomplex wirkte verlassen. Nur die Neonlichter am Eingang brannten, als würden sie die Stille bewachen. Zu dieser Uhrzeit war es wie ausgestorben. Die meisten Mitarbeitenden arbeiteten längst von zu Hause aus. Tasha stieg ohne ein weiteres Wort aus dem Skidcar. Ihre Bewegungen waren langsam und fast mechanisch. Ihre Schritte hallten auf dem nassen Asphalt wider, während der feine Regen auf ihre Schultern fiel.
Vor der Eingangstür zögerte sie einen Moment, dann scannte sie ihr Synect. Ein grünes Licht blinkte auf. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Summen.
Drinnen war es kalt. Steril. Es war wie eine Bühne ohne Darsteller. Tasha ging durch die leeren Flure, vorbei an den Studios, in denen einst Menschen gelacht, diskutiert und gestritten hatten. Jetzt war nur das Rauschen der Klimaanlage zu hören.
Sie setzte sich an einen der Schnittplätze. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Ihre Finger schwebten kurz über der Tastatur, dann begann sie wütend, roh und kompromisslos zu schreiben.
Sie schrieb über Goliath. Über Red Upper. Über die korrupte Polizei. Über Herakles. Über das Netzwerk der Lügen, das ihre Familie zerstört hatte. Jedes Wort war wie ein Schnitt. Jede Zeile war eine Abrechnung. Sie hielt nichts zurück. Keine Fakten, keine Namen, keine Abgründe.
Und dann drückte sie auf „Veröffentlichen“.
Keine Rücksprache. Keine Redaktion. Kein doppelter Boden.
Sie schloss die Datei, stand langsam auf, ging den Flur zurück und trat wieder hinaus in die Nacht.
Caleb wartete noch immer am Auto. Stumm.
Tasha stieg ein, setzte sich neben ihn und schloss die Tür.
Sie sagte ruhig, fast lakonisch: „Das war vermutlich meine Kündigung.“
Caleb sah sie an. Kurz nur. Dann wandte er den Blick nach vorne.
„War es das wert?“
Tasha antwortete nicht sofort. Sie schaute hinaus.Dann sagte sie leise: „Ich weiß es nicht. Aber es musste raus.“
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