Kapitel 71 - Mutter

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Seit sie den Sieg errungen hatten, waren Stunden vergangen, und allmählich spürte Nathaniel, wie die Schmerzen in seinem Körper nachließen. Zwar brannten seine Muskeln noch immer und jede Bewegung erinnerte ihn an die Härte des Kampfes, doch ein Gefühl von Erleichterung legte sich darüber. Er hatte gesiegt. Das Alltal war frei.

Gemeinsam mit den übrigen Kriegern zog er nun als Karawane Richtung Wachturm. Staub wirbelte über den unebenen Pfad, während die Sonne blasser wurde und lange Schatten durch die Täler warf. Nathaniel saß auf einem wackeligen Karren, der gemächlich von einer Kreatur namens Ved gezogen wurde.

Der Anblick des Ved faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue: Sein Fell schimmerte dunkelblau und fast violett und glänzte seidig im Licht. Seine schweren Dreadlocks, jeder Zopf etwa fünf Zentimeter dick, schwangen sanft im Takt seiner Schritte mit. Noch seltsamer waren die Füße der Kreatur. Sie sahen menschlichen Füßen verblüffend ähnlich, wirkten aber gleichzeitig fremd und urtümlich.

Neben ihm im Wagen saß Kalyx, der schweigend den Blick über die vorbeiziehenden Felsen und Bäume gleiten ließ. Nathaniel lehnte sich etwas zurück und ließ den Kopf gegen das harte Holz fallen. Der Rhythmus der Räder, das Knarzen der Achse und das gleichmäßige Stampfen des Ved wirkten beinahe beruhigend.

In Gedanken ließ er die letzten Stunden immer wieder vor seinem inneren Auge ablaufen: die brüllenden Golems, die schiere Gewalt der Explosionen, das rhythmische Pochen seines Herzens, das ihm wie ein Kriegstrommel vorkam. Er erinnerte sich an den Geruch von Blut, Staub und verbrannter Luft – ein Geruch, der sich in seine Erinnerung brennen würde. Xhi-Tun war bereits vor einiger Zeit aufgebrochen, um die anderen Dörfer im Alltal zu benachrichtigen. Nathaniel stellte sich vor, wie der flinke Kämpfer mit seinen leichten Schritten über die steinigen Pfade hastete, getrieben von Pflichtgefühl und der Hoffnung, überall die frohe Kunde zu verbreiten.

Der Wind spielte mit einzelnen Strähnen von Nathaniels Haaren, während sein Blick über die Reihen der Krieger glitt, die vor und hinter ihm liefen. Es waren Menschen, Triklin und noch andere Spezies, vereint durch den Sieg. Manche stützten sich schwer auf ihre Waffen, andere blickten still nach vorne, als könnten sie selbst kaum glauben, dass sie noch am Leben waren. Für einen Moment empfand Nathaniel etwas, das er lange nicht mehr gespürt hatte: Stolz. Nicht auf seine Kräfte allein, sondern auf das, was sie gemeinsam erreicht hatten.


Er atmete tief durch, lauschte dem leisen Schnaufen des Ved und dem stetigen Knarzen des Karrens. In diesem Moment fühlte sich selbst der Schmerz in seinen Gliedern wie eine Auszeichnung an, eine Erinnerung daran, dass er überlebt hatte. Und dass der Weg noch längst nicht zu Ende war.

Stunden später erreichten sie schließlich den Turm – oder besser gesagt, sie konnten ihn in der Ferne erkennen. Schon aus der Distanz wirkte er gewaltig, beinahe erdrückend in seiner Präsenz. Er ragte so hoch in den künstlichen Himmel, dass seine Spitze beinahe mit den Wolken zu verschmelzen schien. Tatsächlich konnte Nathaniel nun deutlich erkennen, wie sich der künstliche Himmel wie ein zarter, schimmernder Schirm von der Turmspitze ausbreitete, als würde er von dort genährt werden. Je näher sie kamen, desto mehr Einzelheiten traten hervor: gewaltige, glänzende Mauern aus einem unbekannten Material, von dem das Licht wie von Wasserflächen reflektiert wurde. Der Turm wirkte nicht nur wie ein Bauwerk, sondern wie ein eigenes Wesen, das alles ringsum in seinen Bann zog. Doch dann, als sie um eine Felsformation herumtraten, sahen sie etwas, das Nathaniel den Atem stocken ließ: Vor dem Turm hatte sich eine gewaltige Streitmacht versammelt. Scharen von Triklin und Noklin der Shenth standen dort in strenger Formation. Jede Bewegung wirkte diszipliniert und unheilvoll zugleich. Die Rüstungen der Noklin funkelten in dunklem Metall, während die Triklin reglos wie Statuen warteten – eine Armee, bereit für den Befehl.

Inmitten dieser geordneten Masse stand eine einzelne weibliche Gestalt, umringt von Offizieren und Leibwachen. Schon aus dieser Entfernung strahlte sie eine Autorität aus, die Nathaniel spüren konnte, ohne ihren Namen zu kennen. Ihre Haltung war stolz, ihr Blick erhoben, als gehöre ihr die Welt. Nathaniel konnte die feinen Details ihres Gesichts nicht erkennen, doch etwas an ihr ließ keinen Zweifel daran, dass sie wichtig war, vielleicht sogar diejenige, die über Leben und Tod entschied. Und dann sah er sie: die Statue von Prometheus. Inmitten der Shenth-Truppen thronte sie über allem. Prometheus saß auf einem steinernen Thron, der Blick ernst und unergründlich nach vorne gerichtet, als würde er über das gesamte Feld wachen. Seine Züge waren kraftvoll und beinahe überlebensgroß. Trotz der Regungslosigkeit der Statue schien eine unterschwellige Präsenz von ihr auszugehen.

Plötzlich standen sie da, nur wenige Meter entfernt. Wie aus dem Nichts war die Frau mit ihrem Gefolge aufgetaucht und es war, als würde der Boden sie tragen. Die Luft zwischen den beiden Gruppen war zum Zerreißen gespannt. Dann setzte sie sich in Bewegung. Jeder ihrer Schritte wirkte entschlossen und schwerelos.

„Ich schlage ein Duell vor“, sagte sie mit ruhiger Stimme, die dennoch wie ein Befehl in der Stille nachhallte, während sie auf Atlon zeigte.

Nathaniel spürte, wie sein Herz schneller schlug. Langsam stieg er vom Karren hinunter. Sein Blick heftete sich an die Frau, die nun direkt auf ihn zusteuerte. Sie war so fremdartig wie fesselnd: Sie hatte tiefschwarze, glänzende Haare und eine dunkelviolette Haut, auf der sich schwarze, ornamentartige Muster wanden, als würden sie atmen. Ihre Augen leuchteten in einem unheimlichen Pink, das ihn für einen Moment frösteln ließ. Ringsum stimmten die Truppen der Shenth einen Chor an. „Amet! Amet! Amet!“ Es war kein lauter, wilder Ruf, sondern ein gleichmäßiges, tiefes Skandieren, das wie ein pochender Herzschlag wirkte. Nathaniel schluckte, während er sich ein paar Schritte vorwagte, bis er nur noch wenige Meter von ihr entfernt stand.

„Dann leg mal los“, sagte er leise, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Amet ging direkt vor ihm stehen, so nah, dass er ihren Atem spüren konnte. Sie war kaum größer als er, doch etwas an ihr wirkte gewaltig. Ihre Augen fixierten ihn mit einer Mischung aus Neugier und kühler Berechnung.

„Wer bist du?“, fragte sie und griff nach seinem Gesicht. Die Berührung war überraschend sanft, beinah zärtlich. Nathaniel spürte, wie ihm kurz der Atem stockte.

„So unschuldig, so wunderschön“, murmelte sie, als würde sie mehr zu sich selbst sprechen.

Nathaniel hob sein Kinn leicht an und seine Stimme klang fest, obwohl er den pochenden Puls in seinen Schläfen spürte. „Nenne mich Atlon“, sagte er.

In diesem Moment aktivierte er seine Rüstung. Ein leises Surren erfüllte die Luft, während sich metallische Platten wie eine zweite Haut über seinen Körper legten. Ihre Kanten glühten kurz auf, ein helles, klares Licht, das einen scharfen Kontrast zu Amets violettem Schein bildete. Amet sprang behände von ihm weg, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet. Fast augenblicklich bildete sich eine pulsierende, violette Schicht um ihren Körper wie ein lebendiger Schild. Auf ihrem Rücken wuchsen aus dem Nichts lange, tentakelartige Auswüchse, die sich unruhig bewegten, als suchten sie nach einem Ziel.


Für einen Moment standen sie einfach nur da und starrten einander an. Ringsum herrschte absolute Stille. Nathaniel spürte, wie seine Finger leicht zitterten – nicht aus Angst, sondern aus gespannter Erwartung. Alles an dieser Frau wirkte wie ein Rätsel, das kurz davorstand, sich in einem einzigen, brutalen Augenblick zu offenbaren.

Sie bewegte sich elegant und fast lautlos, während sich die langen, pechschwarzen Tentakel wellenartig über den Boden streckten. Es war beunruhigend und erinnerte an Spinnen, wie sie so schwebend vorwärts glitt, die violetten Augen auf Nathaniel gerichtet, in denen sich fremde Entschlossenheit und ein Hauch von Neugier mischten. Nathaniel spürte, wie sich seine Muskeln anspannten und das Adrenalin ihm in den Ohren rauschte. Er wusste, dass dieser Moment unausweichlich war, jetzt würde es eskalieren. Seine Hände kribbelten, während er seine Kräfte sammelte; das Licht in ihm war bereit, hervorzubrechen. Doch Amet war schneller als erwartet: Zwei Tentakel schnellten wie Peitschen auf ihn zu, scharf wie Klingen an den Enden. Nathaniel machte einen Satz zur Seite, duckte sich tief und spürte die Luftverdrängung knapp an seinem Gesicht vorbeirauschen. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen. Kaum hatte er sich aufgerichtet, schossen zwei weitere Geschosse auf ihn zu: zähflüssig aus ihren Tentakeln geformt und in der Luft zu harten, pfeilartigen Stacheln verhärtet. Reflexartig hob er die Hände und formte ein pulsierendes Schild aus Licht vor sich. Ein gleißender Schimmer, der wie geschmolzenes Glas wirkte, breitete sich aus. Die Geschosse prallten mit einem hellen Knall dagegen, zersplitterten und regneten als funkelnde Fragmente zu Boden.

Nathaniel spürte die Erschöpfung, die selbst dieser kurze Abwehrversuch verursacht hatte. Er wusste, dass er verlieren würde, wenn er sich nur verteidigte. Er musste angreifen, bevor sie ihn endgültig überrollte.

„Wieso tust du das, Amet?“, fragte er laut mit fester Stimme, aber mit einem Unterton aus echter Neugier, in der Hoffnung, sie auch nur einen Wimpernschlag lang aus dem Takt zu bringen.

Amet blieb nicht stehen. Ihre Augen verengten sich, ihre Tentakel zuckten unruhig, als wollten sie seine Worte abschütteln. „Atlon …“, zischte sie, während sie sich geschmeidig um ihn herumschlängelte. „Das hat keinen Zweck.“

Plötzlich, als hätte sie neue Kraft gefunden, schossen vier weitere Tentakel aus ihrem Rücken hervor und griffen nach ihm. Sie wickelten sich in rasender Geschwindigkeit um seinen Oberkörper und seine Beine und rissen ihn zu Boden. Nathaniel prallte hart auf den Boden und spürte, wie ihm kurz die Luft wegblieb. Die Tentakel drückten so fest zu, dass das Metall seiner Rüstung knirschte.

Er keuchte und kämpfte gegen die Kälte an, die von diesen pechschwarzen Gliedmaßen ausging. Es fühlte sich an, als wollten sie ihm nicht nur die Bewegung rauben, sondern auch das Licht aus ihm herauspressen.

„Alles, wofür ich existiere, ist es, das hier zu tun“, hauchte sie leise. Für einen Augenblick lag etwas Bitteres, beinah Trauriges in ihrer Stimme.

Doch Nathaniel gab nicht nach. In ihm sammelte sich Energie wie ein gleißender Sturm, der entfesselt werden wollte. „Jeder handelt nach seinen eigenen Prinzipien … oder für Menschen, die man liebt!“, keuchte er mit gepresster Stimme, während die Tentakel ihn immer fester drückten. Diese Worte ließen sie stocken. Nur für einen Augenblick, doch dieser Augenblick reichte. Nathaniels Rüstung begann grell zu leuchten. Das Licht pulsierte erst matt, dann immer heller, bis es schließlich blendend wurde. Hitze breitete sich aus, ein brennendes Glühen, das selbst durch die Dunkelheit der Tentakel schnitt. Amet schrie auf, ein rauer, wütender Laut, in dem Schmerz mitschwang. Sie riss die Tentakel zurück und sprang in einer geschmeidigen Bewegung zurück, als sei sie von Flammen berührt worden.

Nathaniel sog gierig Luft ein und spürte, wie sein Herz raste. Schweiß rann ihm über die Stirn, doch seine Augen funkelten entschlossen. „Jetzt!“, flüsterte er.

Er bündelte seine Kraft in den Händen und spürte, wie das Licht zitterte und kaum noch gehalten wurde. Dann stieß er es nach vorne. Ein strahlend heller Lichtstrahl, so rein, dass selbst die Schatten im Raum kurz zurückwichen, schoss direkt auf Amet zu.

Der Strahl traf sie frontal und blendete alles um sie herum. Für einen Moment konnte Nathaniel nicht erkennen, ob sie getroffen wurde oder auswich, so grell war der Schein.

Doch dann sah er sie: Amet taumelte nach hinten, ihre Tentakel zuckten wild und auf ihrer violetten Haut glühte eine Brandwunde. Ihr Blick war nicht mehr so unerschütterlich wie zuvor, für einen winzigen Moment stand da Angst.


Nathaniel spürte, wie sich seine Brust hob und senkte, und wie seine Muskeln brannten. Er wusste, der Kampf war noch nicht vorbei. Aber zum ersten Mal hatte er sie wirklich getroffen. Und zum ersten Mal sah er, dass auch Amet nicht unbesiegbar war. Im Hintergrund bewegten sich dichte Formationen. Wie ein dunkler Strom schoben sich Greengore und Iris mit ihren schwer bewaffneten Gefolgsleuten näher heran. Ihre Banner flatterten in der aufkommenden Brise. Nathaniel konnte hören, wie ihnen ein Chor aus Hunderten Kehlen entgegenschallte. Ihr Name, getragen von unzähligen Stimmen, klang wie ein donnerndes Trommeln, das den Boden erzittern ließ.

„Nehmt euch die Schiffe! Ich beende das Schild!“, rief Iris diesmal nicht gehetzt oder zögerlich, sondern mit einer Klarheit, die Nathaniel erschreckte. Ihre Stimme schnitt durch das Chaos wie eine Klinge und für einen Moment glaubte Nathaniel, in ihr etwas Unbeugsames, Beinahe-Kaltes zu hören. Nathaniel spürte, wie die Truppen auf seiner Seite sofort reagierten. Wie ein lebendiger Wall schoben sie sich schützend zwischen Iris und Greengore sowie die feindlichen Reihen. Schilde hoben sich, Klingen blitzten.

Amet riss den Kopf herum. Ihre violett leuchtenden Augen suchten die Umgebung ab, doch es war, als könnte sie nichts erkennen. Ihre Tentakel zuckten unruhig, und plötzlich entkam ihr ein Fauchen, das so schrill und tief durch Mark und Bein ging, dass Nathaniel glaubte, seine Trommelfelle würden bersten. Die Luft vibrierte, als ob der Boden selbst mitzitterte. Ringsum hielten sich Kämpfer die Ohren zu und wichen instinktiv zurück. Dann geschah alles auf einmal. Die Triklin und die Noklin – riesige, gepanzerte Kriegergestalten, bewaffnet mit mächtigen Äxten und Keulen – stürzten sich nach vorn. Mit wütendem Gebrüll krachten sie in die vordersten Reihen, zertrümmerten Schilde und rissen Gegner von den Füßen. Die Schlacht begann wie ein reißender Sturm, und Nathaniel und Amet standen nun mitten darin, eine Insel aus Spannung im tobenden Meer aus Stahl, Blut und Magie.

„So viel zum fairen Kampf“, rief Atlon mit rauer Stimme, die vom Staub und Adrenalin gezeichnet war, während er Amet ins Auge sah. Ein schiefes, trotziges Lächeln huschte über sein Gesicht, fast wie eine Maske gegen das Chaos um ihn herum.

Amet starrte ihn an, ihre Tentakel zuckten wie die Zunge einer gereizten Schlange. „Ihr wolltet zu unseren Schiffen!“, zischte sie, und jedes Wort tropfte vor Zorn.

Atlon hob langsam die Arme. Im Licht funkelten seine Hände, und kleine Ströme reiner Energie zuckten über seine Fingerspitzen. „Wenn ich mit dir fertig bin, sollten die Schiffe startklar sein“, sagte er. Seine Stimme klang fester, als er selbst es erwartet hätte.

Für einen Herzschlag fragte sich Nathaniel, woher dieses Selbstvertrauen kam. Noch vor Kurzem hätte ihn so ein Satz selbst überrascht, doch jetzt fühlte er sich seltsam echt an. Vielleicht war es Übermut, vielleicht Verzweiflung oder schlicht der Moment, der keinen Platz mehr für Zweifel ließ.

Sein Blick glitt kurz über das Schlachtfeld. Seine Leute kämpften tapfer, aber er erkannte sofort, wie schwer sie es gegen die Truppen der Shenth hatten. Die schwarzen Banner der Shenth waren wie bewegliche Schatten zwischen den Reihen: unerbittlich und diszipliniert. Panzerhandschuhe krachten auf Schilde, Klingen blitzten auf, Pfeile regneten nieder und überall stieg Staub und Blutnebel auf.

Nathaniel atmete tief ein. Sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer in seiner Brust.

„Egal, wie viele sie sind“, dachte er. „Ich muss sie nur lange genug aufhalten.“

Vor ihm baute sich Amet auf, der immer noch unversehrt genug war, um furchteinflößend zu wirken. Ihre Tentakel schlugen wie Geißeln in die Luft, ihre Augen brannten vor Hass.

Während um sie herum das Chaos tobte, wusste Nathaniel, dass dies der entscheidende Moment war, der darüber entscheiden konnte, ob sie überleben würden oder alles verlieren würden.

„So unvorsichtig“, zischte Amet. Ihre Stimme klang wie bitteres Gift. Mit einer ruckartigen Bewegung warf sie ihre Hände zu Boden und im selben Moment schossen ihre Tentakel wie lebendige Schlangen aus der Dunkelheit hervor, gierig, lautlos und bedrohlich. Nathaniel wich zurück und spürte, wie der Puls in seinen Schläfen hämmerte. Die Tentakel tasteten über den Boden und suchten ihn wie kalte Finger. Er riss die Arme hoch, seine Hände leuchteten auf und das Licht vibrierte zwischen seinen Fingern. Fast traf ihn das erste Tentakel, doch er schlug es zur Seite. An der Stelle, an der seine Faust das schleimige Fleisch berührte, explodierte ein greller Blitz. Ein kurzer, brennender Geruch stieg auf. Kaum hatte er Zeit zu atmen, da schnellte auch schon die nächste Tentakel heran und peitschte durch den Staub. Wieder traf Nathaniels Schlag, wieder blitzte es auf, blendend und schmerzhaft. Doch er spürte, wie seine Kraft nachließ. Seine Arme wurden schwer wie Blei und sein Blick verschwamm für den Bruchteil eines Augenblicks. Ringsum tobte der Kampf weiter. Das Donnern der Waffen und das Brüllen der Soldaten hallte in seinen Ohren. Nathaniel merkte, wie der Gedanke an eine Niederlage in ihm aufstieg. Sie konnten den Kampf wirklich verlieren.

In diesem Moment sprang Amet plötzlich zurück. Ihr Schlangenleib spannte sich und mit unnatürlicher Eleganz schnellte sie in einem weiten Bogen in Richtung der wartenden Schiffe. Nathaniels Herz setzte einen Schlag aus. Dann spannte er seine Muskeln, sammelte die letzte Kraft in seinen Beinen und stieß sich ab. Er flog durch die Luft, der Wind riss an seiner Kleidung. Für einen Moment war alles still, nur das Rauschen seines Blutes war zu hören.

Er sah, wie Amet landete. Staub wirbelte um sie herum auf, als sie vor Iris zum Stehen kam. Nathaniel spürte, wie seine Füße hart auf dem Boden aufkamen. Er rutschte ein Stück und hob den Kopf.

Amet stand reglos vor Iris. Ihre Tentakel lagen still, wie erstarrt. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, doch Nathaniel konnte sie hören, klarer als alles andere:

„Mutter.“


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