Kapitel 73 - Skepsis

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Samuel und Evelyn liefen nebeneinander über den weitläufigen, hell erleuchteten Platz von Saint Veronika. Der Unity Plaza war eines der Wahrzeichen der Stadt: ein Monument aus Glas, Stahl und Projektionen, das selbst zu später Stunde von Leben erfüllt war. Überall schwebten sanft pulsierende Neonlichter, während holografische Anzeigen zwischen den Wolkenkratzern tanzten. Trotz der späten Stunde herrschte ein eigenartig friedlicher Trubel, ein Summen von Stimmen, Schritten und fernen Beats.

Evelyn sah sich um, dann musterte sie Samuel misstrauisch. „Samuel, warum hast du mich hierhergebracht? Und das mitten in der Nacht.“

Samuel sagte nichts, sondern ging langsam auf eine der Bänke zu, deren Metall in den Farben der Projektionen schimmerte. Er setzte sich und klopfte mit der Hand neben sich, ein stummes Zeichen, sich dazuzusetzen.

Zögerlich folgte Evelyn ihm, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und ließ sich neben ihm nieder. Gemeinsam schauten sie auf die große holografische Fläche zwischen den Hochhäusern, die in der Dunkelheit wie ein leuchtendes Fenster wirkte.

„Ist die Nacht nicht schön?“, sagte Samuel schließlich mit leicht provokantem Unterton. Seine Augen spiegelten das schillernde Licht der Projektionen wider.

Evelyn zog eine Augenbraue hoch. „Solltest du das nicht lieber zu Sabine sagen?“, konterte sie spöttisch, doch ein schwaches Lächeln zuckte über ihr Gesicht.

Samuel lachte leise, ein kurzes, raues Geräusch. „Ach, sie war beschäftigt.“ Dann wandte er seinen Blick wieder nach oben, wo langsam eine riesige Uhr erschien, deren Ziffern in Neonblau herunterzählten. „Schau einfach nur zu. Noch zehn … neun …“ Seine Stimme wurde leiser, beinahe ehrfürchtig.

Die Zahlen, die er nannte, näherten sich langsam dem Nullpunkt.

Plötzlich wechselten alle holografischen Werbeflächen gleichzeitig ihr Bild. Die bunten Anzeigen für Energy-Drinks, Modelabels und Cyberware verschwanden und machten einem einzigen, monumentalen Motiv Platz: Terra, die Erde selbst, schwebte in perfekter Schärfe über den Köpfen der Zuschauer. Unter dem Bild stand in leuchtenden Lettern: „Diese Übertragung wird weltweit gezeigt.“

Samuel lehnte sich mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen zurück, als hätte er genau darauf gewartet. Evelyn konnte seinen Blick spüren, aber sie konnte den Blick nicht von dem gigantischen Hologramm abwenden. Dann begann sich Terra langsam zu drehen, das Bild kippte und wandelte sich nahtlos in das Symbol von Globe Preservation. Im selben Moment zoomte die Perspektive heraus, und links erschien das Emblem von Pretorius Tech, rechts das Emblem von Section Shield.

Langsam blendeten sich die beiden Logos aus, und zwei Männer traten wie aus dem Nichts in das Hologramm hinein: Isaac Owen von Pretorius Tech und John Warren von Section Shield. Warren, groß und breit gebaut mit einem Ausdruck entschlossener Autorität, begann mit fester Stimme: „Bewohner von Terra! Wir haben euch erhört, und wir haben heute die perfekte Lösung für euch!“

Kaum hatte Warren geendet, trat Owen nach vorn. Seine Stimme klang kühler und kalkulierter: „Wir haben mit der Geheimdienstorganisation Globe Preservation und den Regierungen dieser Welt an Lösungen für die neuen Herausforderungen gearbeitet.“

Das Bild wechselte und zeigte nun schemenhafte Entwürfe, technische Renderings und Zahlenkolonnen. „Wir teilen Ihnen heute den ersten Teil mit. Das Pretorius-Schild“, verkündete Owen stolz. „Es ist eine Arbeit unserer Unternehmen: eine enorme Anzahl bewaffneter Custodians, hochmoderne Einheiten, die als Schutzschild gegen eine mögliche Alieninvasion dienen sollen. Wir schützen Sie.“

Ein Raunen ging durch die Menge auf dem Unity Plaza, ein Gemisch aus Staunen und Beifall. Evelyn verschränkte die Arme, ihr Blick wurde kalt. Neben ihr atmete Samuel hörbar aus und verzog angewidert die Lippen.

Doch die Rede ging weiter. Warren hob die Stimme: „Wir wissen, dass die Probleme durch Angriffe von außen und durch Deviants immer größer werden.“ Kurz erschien das Wort „Deviants” in grellen Buchstaben über ihren Köpfen, begleitet von Bildern von Menschen mit leuchtenden Augen, ungewöhnlichen Hautfarben und anderen Mutationen. „Deviants sind Menschen auf der nächsten Evolutionsstufe. Wir wissen, dass es viele mit guten Absichten gibt, doch auch solche, die ihre Kräfte missbrauchen, um Verbrechen zu begehen.“

Die Menschenmenge reagierte sofort: zustimmendes Murmeln, Applaus, vereinzelte Jubelrufe. Evelyns Gesicht blieb ausdruckslos, doch ihre Stimme klang bitter, als sie sagte: „Ekelhaft, sie hassen Deviants.“

Samuel nickte nur, sein Blick voller Abscheu. „Gut, und nun zur größten Neuerung!“, rief Warren, während hinter ihm ein neues Hologramm aufleuchtete: eine Gruppe hochgerüsteter, stilisierter Krieger. „Wir stellen euch vor: die Guardians of Terra.“


Die Projektion drehte sich langsam, während die Namen der einzelnen Guardians in Neonbuchstaben aufblitzten. Die Menschen auf dem Platz rissen die Arme hoch und jubelten euphorisch.

Ein neues Video flammte auf den gigantischen Bildschirmen auf. Die Menschen auf dem Unity Plaza reckten die Köpfe nach oben, als würde der Himmel selbst ihnen die Zukunft verkünden. Eine kräftige Stimme aus dem Off begann, jedes Wort betont wie in einem Werbespot, der zugleich Furcht und Bewunderung wecken wollte:


„Die Guardians of Terra, das Elite-Spezialistenteam unserer Nationen.“

Zuerst erschien ein hochgewachsener Mann in schwerer Kampfrüstung, die Brust geschmückt mit einem stilisierten Wappen. „Angeführt werden die Guardians von Vanguard, einem Supersoldaten mit einer imposanten Klinge.“ Das Bild zeigte, wie Vanguard in einem Trainingsraum lautlos durch mehrere Gegner wirbelte. „Er stammt aus Madison Town und bringt wertvolle Kampferfahrung aus seiner Zeit in der Armee mit.“

Nahtlos wechselte das Bild zu einem Mann mit Maske, der von aufwirbelndem Sand umgeben war, der sich zu einer schützenden Mauer formte. „Dann ist da unser erster Deviant: Rasun, ein Elementarkünstler aus der unterirdischen Stadt Mahan.“ Staub und Steine tanzten in seinen Händen, während er mit einer einzigen Bewegung einen gewaltigen Felsbrocken spaltete. „Er kann Erde und Sand nach Belieben kontrollieren und ist ein beeindruckender Kämpfer.“

Die Projektion sprang weiter und zeigte eine rote Silhouette, die agil und schnell durch eine Gruppe bewaffneter Gegner sprang. „Redcoat aus Monteiro, ein Mensch in einer hochmodernen Rüstung, deren Form an einen roten Panther erinnert.“ Im Video schlitzten die metallischen Klauen mühelos Stahlplatten auf. „Er kämpft mit der Kraft seiner Rüstung.“

Doch trotz der dynamischen Bilder blieb der Applaus spürbar verhalten, und Samuel bemerkte ein verhaltenes Murmeln in der Menge.

Als Nächstes erschien ein Mann mit dunklem Haar. Eine Sehne spannte sich in Zeitlupe, während ein leuchtender Pfeil durchs Hologramm flog. „Orion hat immer das Wohl der Bürger im Sinn“, erklang es aus dem Off. „Ein erfahrener Bogenschütze aus San Arenisca. Seine ruhige Taktik bringt jedes Team voran.“

Der Bildschirm wurde blau getönt und Wasser wirbelte elegant in Spiralen. „Tidal stammt aus Saint Veronika und ist ein Meister im Umgang mit Wasser und Feuchtigkeit.“ Die Projektion zeigte, wie Tidal Wassertropfen zu nadelspitzen Geschossen formte und sie auf mehrere Ziele gleichzeitig schleuderte.

Zum Schluss verdunkelte sich das Bild und eine robust wirkende, kantige und funktionale schwarz-graue Rüstung erschien. „Und schließlich Nitechore, der menschliche Kämpfer, der Saint Veronika mit seinen Kampfkünsten, Gadgets und seiner Hightech-Rüstung beschützt.“ Im Video schleuderte Nitechore Rauchbomben, sprang in die Luft und setzte mit gezielten Tritten gleich mehrere Gegner außer Gefecht.

Als das Video endete, stand das Team in einer dramatischen Formation nebeneinander. Darüber war der Name „Guardians of Terra“ zu lesen. Jubel brandete auf, Menschen reckten ihre Hände in die Luft, während Drohnen durch die Menge flogen und die Gesichter der Feiernden einfingen.


Doch Evelyns Blick blieb ernst. Sie spürte, wie Samuel neben ihr kaum applaudierte, die Arme verschränkt und die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. „Marketing in Reinform“, murmelte er. Evelyn nickte leise. In ihren Augen funkelte ein Funken Skepsis, während über ihren Köpfen das strahlende Symbol der Guardians weiterleuchtete.

Samuel sah Evelyn an, ein leises Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Ich finde ja, dass Nitechore wirklich nicht so recht in ein Heldenteam passt“, sagte sie mit spöttischem Unterton. Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, während der Applaus ringsum weiterdonnerte wie Regen auf Blech.

Samuel hob leicht die Augenbrauen, sein Blick glitt über die Menge. Die Menschen auf dem Unity Plaza waren wie gebannt. Sie jubelten, klatschten und filmten alles mit ihren Geräten. Zwischen den Stimmen mischten sich immer wieder Fragen: „Was ist mit der Eulenfrau aus Saint Veronika? Wird die nicht auch ein Guardian?“ Andere hofften, noch mehr bekannte Gesichter zu sehen.

„Ich glaube, die Leute sehen das etwas anders als du“, entgegnete Samuel schließlich ruhig. Evelyn musste lachen. Ihr Blick wanderte wieder zu den gigantischen Hologrammen, die immer noch die Guardians in heroischen Posen zeigten. „Ja ...“ Sie lachte. „Es ist ja nur ein Spaß. Natürlich muss man das mit Skepsis betrachten, aber du ... wirst du das schon machen“, murmelte sie. „Ist dein neuer Anzug dafür vorbereitet?“ Samuel lächelte. „Ja, ist er.“ Der ist für größere Gegner, damit ich ein bisschen mehr Chancen habe.“ Evelyn nickte. „Du bist immer vorbereitet. Du hast ja selbst dein Motorrad und dein Skidbike behalten, je nachdem, was du brauchst.“ Er nickte. „Vielleicht muss ich mir irgendwann nur andere Dinge überlegen.“ 

Sie holte gerade Luft und wollte etwas sagen, als plötzlich ein kehliges, dunkles Lachen durch die Straßen grollte, wie ein ferner Donner, der durch die Häuserschluchten rollt. Die Menge erstarrte, Köpfe drehten sich suchend in alle Richtungen. Selbst die Werbeflächen flackerten für einen Augenblick.

„Terraner … meint ihr ernsthaft, dass das reicht?“ Die Stimme war rau, tief und klang zugleich belustigt und lauernd wie ein Raubtier. Für Sekunden war nichts zu hören außer dem Flattern der Fahnen im Nachtwind. Dann, ohne jede Vorwarnung, breitete sich am Himmel ein gewaltiger Schatten aus.

Ein gigantisches Raumschiff senkte sich herab. Es war so groß, dass es den Blick auf die Sterne versperrte. Metallische Oberflächen glitzerten im Schein der Stadtlichter. Die Luft vibrierte, als würde die Schwerkraft selbst erzittern.

Panik breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Menschen schrien, stießen sich gegenseitig weg und versuchten, Schutz in Hauseingängen zu finden. Evelyns Augen weiteten sich, ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.

Samuel atmete flach, sein Blick starr nach oben gerichtet. Er flüsterte nur: „Shenth … sie sind da …“

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