Kapitel 76 - Schwarz
Die Spuren des Kampfes in Kansas waren noch deutlich zu erkennen: ausgeschlagene Krater im Boden. Sie waren erst vor wenigen Minuten angekommen und standen nun in einem lockeren Halbkreis um den unscheinbaren Marker der Shenth.
„Das ist mir nach dem Kampf gar nicht so aufgefallen“, murmelte Therion nachdenklich, während sein Blick über das metallene Objekt glitt.
„Es ist ja auch nur vierzig Zentimeter groß“, entgegnete Jakob trocken und verschränkte die Arme. Jareth trat einen Schritt näher und beugte sich leicht vor. „Sollen wir das untersuchen?“, fragte er. Seine Stimme klang neugierig, aber auch vorsichtig.
Therion schüttelte den Kopf. „Nein, das haben die von Section Shield schon erledigt“, antwortete er ruhig und sah kurz in die Runde. Dann fügte er hinzu: „Kommt, lasst uns erst mal ausruhen.“
Die anderen nickten zustimmend. Gemeinsam folgten sie Therion, der sich vom Marker abwandte und in Richtung des provisorischen Lagers von Section Shield ging.
Dort hatten sie ein Lager aus robusten Zelten, Containern und in den Himmel ragenden mobilen Antennenanlagen errichtet. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Männer und Frauen von Section Shield liefen zwischen Kisten umher, überprüften Geräte oder führten leise Gespräche. Einer von Section Shield kam ihnen entgegen, das Gewehr locker über der Schulter. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich bringe Sie direkt zum führenden General.“
Therion nickte knapp, ohne ein Wort zu sagen.
Sie gingen los und passierten mehrere Reihen schwer bewaffneter Einsatzkräfte. Einige ruhten sich auf Kisten aus, andere überprüften ihre Ausrüstung; ihre Gesichter waren von Staub und Müdigkeit gezeichnet. Daneben standen Dutzende ausgeschaltete Custodians, ihre mächtigen Metallkörper lagen reglos da als Mahnung für das, was hier geschehen war.
Schließlich erreichten sie das größte Zelt im Lager. Der Soldat schlug die Plane zur Seite, ließ sie eintreten und wollte gerade etwas sagen: „Darf ich Ihnen Ronald …“
Therion hob eine Augenbraue, sichtlich genervt.
„… Barton“, vollendete der Mann hastig.
„Ach, Sie kennen sich.“
Therion nickte knapp und ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, leider.“ Dann sah er zu dem Mann im Zelt, der auf ihn wartete. „Hey Flagman, was geht bei dir?“
Ronald Barton, groß gewachsen, mit wettergegerbtem Gesicht und der Haltung eines Mannes, der schon zu viele Schlachten gesehen hatte, erwiderte den Blick ruhig. Seine Augen verrieten, dass auch er lieber woanders wäre, doch dafür war es längst zu spät.
„Der Köter? Und dann bringst du auch noch einen Molukken mit?“ Flagmans Blick glitt abschätzig über die Gruppe, seine Stimme triefte vor Verachtung. „Wenigstens sehen die anderen nach anständigen Menschen aus.“ Shazad atmete hörbar ein, sichtlich getroffen. Doch bevor er etwas sagen konnte, übernahm Therion das Wort. „Ich bringe geballte Qualität mit, Flagman. Das sind Doktor Shazad Hajar, Doktor Jareth Black und Jakob Voss, genannt Faust.“ Er machte eine kurze Pause und sein Blick wurde kälter. „Ich weiß, du hast ein Problem damit, wenn du der Dümmste im Raum bist.“
Flagman reagierte nicht auf die Spitze. Stattdessen verzog er keine Miene, zog einen Zahnstocher aus seiner Brusttasche und steckte ihn sich zwischen die Zähne. „Hunde und Molukken schlafen ganz außen.“ Seine Stimme klang rau und emotionslos. „Fühlt euch trotzdem wie zu Hause.“ Er wirkte auf eine unangenehme Art schlicht: kurzer Militärschnitt, das schwarze Haar schon von grauen Strähnen durchzogen. Er war breit gebaut, hatte Schultern wie ein Schrank und ein Gesicht, das aussah, als hätte es nie gelernt zu lächeln: hart, kantig, vom Leben gezeichnet. Therion und seine Gruppe verließen ohne ein weiteres Wort das Zelt. Draußen umfing sie die düstere Stimmung des Lagers. Überall sahen sie angespannte Gesichter, hörten leise Wortwechsel und ernteten misstrauische Blicke. Die Luft wirkte schwer, als läge ein nahender Sturm darüber, und niemand wusste, ob er ihn überleben würde. Später saßen sie im schwachen Schein eines kleinen Lagerfeuers. Die Luft war kühl und der beißende Geruch von Asche mischte sich mit dem metallischen Aroma der Konservendosen, die sie vorsichtig in den Flammen erwärmten. Ab und zu knackte das Holz leise, Funken stoben auf und verglühten im Dunkel der Nacht.
„Kennst du diesen Vollidioten?“, fragte Jakob plötzlich und starrte dabei in die Glut, als könnte er dort eine Antwort finden.
Therion seufzte leise und rieb sich den Nacken. „Ja, leider. Wir haben zusammen gedient. Und unser letztes Treffen war nicht in seinem Sinne.“ Seine Stimme klang dabei rauer als sonst. „Der muss sich immer profilieren, will jedem zeigen, dass er der Härteste ist. Einfach ein unangenehmer Mensch, durch und durch.“ Einen Moment lang sagten sie nichts, nur das Knistern des Feuers war zu hören. Schließlich brach Shazad das Schweigen. Seine Stirn war gerunzelt und seine sonst so gelassene Art war verschwunden. „Der ist einfach ein Rassist“, sagte er. Seine Worte hingen schwer in der Luft. Shazads Blick war leerer als sonst, beinah verletzt, als ob ihn Flagmans Worte tiefer getroffen hätten, als er zugeben wollte. Therion nickte nur. Jeder hier hatte seinen Ballast, doch Flagmans offener Hass machte es schwer, ihn zu ignorieren.
„Ok, mal ein anderes Thema.“ Jareth hob die Stimme, als wolle er die Spannung vertreiben. „Was machen wir mit Citadel?“ Seine Frage klang beinahe beiläufig, doch seine Augen suchten Therions Blick, forschend und ernst. Therion runzelte die Stirn. Er war überrascht, dass ausgerechnet Jareth das Thema ansprach. Schließlich hatte er mit Citadel eigentlich nichts direkt zu tun. „Ist für dich doch nicht relevant“, entgegnete Therion knapp. Jareth ließ sich davon nicht beirren, seine Stimme blieb ruhig: „Vielleicht. Aber wir sollten trotzdem überlegen, zusammen gegen Citadel vorzugehen. Die machen etwas, wofür sie ohne zu zögern über Leichen gehen. Das kann nicht richtig sein.“ Seine Worte waren nicht laut, aber bestimmt, fast wie ein leises Versprechen.
Shazad rieb sich gedankenverloren das Kinn. „Dir ist schon bewusst, dass wir hier über mythische Artefakte reden, die Kräfte haben, die man sich kaum vorstellen kann? Citadel hat davon nicht nur eines, sondern eine ganze Sammlung.“ Seine Stimme klang müde, fast resigniert. Jakob, der bisher geschwiegen hatte, hob den Blick vom Feuer. Seine Stirn glänzte leicht im Licht der Flammen. „Wir sollten trotzdem darüber nachdenken“, sagte er plötzlich, leiser als sonst, aber mit Nachdruck.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Der Wind spielte mit dem Rauch und ließ ihn um sie herumtanzen, während alle in die Glut sahen.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, als hätte eine unsichtbare Hand das Licht ausgeknipst. Für einen Herzschlag lang breitete sich eine unheimliche Stille aus, dann erfüllten leises Murmeln und hektische Rufe das Lager.
„Dann wollen wir mal.“ Therion stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und blickte ernst in den pechschwarzen Himmel, in dem eben noch Sterne gefunkelt hatten. Jetzt spannte sich stattdessen eine finstere Fläche über ihnen, fast so, als hätte sich der Himmel selbst verschlossen. Die Treppen und Zugänge von Section Shield wurden augenblicklich zu einem Bild des Chaos: Einsatzkräfte rannten durcheinander, einige riefen Befehle, andere starrten fassungslos in den Himmel. Container wurden hastig verriegelt und Waffen verteilt, als erwarteten sie den Angriff eines unsichtbaren Feindes. Shazad, Jareth und Jakob standen ruhig neben Therion. Auch in ihren Gesichtern war die Anspannung zu sehen, aber keiner von ihnen wich zurück. Der Rauch des Lagerfeuers kräuselte sich in der neuen Dunkelheit, als suche er verzweifelt nach einem Ausweg. Dann hörten sie Stimmen von der nahegelegenen Kommunikationsstation: hastig, abgehackt, fast panisch. „... eine Art Ring ... hat Terra umgeben … keine Verbindung mehr nach außen …“
Für einen Augenblick standen sie einfach nur da, Seite an Seite, während das Lager von Chaos erfüllt war.
Dann fielen plötzlich Steine vom Himmel, erst vereinzelt, dann immer mehr, bis der gesamte Himmel aussah, als würde es regnen. Es war ein unheimlicher Anblick. Hunderte, dann Tausende faustgroßer Brocken sausten lautlos durch die Luft. Therion glaubte für einen Moment, sie würden wie Geschosse einschlagen und alles zerschmettern.
Doch stattdessen bremsten sie kurz vor dem Boden ab, als ob eine unsichtbare Kraft sie sanft auffing. Sie blieben knapp über dem Boden in der Luft hängen, zitterten leicht, als würden sie lebendig atmen, und erfüllten die Luft mit einem tiefen, vibrierenden Brummen, das man mehr spürte als hörte. Überall waren sie nun: auf Wegen, in Zelten, zwischen Containern und Fahrzeugen. Sie wummerten in einem dumpfen, fremdartigen Rhythmus, als wären sie Teil eines kolossalen, uralten Herzschlags.
Das Schwarz ihrer Oberfläche begann langsam in einem unregelmäßigen Pulsieren leicht violett zu leuchten. Dieses Licht wirkte nicht wie normales Licht, sondern fast, als käme es aus dem Inneren der Steine selbst: geheimnisvoll, fremd, beinahe bedrohlich.
Die Einsatzkräfte von Section Shield standen teils erstarrt da, teils liefen sie panisch umher, während der Himmel immer noch nachdunkelte und von diesem unnatürlichen Regen erfüllt war. Shazad, Jareth und Jakob warfen kurze, ernste Blicke zu Therion hinüber.
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