Kapitel 74 - Blut

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Das Skidcar glitt durch die nächtlichen Straßen von Saint Veronika. Die Hochhäuser warfen dunkle Schatten und nur das gedämpfte Licht der Neonreklamen sowie die rhythmisch vorbeiziehenden Laternen erhellten den Weg. Es war kurz vor Mitternacht, eine dieser seltenen, beinah friedlich wirkenden Nächte in der pulsierenden Metropole.

Im Inneren des Fahrzeugs herrschte jedoch alles andere als Stille. „Sibi, du hättest dabei sein müssen!“, schwärmte Corbin mit leuchtenden Augen. „Und dann stand sie vor mir, mit diesem wunderbaren, runden Hintern. Wie aus einem Traum.“ Er machte eine Kreisbewegung mit der Hand, als müsse er die Form noch einmal in die Luft zeichnen.

Sabine starrte geradeaus. Sie hatte längst gelernt, Corbins Geschichten nur noch am Rande wahrzunehmen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Navigationssystem, das als Projektion über der Windschutzscheibe schwebte. In leuchtendem Blau zeigte es die Straßen an, die sie noch zu fahren hatten, und markierte ihr Ziel mit einem pulsierenden Symbol. Noch zwei Ecken.

„Das ist doch wunderbar, Corbin“, murmelte sie, ohne den Blick vom Display abzuwenden. „Wir sind da.“

Sie lenkte das Skidcar an den Straßenrand, stellte den Motor ab und beide stiegen aus. Die kühle Nachtluft schlug ihnen entgegen. Vor ihnen zog sich eine Reihe uniformierter Kollegen bis zum Eingang des Reihenhauses, dessen weiße Fassade im Licht der Einsatzscheinwerfer unnatürlich grell wirkte.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte Corbin, während sie an den Absperrbändern vorbeigingen. Seine Stimme klang beleidigt, fast trotzig.

„Ja, ja …“, winkte Sabine ab. Ihr Blick wanderte bereits suchend über das Grundstück, die kleinen Beete und die makellos geschnittene Hecke. „Was haben wir hier?“, fragte sie dann einen der Streifenpolizisten, der mit verschränkten Armen vor dem Haus stand.

„Vier Opfer drinnen“, antwortete der Beamte knapp. Er hatte Augenringe, als sei er selbst schon viel zu lange wach. „Den Eltern und den beiden Kindern wurde mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten. Ein Kind fehlt. Gareth Duff.“

Sabine zog die Stirn kraus. Während sie sprachlos nickte, begann sie, den Tatort langsam zu umrunden. Ihre Stiefel knirschten auf den Kiesplatten, während sie sich ein erstes Bild verschaffte. Die Terrassentür stand einen Spalt offen und im Licht, das aus dem Inneren fiel, tanzten Schatten auf dem Rasen. Drinnen konnte sie die blassen Gesichter von Spurensicherern erkennen, die sich über Blutspuren und zerbrochene Bilderrahmen beugten.

Corbin stand einen Moment neben ihr, doch sein Blick huschte unsicher zwischen dem Haus und Sabine hin und her. „Ein Kind fehlt …“, wiederholte er leise. Seine Stimme klang plötzlich nüchtern, ohne den sonst so überheblichen Ton.

Sabine blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick ein zweites Mal über die Szenerie gleiten. Irgendetwas passte hier nicht. Und während sie dort stand, Ein Schritt vor den anderen, bedächtig, fast ehrfürchtig. Unter Sabines Stiefeln knarzte der alte Holzboden wie ein gealterter Zeuge dessen, was hier geschehen war. Der dumpfe Klang hallte in der stillen Luft wider. Dann blieb sie abrupt stehen, und der Klang veränderte sich. Unter ihren Füßen spürte sie etwas Weiches. Ein Teppich.

Sabine kniete sich hin, ihre Finger strichen suchend und tastend über das Stoffmuster.

„Sibi, was machst du da?“, fragte Corbin ungeduldig. Seine Stimme klang gereizt, und er klang immer noch verärgert darüber, dass sie ihn vorhin ignoriert hatte. Doch Sabine hörte kaum hin.

Mit einem Ruck schob sie den Teppich zur Seite. Darunter kam eine schmale, unscheinbare Klappe zum Vorschein. Eine dieser Klappen, die man im Alltag übersieht, bis sie plötzlich alles verändern. Sabine packte den Griff, spürte den kalten, leicht rostigen Stahl in ihrer Handfläche und öffnete die Klappe.

Corbin riss die Augen auf, und seine Haltung veränderte sich von Ärger zu Aufmerksamkeit. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Was …?“

Doch Sabine zögerte nicht. Sie ließ sich, ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, hineinfallen. Es war eng und dunkel dort, und es roch nach Staub und feuchtem Holz. Sie blinzelte, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Unter den schweren Schatten erkannte sie eine schwache Bewegung, kaum mehr als ein Flackern zwischen Licht und Dunkelheit. Sabine kroch näher und spürte, wie ihr Herz in den Schläfen pochte.

Da war er. Ein Junge, kaum älter als zehn, zusammengerollt wie ein verletztes Tier. Seine blonden Haare klebten blutverkrustet an der Stirn, sein schmaler Gesicht war fleckig vor Angst, Tränen und getrocknetem Blut. Er zitterte unkontrolliert, als wäre die Kälte der Furcht direkt in seine Knochen gekrochen.

Sabines Stimme wurde weich, beinah flüsternd. „Gareth, bist du das? Darf ich Garry sagen?“

Der Junge hob zögernd den Kopf und sah sie mit seinen großen Augen ängstlich an. Dann nickte er schwach, kaum sichtbar.

„Okay, Garry. Hör mir zu.“ Sabines Stimme klang ruhig und warm, wie ein Gegenpol zu dem Chaos um sie herum. „Komm zu mir, Garry. Alles wird gut.“

Langsam und zögerlich folgte er ihrer ausgestreckten Hand. Seine kleinen, blutverschmierten Finger krallten sich an ihrer Jacke fest. Sabine kletterte zuerst hinauf, zog sich hoch und spürte dabei die Anspannung in ihren Armen. Dann drehte sie sich um, griff nach Garrys Händen und half ihm, nach oben zu kommen.

Als sie wieder auf dem Holzboden standen, atmete sie kurz durch. Ihre Knie zitterten leicht, doch sie ließ sich nichts anmerken. Mit einer knappen Geste bedeutete sie den wartenden Sanitätern, sich um den Jungen zu kümmern. „Garry, du wirst jetzt untersucht, okay? Danach bringen wir dich an einen sicheren Ort, wo dir niemand mehr etwas tut.“ Er nickte, immer noch zitternd und unfähig zu sprechen. Doch in seinen Augen glomm ein Funken Hoffnung auf. Während die Sanitäter ihn behutsam wegführten, blieb Sabine noch einen Moment stehen. Sie spürte den kalten Luftzug aus der offenen Klappe unter ihren Füßen und fragte sich, was der kleine Junge dort alles gesehen hatte.

Sie saßen im Skidcar, das lautlos durch die nächtlichen Straßen von Saint Veronika glitt. Das matte Licht der Laternen spiegelte sich in den Scheiben. Auf der Rückbank saß Garry, eingehüllt in ein viel zu großes, beigefarbenes Handtuch. Sein Gesicht war noch immer fleckig vor Blut und Schmutz. Die grobe Erstversorgung hatte kaum mehr bewirkt, als die schlimmsten Spuren abzuwischen. Die feuchte Kälte der Nacht hing in der Luft des Wagens und der Junge zitterte leise, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

Vorne tauschten Sabine und Corbin einen Blick, der mehr sagte als tausend Worte. Es war nicht nur der Anblick des Tatorts, der ihnen in den Knochen steckte, nicht nur das Blut, das sie an den Wänden gesehen hatten. Es war auch das Wissen darum, dass dieser Junge im Versteck seiner Familie alles gehört und gespürt hatte. Die Stille, die Schreie, das Sterben. Corbin schluckte, sein Blick starr auf die Straße gerichtet. Sabine lehnte sich leicht zurück und ließ den Blick über Garry gleiten. Für einen Moment spürte sie, wie tief der Gedanke an ihre Schwester und ihre kleine Nichte in ihr brannte – eine leise, brennende Angst, die sie sich kaum eingestehen wollte. Wenn das hier vorbei ist, muss ich sie unbedingt wieder anrufen, dachte sie.

Langsam lenkte Sabine das Skidcar auf den Parkplatz von Section Shield. Die grellen Neonlichter der Sicherheitsfirma warfen harte Schatten über den Asphalt. Ein Sicherheitsmann trat aus dem Eingang und kam auf sie zu. Er blickte prüfend ins Wageninnere. Sein Blick war kurz und kontrollierend, dann nickte er knapp.

Sabine parkte den Wagen und schaltete den Motor ab. Corbin, dessen Anspannung fast greifbar war, stieg als Erster aus. „Hey, wieso weißt du eigentlich, wer wir sind?“, fragte er den Sicherheitsmann, während er die Tür zuschlug.

Der Mann machte zwei Schritte auf ihn zu und ließ seinen Blick von Corbins Gesicht bis zu seinem Abzeichen gleiten. „Ich bekomme alle Daten direkt über mein Synect“, sagte er kühl. In seinem Blick lag etwas Unangenehmes, eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Macht, die Corbin kurz zusammenzucken ließ.

Sabine beobachtete die Szene kurz, öffnete dann ohne ein Wort die hintere Tür und beugte sich hinein. „Komm, Garry“, sagte sie leise. Der Junge hob zögerlich den Kopf, seine Augen waren noch immer vor Angst weit geöffnet. Behutsam legte sie einen Arm um seine Schultern und half ihm, aus dem Wagen zu steigen. Er wirkte so leicht, als könnte sie ihn einfach tragen. Sabine spürte, wie sein kleiner Körper unter ihrem Arm bebte.

Gemeinsam gingen sie in Richtung Eingang. Die schweren Glastüren öffneten sich lautlos und reagierten automatisch auf ihre Bewegungen. Dahinter erstreckte sich ein heller, moderner Empfangsbereich, dessen sterile Sauberkeit einen scharfen Kontrast zu dem bildete, was sie eben noch gesehen hatten.

Im Eingangsbereich wartete bereits eine Frau mit dunklen, streng zusammengebundenen Haaren. Ihr Blick war ruhig und einfühlsam. Trotz der Müdigkeit in ihrem Gesicht zwang sie sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Hallo Garry“, sagte sie sanft. „Ich bin Doktor Karin Beck. Ich werde mich um dich kümmern.“

Garry hob zögerlich den Blick und nickte kaum sichtbar. Seine Lippen formten keinen Ton, aber für einen Moment lag ein Hauch von Erleichterung in seinem Blick.

Karin Beck wandte sich kurz an Sabine: „Er braucht jetzt etwas Ruhe. Und ein Bad.“ Dann wandte sie sich wieder an Garry. „Geh bitte mit meiner Kollegin Isabell. Sie zeigt dir alles und hilft dir beim Waschen.“ Aus einem Seitengang trat eine jüngere Frau mit blondem Pferdeschwanz. Sie lächelte Garry aufmunternd an und streckte ihm vorsichtig die Hand entgegen. Garry zögerte einen Moment, dann folgte er ihr langsam mit gesenktem Blick. Seine Schritte wirkten schwer.


Sabine und Corbin sahen ihm nach, bis er im Flur verschwand. Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen, die nur vom Summen der Lampen über ihren Köpfen unterbrochen wurde. Sabine atmete tief durch und spürte, wie die Müdigkeit in ihre Knochen sank. Dann sah sie Corbin an.

Karin Beck sah die beiden mit einem Blick an, in dem aufrichtige Sorge und professionelle Ruhe lagen. Ihre Stimme war sanft, aber bestimmt: „Ich habe gehört, was passiert ist.“ Sie machte eine kurze Pause und musterte Corbin, dessen Gesicht kaum eine Regung zeigte. „Habt ihr neue Informationen?“

Sabine atmete einmal tief durch und hob dann leicht die Schultern. „Nein, leider nicht“, sagte er tonlos. „Garry hat nicht gesprochen. Wichtig ist jetzt nur, dass er erst einmal unter Beobachtung steht.“ Seine Stimme klang rau und müde.

Karin Beck nickte langsam, als würde sie jedes Wort abwägen. „Okay“, sagte sie leise. „Dann weiß ich Bescheid. Wir kümmern uns um ihn, versprochen.“ Einen Augenblick lang ruhte ihr Blick länger auf Sabine, als wollte sie ihr stumm Mut zusprechen. Dann wandte sie sich wieder ab.

„Danke, dass Sie ihn vorbeigebracht haben“, fügte sie hinzu.

Corbin hob sofort die Hand, fast etwas zu hastig. „Bitte. Und melden Sie sich bitte, wenn noch Fragen auftauchen.“ Seine Stimme klang dabei einen Hauch weicher, als er beabsichtigt hatte.

Karin Beck nickte erneut knapp und professionell, dann ging sie schnellen Schrittes hinter ihrer Kollegin her, um Garry nicht aus den Augen zu verlieren. Für einen Moment sahen Sabine und Corbin ihr nach, bis sie hinter einer Glastür verschwand.

Dann drehten sie sich um und liefen schweigend Richtung Ausgang. Sabine warf Corbin einen Blick zu, der mehr Ironie als Vorwurf in sich trug. „Dein Ernst?“, fragte sie trocken und ein winziges Schmunzeln huschte über ihre Lippen. „Sie ist verheiratet.“

Corbin verzog das Gesicht zu einer Mischung aus Unschuldsmiene und ertapptem Grinsen, hob abwehrend die Hände. „Ja, ja … Ich wollte doch nur …“ Er brach ab, druckste herum und suchte nach Worten, die nicht kamen.

Doch bevor Sabine weitersticheln konnte, betraten sie den Parkplatz wieder. Dort standen alle Sicherheitsleute reglos, die Köpfe nach hinten geneigt, die Blicke starr nach oben gerichtet. Für einen Moment wirkte es fast unheimlich, wie sie dort standen, als wäre die Zeit selbst stehen geblieben. Auch Sabine und Corbin folgten den Blicken, hoben die Augen zum Himmel und sahen nur eine massive, pechschwarze Wand, die sich über die Stadt zog. Kein Stern, kein Mond, kein Licht drang hindurch. Es war eine bedrückende Schwärze, als hätte jemand die Nacht selbst noch dunkler gemalt.

Sabine spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. „Was zur Hölle …?“, murmelte sie leise, mehr zu sich selbst als zu Corbin.


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