Kapitel 75 - Zauberstick
Nott saß immer noch auf dem halb eingestürzten Mauerstück, die Arme auf den Knien abgestützt, den Blick starr auf die zerborstene Ruine des Darwin Medical Hospitals gerichtet. Staub hing schwer in der Luft und schwaches Licht brach durch die zersplitterten Fenster, als wollte es selbst nicht recht hineinleuchten.
Plötzlich öffnete sich die quietschende Tür und Hanley trat ein. Er war noch außer Atem und sein Blick wanderte hastig über den zerstörten Raum. „Was zum Teufel ist hier passiert?“, rief er sofort, während seine Augen die Trümmer durchforschten, als könnten sie ihm eine Antwort geben. Langsam richtete sich Nott auf, klopfte sich den Staub von der schwarzen Jacke und sah Hanley mit einer Mischung aus Spott und Müdigkeit an. „Wie dumm will man eigentlich sein?“, begann er mit einer so kalt klingenden Stimme, wie der Wind, der durch die zerbrochenen Wände strich. „Das hier ist also der Alltag, mit dem sich diese selbsternannten Helden nun herumschlagen müssen.“
Er machte eine kurze Pause, ließ seinen Blick noch einmal über die Trümmer schweifen und verzog dann den Mund zu einem bitteren Lächeln. „Der Vollidiot namens Snap hatte eine ganze Tasche voller Sprengstoff dabei. Wie sehr muss man sein eigenes Leben eigentlich verachten, um so etwas zu tun?“
Hanley trat vorsichtig ein paar Schritte weiter. Glasscherben knackten unter seinen Stiefeln. Sein Blick wurde suchend. „Und … wo ist er jetzt?“, fragte er, obwohl er die Antwort ahnte. Nott stieß ein leises, humorloses Lachen aus. Er hob eine Hand und deutete mit dem Finger direkt auf den Boden vor Hanleys Füßen. „Du stehst auf ihm“, sagte er trocken. „Zumindest auf einem kleinen Teil von ihm.“
Hanley wich einen halben Schritt zurück. Ein Ausdruck des Abscheus lag in seinen Augen, als hätte er plötzlich etwas Giftiges betreten. Er atmete flach, während sein Blick über die blutigen Flecken und die verkohlten Überreste huschte.
Hanley sammelte sich. „Ach übrigens, draußen vor der Tür stehen die Obdachlosen. Sie wollen wissen, was hier drin passiert ist. Und egal, was du ihnen erzählst, sie wissen es sowieso längst.“ Hanley sah Nott einen Moment lang an. Dann ließ er seinen Blick noch einmal durch das zerstörte Hospital schweifen, während ein kühler Luftzug den Staub in wirbelnden Schlieren durch den Raum zog. Hanley ging zielstrebig los. Seine Stiefel hinterließen Spuren im Staub, während er eines der halb eingestürzten Büros betrat. Umgestürzte Möbel lagen herum, an den feuchten Wänden klebten Papierfetzen und der modrige Geruch abgestandener Luft lag schwer im Raum.
„Was machst du, Hanley?“, fragte Nott, während er ihm langsam folgte. Seine Stimme klang mehr neugierig als tadelnd.
„Hier müssen doch noch irgendwo Daten sein“, murmelte Hanley, während er sich einen Weg durch umgekippte Stühle und Schubladen bahnte. „Vielleicht finde ich hier einen Anschluss. Ich habe einen kleinen Zaubercode, mit dem ich alle Informationen auf einen Schlag analysieren kann.“ Er hielt einen Datenstick in die Höhe.Er blieb vor einem der veralteten Computer stehen, dessen Monitor gesprungen war, dessen Statusleuchte aber noch ein schwaches, flackerndes Licht zeigte. Hanley suchte einen Anschluss für seinen Zaubercode, schloss ihn an und begann, Befehle einzutippen. Nott blieb im Türrahmen stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihm mit spöttischem Blick zu. „Hört sich richtig legal an“, bemerkte er trocken, während ein kalter Luftzug lose Blätter durch den Raum wirbelte.
„Natürlich“, entgegnete Hanley knapp, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Er wartete, bis sein Code zu arbeiten begann, und hoffte, dass die alten Datenbanken noch zugänglich waren.
Doch plötzlich wurden sie beide aus der Konzentration gerissen: Gedämpfte Stimmen hallten durch die Ruine, gefolgt vom Klirren zerbrechenden Glases. Eine Rauchbombe flog durch die zerbrochene Scheibe in die Eingangshalle, krachte zu Boden und stieß dichten, weißen Rauch aus, der sich rasch ausbreitete. Instinktiv warf sich Hanley hinter einen umgestürzten Tisch, zog den Kopf ein und presste sich gegen die kalte Wand. Nott hingegen wich in den Schatten zurück und drückte sich flach an den Türrahmen. Durch den wabernden Rauch hindurch sah er kurz den Tisch, hinter dem Hanley kauerte. Er atmete einmal tief durch, während die Welt um sie herum in Grau und Chaos versank.
Dann drehte sich Nott vorsichtig um die Ecke. Sein Atem wurde ruhiger, sein Blick schärfer, seine Bewegungen kontrollierter. Inmitten des dichten Rauchs ging er seine Route in Gedanken durch, plante jeden Schritt und nutzte die Unsichtbarkeit zu seinem Vorteil. Er bog nach links in die große Halle ein. Dort, zwischen schwankenden Rauchschwaden, erkannte er die Silhouette eines Mannes in der Rüstung der Spezialeinheit. Ohne zu zögern feuerte Nott, der erste Schuss traf das Knie. Der Mann brach mit einem erstickten Laut zusammen, und im selben Moment jagte der zweite Schuss, präzise und kalt, ins Auge – die einzige ungeschützte Stelle unter dem Helm. Lautlos sackte der Körper zu Boden.
Nott musterte seine Pistole. Die kleine Energiekapazitätsanzeige blinkte schwach. Er hatte noch zwei oder drei Schüsse. Er steckte die Waffe zurück an den Gürtel, beugte sich über sein Opfer und griff nach dessen schwerem Energiegewehr. Geduckt schlich er weiter in Richtung Eingangstür, sein Blick wachsam. Dort lauerte schon der nächste. Er schoss dem Gegner erneut ins Knie, woraufhin dieser stürzte. Anschließend folgte ein sauberer Kopftreffer. Der leise Aufprall des Körpers auf den Boden wurde nur vom Rascheln des nachlassenden Rauchs begleitet. Ein Flüstern, ein kurzes Knacken, und Nott schaute auf. Er entdeckte eine Empore über sich. Hinter dem wabernden Rauch zeichnete sich die Umrisslinie eines weiteren Gegners ab. Nott zielte, schoss und der Mann brach mit einem dumpfen Laut zusammen. Er stürzte kopfüber in die Tiefe und schlug mit einem widerhallenden Knall auf.
Nott drückte sich sofort hinter eine Säule. Sein Herz raste, während er die Schritte der Angreifer zählte: zwei unten und einer direkt über ihm. Plötzlich ertönte ein metallisches Piepen vom Computer, an dem Hanley arbeitete. Das Geräusch ließ die beiden unteren Männer aufhorchen. Nott nutzte den Moment, huschte in Deckung und pirschte sich von hinten an einen der Soldaten heran. Lautlos zog er sein Messer, packte den Gegner an der Schulter und zog die Klinge durch dessen Kehle. Blut spritzte, der Mann sackte röchelnd zusammen.
Doch der zweite Mann hatte etwas gehört, hob die Waffe und feuerte. Nott warf sich seitlich weg; die Energieblitze zischten knapp an ihm vorbei. Der Gegner hetzte hinterher und wollte Nott im Nahkampf stellen. Die beiden prallten aufeinander, krachten gegen eine Säule und verloren ihre Gewehre. Der Mann drückte Nott zu Boden und presste ihn mit voller Kraft nieder. Währenddessen versuchte sein Kamerad auf der Empore, durch den verblassenden Rauch etwas zu erkennen, und fluchte laut. Nott keuchte und spürte den Druck auf seiner Brust. Der Gegner griff an seinen Oberschenkel, zog ein Messer und stach zu.
Im letzten Augenblick wand Nott den Kopf zur Seite; der Schlag verfehlte ihn knapp. Mit einem kraftvollen Tritt stieß er seinen Gegner von sich weg, riss die Pistole aus dem Gürtel und feuerte. Der Schuss durchbrach den Helm des Gegners, dessen Kopf nach hinten schnellte, bevor er leblos zu Boden kippte.
Nott blieb schwer atmend auf dem Rücken liegen. Sein Blick flackerte, während er versuchte, die Kontrolle über seinen Puls zurückzugewinnen. Dann krachten Schüsse über ihm gegen den Boden, Funken stoben auf.
Er riss den Kopf herum und sah gerade noch rechtzeitig, wie Hanley, der sich noch immer hinter seinem Tisch verschanzte, den letzten Angreifer von der Empore holte.
Für einen Moment herrschte Stille, die nur vom Heulen des Windes unterbrochen wurde, der durch zerborstene Fenster pfiff. Nott atmete tief durch, den Blick zur Decke gerichtet, und spürte das Pochen seines Herzens in jeder Faser seines Körpers.
„Danke!“, schnaufte Nott, während er sich schwer atmend aufstützte und zu Hanley hinüber sah.
„Kein Problem. Das war dein Verdienst“, antwortete Hanley ruhig und hielt dabei immer noch die Waffe in der Hand.
Nott nickte knapp und wollte gerade etwas sagen, als plötzlich bei dem toten Gegner vor ihm ein kurzer Ton erklang. Eine Synect-Nachricht flimmerte über dessen Armmodul.
„Alpha melden? Ziel ausgeschaltet und Tunnel gesichert?“
Hanley trat näher, beugte sich über den Arm und aktivierte das Gespräch. „Gesichert und eliminiert“, sagte er knapp.
Ein Augenblick Stille, dann die Antwort: „Gut, Alpha. Komm zu diesen Koordinaten. Du wirst nun auf ein neues Level gehoben.“
Die Koordinaten erschienen auf dem kleinen Display. Nott zog sein eigenes Gerät hervor, tippte die Koordinaten ein und musterte flüchtig den Bildschirm. „Das liegt in Richtung des Tunnels“, stellte er fest.
Hanley nickte langsam. „Du musst das untersuchen.“ Er warf einen Blick auf seine Aufzeichnungen. „Übrigens, laut den Daten geht es dabei um einen Doktor Harrison … oder Cure. Entweder sie arbeiten zusammen oder sie sind ein und dieselbe Person.“
Nott sog die Information kurz ein, dann ging er zu den Leichen seiner Gegner. Mit routinierten Griffen begann er, deren Kleidung und Ausrüstung an sich zu nehmen. „Okay, verstanden. Dann schleiche ich mich verdeckt ein.“
Wenige Minuten später war die Verwandlung perfekt: Nott sah aus wie einer der Elitesoldaten, komplett mit Helm, Waffe und taktischer Weste. Er prüfte kurz das Gewicht des Gewehrs und spürte, wie sich das Antigravitationsset an seinem Rücken aktivierte.
„Schau mal“, sagte er und klopfte auf den metallischen Apparat. „Eine Art Antigravitationsset. Damit kann ich fliegen … zumindest kurzzeitig. Damit kann ich schneller vorankommen.“ Hanley nickte und hielt ihm seinen Zauberstick entgegen. „Falls du den anschließen kannst.“ Ich bekomme die Daten sofort.“ Nott nickte. „Gar nicht so verkehrt.“
Gemeinsam gingen sie hinaus. Vor dem zerstörten Gebäude wehte der Wind durch die leeren Gassen. Die Obdachlosen, die zuvor dort gestanden hatten, waren verschwunden. Die Straßen lagen still, wie ausgestorben.
„Dann mal viel Glück“, sagte Hanley leise. „Das wird schon.“
Nott hob den Blick, wollte sich schon abstoßen, doch sein Blick blieb wie gefesselt am Himmel hängen. Über ihnen spannte sich eine dichte, pechschwarze Wand, als hätte jemand das Blau einfach ausgelöscht.
„Was ist das … dieser schwarze Himmel?“, fragte Nott tonlos.
Hanley sah ebenfalls nach oben, atmete langsam ein und aus. „Ich habe absolut gar keine Ahnung“, antwortete er ehrlich.
Für einen Moment standen sie beide da, klein unter diesem schwarzen Dach, das lautlos über der Stadt hing. Dann nickte Nott knapp, aktivierte sein Antigravitationsset, stieß sich ab und hob ab. „Ich habe keine Zeit dafür.“ Mit einem sanften Surren stieg er höher und spürte den Luftzug an seinem Körper. Er blickte noch einmal zurück, sah, wie Hanley immer kleiner wurde, dann wandte er sich der Mauer zu, den Koordinaten folgend, und flog davon.

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