Kapitel 70 - Minenarbeit
Es waren Tage vergangen, bis sie endlich etwas erkennen konnten. Vor ihnen ragte ein gewaltiger Kristallberg auf, dessen Spitzen in der Sonne wie gefrorene Blitze funkelten. Das Licht brach sich in tausend Facetten und ließ den Berg beinahe lebendig wirken, als würde er atmen. „Da ist das Alltal!“, verkündete Xhi-Tun voller unerschütterlicher Begeisterung. Seine gute Laune war in den letzten Tagen zu einer vertrauten Konstante geworden, fast so, als könnte sie jede Erschöpfung von der Reise vertreiben.
Nathaniel nickte nur und richtete seinen Blick weiterhin gebannt auf das Naturschauspiel. Der Anblick war wirklich überwältigend, majestätisch und zugleich fremdartig, als wäre er direkt aus einer anderen Welt herausgebrochen.
In den vergangenen Tagen waren die drei immer enger zusammengerückt. Nathaniel hatte sich dabei ertappt, wie er abends am Lagerfeuer Geschichten erzählte, die er sonst nie laut ausgesprochen hätte: Anekdoten aus seiner Kindheit und Gedanken über das, was ihn im Innersten antrieb. Er hatte offenbar unerwartet Freunde an einem unerwarteten Ort gefunden. Auch Kalyx, der anfangs so distanziert und verschlossen gewirkt hatte, öffnete sich zunehmend. Er teilte kleine Details über seine Familie und erzählte in ruhigen Momenten von seinem Bruder, zu dem er schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Und manchmal, wenn die Gespräche tiefer gingen, konnte Nathaniel ein sanftes, beinah scheues Lächeln bei ihm erkennen.
Die Reise verlief verhältnismäßig ruhig, doch das monotone Marschieren durch karge Täler und endlose Felsenketten hatte sie einander nähergebracht, als es Worte jemals hätten tun können. Je näher sie dem Alltal kamen, desto stärker wurde in Nathaniel das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, das er nicht ganz verstand, das ihn aber magisch anzog.
Die Menschen in Alltal wirkten scheu und zurückhaltend. Kaum jemand traute sich auf die schmalen Straßen; viele beobachteten die Fremden nur verstohlen hinter halb geöffneten Türen oder von kleinen, mit Kristallsplittern verzierten Fenstern aus. Eine fast ehrfürchtige Stille lag über dem Ort, als wollte niemand das Gleichgewicht dieser verborgenen Welt stören. Die ersten Häuser bestanden aus einem faszinierenden, tiefblauen Holz, das in der Sonne sanft schimmerte, als läge ein Hauch von Magie darauf. Nathaniel, Kalyx und Xhi-Tun gingen tiefer in das Dorf hinein. Der Boden schien leicht zu vibrieren, als würde irgendwo unter der Erde ein gewaltiges Herz schlagen.
Plötzlich endete der Weg vor ihnen abrupt an einer scharfen Kante, als hätte jemand das Dorf einfach am Horizont abgeschnitten. Für einen Moment hielten sie an, die Stille um sie herum wurde noch schwerer. Nathaniel trat vorsichtig näher und spähte darüber hinweg.
Vor ihnen öffnete sich ein atemberaubender Anblick: Ein weites Kristaltal breitete sich aus, das so tief war, dass der Blick kaum den Grund erreichte. In sanften Terrassen führte der Weg hinab, flankiert von gewaltigen, bunt schimmernden Kristallwänden. In diese Wände waren zahllose Häuser gebaut, manche klein und bescheiden, andere kunstvoll in den Stein gemeißelt mit filigranen Ornamenten. Zwischen den Häusern spannten sich gläserne Brücken wie Adern.
Der Kristallberg selbst ragte dahinter noch weiter in den Himmel, majestätisch und unnahbar, als würde er das Tal beschützen. Sein Licht tanzte in den Facetten der Kristalle und warf flirrende Reflexe über den ganzen Abgrund, sodass alles wie in ein kaleidoskopartiges Farbenspiel getaucht wurde.
Weiter unten, fast am Grund des Tals, fühlte es sich an, als würden sie durch einen lebendig gewordenen Regenbogen wandern. Das Licht brach sich unaufhörlich in den zahllosen Facetten der Kristallwände und tauchte die schmalen Pfade und Terrassen in ein schimmerndes Farbenspiel, das bei jedem Schritt neue Muster malte.
Kurz bevor sie den Talgrund erreichten, blieb Kalyx stehen. Vor ihnen erhob sich ein größeres Gebäude, das kunstvoll aus den Kristallen selbst herausgearbeitet worden war. Seine Säulen wirkten wie gefrorene Lichtstrahlen. Über dem Torbogen funkelten Symbole in fremder Schrift, die im Spiel des Lichts fast lebendig wirkten.
„Hier müssen wir rein“, sagte Kalyx und ging mit einem entschlossenen Blick, der keine Fragen zuließ, voran. Nathaniel und Xhi-Tun folgten ihm über den glänzenden Boden, dessen Oberfläche so glatt war, dass sie beinahe ihre Spiegelbilder erkennen konnten.
Die Eingangshalle war atemberaubend: Kristalle in allen Größen und Farben wuchsen wie riesige, stumme Wächter aus den Wänden und der Decke. Das Licht der Kristallfackeln tanzte darin und ließ die Schatten an den Wänden pulsieren.
Inmitten dieser Pracht saß eine Frau auf einem Thron aus schwarzem Kristall. Ihre dunkelbraunen Haare fielen in kurzen Locken um ihr Gesicht, das eine unerwartete Wärme ausstrahlte. Etwas an ihrem Blick und ihrer Haltung erinnerte Nathaniel an Tasha: dieselbe Mischung aus Selbstbewusstsein und stiller Stärke. Neben ihr stand eine gewaltige Statue in Form eines Kristallvogels, dessen Flügel weit ausgebreitet waren, als wolle er jeden Moment davonfliegen.
„Birana“, begrüßte Kalyx sie mit leiser Stimme. In dem Blick, den sie tauschten, lag eine Vertrautheit, die Nathaniel sofort auffiel. Die beiden zogen sich einige Schritte zurück und flüsterten miteinander. Nathaniel nutzte die Zeit, um die filigranen Ornamente im Kristallthron zu betrachten. Sie schienen Geschichten zu erzählen, wenn man nur lange genug hinsah.
Nach ein paar Minuten kamen Kalyx und Birana zurück. „Atlon habe ich gehört?“, sagte Birana und musterte Nathaniel mit einem aufrichtigen Lächeln, das ihre Augen warm aufleuchten ließ.
„Atlon habe ich gehört?“, erwiderte er mit einem leichten Grinsen.
Sie lachte leise und sah zu Kalyx hinüber. „Ich mag seinen Humor.“ Dann richtete sie den Blick wieder ernst auf Nathaniel. „Atlon, wir werden euch begleiten. Aber wir haben ein Problem: Seit Wochen werden unsere Minenarbeiter in den tiefsten Stollen angegriffen. Wir konnten nicht herausfinden, was dahintersteckt, denn wir sind nur wenige Krieger.“
Nathaniel nickte langsam. Doch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: „Kalyx hat mir allerdings gesagt, dass ihr kämpfen könnt. Mein General Mattash wartet draußen auf euch. Er wird euch führen.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand durch eine Tür, deren Oberfläche in sanften Wellen pulsierte, als würde sie auf ihren Herzschlag reagieren.
Nathaniel atmete aus, als Stille einkehrte. „Sie ist aber direkt und schnell“, stellte er fest und ließ den Blick noch einmal durch die kristallene Halle schweifen.
Draußen wartete zunächst niemand, sodass Nathaniel, Kalyx und Xhi-Tun einen Moment unschlüssig stehen blieben. Der warme Wind strich über den Platz vor der Kristallhalle und wirbelte ein paar feine Staubkörner über den glattpolierten Boden. Ringsum funkelten die Kristalle in den Fassaden der Häuser, als wollten sie jedes Wort belauschen. Nach ein paar Augenblicken erschien schließlich ein Mann am oberen Rand des Weges. Auch er wirkte auf den ersten Blick menschlich, doch seine Haut hatte eine steinerne, moosgrüne Farbe, die in der Sonne leicht schimmerte wie polierte Jade. Sein Schädel war kahl, seine Züge waren ernst und hart wie gemeißelt und auf seiner Brust glänzte eine Rüstung aus grünlich durchzogenem Metall und Kristall.
Er ritt auf einem gewaltigen kristallinen Wolf, dessen Fell aus scharfkantigen, leuchtend grünen Kristallsplittern bestand, die bei jeder Bewegung leise gegeneinander klirrten. Das Tier bewegte sich geschmeidig wie ein echter Wolf, doch sein Blick wirkte fremd, fast wie das ruhige, uralte Auge eines Wesens aus einer anderen Zeit.
„Hey Mattash, da bist du ja endlich“, rief er mit rauer Stimme und einem Anflug von Humor. Mattash sah ihn an, nickte knapp und wandte sich dann an die Gruppe: „Folgt mir.“
Sie folgten ihm in dichtem Schweigen weiter hinunter ins Tal. Der Weg wurde enger, die Terrassen wichen Felsvorsprüngen und schließlich öffnete sich vor ihnen ein breiter Stolleneingang. Die Mauern ringsum waren von unzähligen Kristalladern durchzogen, die im schwachen Licht wie eingefrorene Blitze leuchteten. Massive Holzabstützungen hielten das gewaltige Gewölbe, als hätten Generationen von Arbeitern mühsam einen Weg ins Herz des Berges geschlagen.
Mattash zog kurz die Zügel seines Wolfs an und deutete mit seiner breiten Hand, die mit Rillen und kleinen Kristallbrocken durchsetzt war, auf den Eingang. „Wir sind auf diesen Kristall angewiesen. Er ist unsere Energiequelle, aber noch mehr: Er ist Teil von uns, die Quelle unserer Lebensart.“ Seine Stimme klang ruhig und fast ehrfürchtig, als spräche er von einem heiligen Ort.
Er zeigte auf den Wolf, auf dem er ritt. „Das ist Garro. Wir sind unser Leben lang verbunden.“ Nathaniel betrachtete die beiden eingehender.
Neugierig trat Nathaniel an eine Wand des Schachts heran und aktivierte sein Synect. Das holographische Interface flackerte kurz auf, während Daten über die Kristalle erschienen. „Lumpanid“, las er leise vor.
Dann hob er den Blick und fragte leise, aber direkt: „Die Shenth sehen euch als Experiment, oder?“
Mattash sah ihn einen Moment lang an, als wolle er prüfen, wie ernst die Frage gemeint war. Schließlich nickte er. „Ja, das ist uns bewusst. Wir leben nun schon in der dritten Generation so. Wir haben gelernt, damit umzugehen.“ Seine Stimme klang weder bitter noch klagend, sondern eher wie die eines Menschen, der längst akzeptiert hat, wer oder was er ist.
„Wenn das hier vorbei ist, würde ich mich freuen, wenn uns jemand auf Terra das Lumpanid erklären könnte. Die ersten unter uns hatten größte Schwierigkeiten, es zu kontrollieren. Manche wurden davon fast verzehrt“, kommentierte Nathaniel.
„Ja, wir haben auch viel getan, um dorthin zu kommen“, sagte Mattash nachdenklich.
Sie gingen eine ganze Weile, doch Nathaniel konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Hier unten, fernab von Sonne und Mond, lösten sich in der gleichförmigen Dunkelheit und dem stetigen Klang ihrer Schritte auf dem kristallübersäten Boden jedes Gefühl für Stunden und Minuten auf. Der Weg durch die Mine schien endlos, die Luft roch nach feinem Staub und einem Hauch von Metall und das leise Knistern der Kristalle, die auf jede Bewegung mit einem kaum hörbaren Echo reagierten, verstärkte die Monotonie noch. Manchmal glaubte Nathaniel, winzige Lichtpunkte zwischen den Kristallen huschen zu sehen, als ob dort etwas Kleines und Lebendiges verborgen wäre. Doch jedes Mal, wenn er genauer hinschaute, sah er nur glatte, kalte Flächen. Er konnte nicht abschätzen, wie weit sie bereits gegangen waren oder wie tief sie inzwischen unter der Oberfläche lagen, nur dass der Druck in seinen Ohren leicht zunahm, als würden die Gänge sie immer tiefer ins Herz des Berges ziehen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bemerkte Nathaniel eine schwarze Wand zwischen den schimmernden Kristallen, die den Gang versperrte. Zunächst dachte er, es sei einfach nur ein besonders dunkler Stein. Doch je näher sie kamen, desto deutlicher konnte er erkennen, dass sich diese Wand bewegte – sanft, aber gleichmäßig wie der Brustkorb eines riesigen, schlafenden Wesens.
Kalyx, Xhi-Tun und Mattash waren schon ein paar Meter voraus, doch Nathaniel blieb stehen und starrte gebannt auf die unheimlich pulsierende Fläche. Sein Atem stockte. „Was ist das?“, fragte er, unfähig, den Blick abzuwenden.
„Das ist das Ilum“, erklärte Mattash mit ruhiger Stimme, ohne sich umzudrehen. „Es ist ein biologisches Raumschiff und zum Teil lebendig. Wir sind hier direkt am Rand.“
Nathaniel trat vorsichtig näher, streckte eine Hand aus und legte sie auf die warme, atmende Oberfläche. Die Wärme durchströmte ihn sofort, fast wie ein pochender Pulsschlag, der durch seine Finger bis in den Arm wanderte. Ein leises, vibrierendes Stöhnen zog durch den Gang und ließ ihm die Haare zu Berge stehen.
Plötzlich wurde die Stille durch ein klirrendes, schnelles Klackern zerrissen. Hunderte kleiner, spinnenartiger Wesen, Triklin, deren Panzer in der Dunkelheit schwach glänzten, strömten aus einem Seitengang. Sie kamen von der Oberfläche und krochen in geordneten Reihen an ihnen vorbei, ohne auch nur einen Blick auf Nathaniel und die anderen zu werfen. Ihre Bewegungen waren synchron, als wären sie von einem unsichtbaren Befehl gesteuert. Normalerweise hätte er erwartet, dass sie angreifen. Doch die Triklin ignorierten sie völlig, als wären sie Luft. Nathaniels Herz pochte heftig in seiner Brust, während er die wimmelnde Masse betrachtete.
„Was ist hier los?“, fragte Xhi-Tun atemlos, während sein Blick zugleich die Wand und die vorbeiziehenden Wesen musterte.
„Ich habe keine Ahnung“, murmelte Kalyx und legte die Stirn in Falten. „Aber wir sollten ihnen folgen. Vielleicht führt es uns zu einer Antwort.“
Ohne weiter zu zögern, reihten sie sich ein und ließen die lebendige Wand hinter sich. Der Gang vor ihnen wurde vom leisen, gleichmäßigen Klackern der Triklin erfüllt – ein gespenstischer Marsch, der sie tiefer in die Dunkelheit führte, in der sie nicht wussten, was sie erwartete. Und dennoch spürte Nathaniel, dass sie dem Kern eines Geheimnisses näherkamen, das größer war, als er es sich bisher vorstellen konnte.
Wie eine geordnete Kolonne liefen die Triklin neben ihnen her; das rhythmische Klacken ihrer Beinpaare erfüllte den Gang wie eine unheilvolle Melodie. Nathaniel konnte den Blick kaum von ihnen abwenden, von der Art, wie sie sich bewegten: gleichmäßig, zielstrebig, fast ehrfürchtig. Es wirkte, als wüssten sie ganz genau, wohin sie mussten, als folgten sie einem uralten Instinkt oder Befehl.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, flüsterte Xhi-Tun mit gedämpfter Stimme, während er die Kolonne beobachtete, die links und rechts an ihnen vorbeiströmte. Seine Augen funkelten vor Faszination, aber auch vor wachsender Unruhe.
„Nein, wirklich nicht“, bestätigte Kalyx, wobei sie die Stirn in tiefe Falten legte. Ihr Blick huschte immer wieder nach vorne, als erwarte sie dort eine Antwort auf dieses Rätsel.
Der Gang führte sie weiter und plötzlich öffnete sich der Raum zu einer riesigen Halle. Nathaniel blieb wie angewurzelt stehen, als er die Szenerie vor sich erfasste: Zwischen kristallglänzenden Wänden, in schwaches, pulsierendes Licht getaucht, schlängelte sich eine Gestalt, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Sie war wunderschön und furchteinflößend zugleich: eine Kreatur mit dem Oberkörper einer menschlichen Frau, feinen Gesichtszügen, schimmernden Schuppen auf den Armen und langen, dunklen Haaren, die wie ein Schleier über ihren Rücken fielen. Doch anstelle von Beinen ging ihr Leib in einen mehrere Meter langen Schlangenkörper über, der sich elegant und kraftvoll über den Boden wand. Um sie herum lagen unzählige glänzende Eier, kaum größer als eine Faust, und eine Vielzahl kleiner Triklinen, die sie wie treue Wächter umringten.
Nathaniel spürte, wie sein Atem schneller ging. Ein Schauer lief ihm über den Rücken – nicht nur wegen der Fremdartigkeit dieser Kreatur, sondern auch wegen der seltsamen Ruhe, die sie ausstrahlte. In ihren Augen lag etwas Altes, Wissendes, das ihn gleichzeitig anzog und beunruhigte.
„Das ist eine Agon“, sagte Mattash mit gedämpfter Stimme. Seine Worte hallten leise in der großen Halle nach.
Nathaniel riss den Blick nicht von der Gestalt los, während er nach Worten suchte. „Was zum Teufel ist eine Agon?“, brachte er schließlich hervor. Seine Stimme klang heiser, beinah brüchig.
„Eine Brutmutter“, erklärte Mattash leise, als wollte er sie selbst nicht stören. „Sie ist der Ursprung eines ganzen Schwarms.“
Nathaniel sog scharf die Luft ein. Der Gedanke, dass all diese Triklin um sie herum aus ihr hervorgegangen waren, verlieh dem Moment eine noch größere Wucht. Er konnte nicht sagen, ob er Angst, Respekt oder etwas dazwischen empfand. Vielleicht war es genau diese Mischung, die ihn so bewegte.
Fasziniert beobachtete er, wie die Agon ihren mächtigen Schwanz langsam um ein Nest aus Eiern legte, fast zärtlich, als wolle sie es beschützen. Die Luft in der Halle war erfüllt von einer seltsamen Wärme und dem leisen Knistern der Kristalle, als atme ein gewaltiger, lebendiger Organismus.
Einen Augenblick lang dachte Nathaniel darüber nach, wie winzig und unbedeutend sie vor dieser Kreatur wirkten, die so alt und mächtig schien, dass selbst die Zeit keine Rolle mehr zu spielen schien. Und trotzdem folgten sie weiter tiefer in ein Mysterium, dessen Ausmaß er erst langsam zu begreifen begann.
„Besucher“, sagte die Agon mit einer Stimme, die gleichzeitig sanft und schneidend klang wie kalter Stahl. „Interessant.“
Noch ehe Nathaniel reagieren konnte, schnellte ihr Oberkörper nach vorne – eine fließende, fast unnatürlich schnelle Bewegung. Plötzlich war sie mitten unter ihnen. Ihr langer Schlangenleib spannte sich hinter ihr wie ein Muskel, bereit zuzuschlagen. Nathaniel spürte, wie ihm der Atem stockte. Die Schuppen der Agon glänzten im pulsierenden Licht der Kristalle und ihr Blick bohrte sich durch ihn hindurch, als könne sie direkt in seine Gedanken sehen.
„Ihr gehört hier nicht hin“, zischte sie. Jede Silbe triefte vor Abscheu.
Bevor jemand auch nur ein Wort erwidern konnte, begann der Boden unter ihren Füßen zu beben. Erst ein leichtes Zittern, dann ein wachsendes Grollen, das durch die Wände der Halle lief wie der Herzschlag eines riesigen, wütenden Wesens. Nathaniel stolperte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während lose Kristallstücke von der Decke rieselten.
Ringsum formierten sich die Triklin mit rasender Geschwindigkeit. Sie bildeten einen dichten Kreis um die Gruppe, ihre Beinpaare klackerten unheilvoll im Gleichklang. Nathaniel wich zurück. Sein Blick haftete an den kleinen Kreaturen, die plötzlich noch unheimlicher wirkten. Selbst die Eier, die eben noch reglos dalagen, begannen zu bersten. Zarter Schleim floss über den Boden, aus dem neue, kleine Triklin krochen. Das leise Knacken der Eierschalen vermischte sich mit dem Grollen des Bebens und ergab ein grauenhaftes Konzert, das Nathaniels Magen zusammenkrampfen ließ.
Es roch nach feuchtem Stein, altem Staub und dem metallischen Duft des Schleims, der sich wie ein schmutziger Film über ihre Stiefel zog. Nathaniel kämpfte gegen den Drang an, sich einfach umzudrehen und wegzurennen, doch er konnte den Blick nicht von der Agonie abwenden. Ihr Ausdruck hatte sich verändert. Wo vorher Neugier gewesen war, lagen jetzt nur noch Kälte und Zorn.
Dann bebte der Boden ein letztes Mal, diesmal heftiger, als würde etwas Gewaltiges durch die Gänge brechen. Aus einem dunklen Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite traten zwei riesige Gestalten ins Licht: Golems, meterhoch, aus schwarzem Gestein und schimmernden Kristallen gebaut. Ihre Bewegungen waren langsam, aber unaufhaltsam. Jeder ihrer Schritte ließ den Boden beben.
„Tötet sie!”, fauchte die Agon und ihre Stimme hallte bedrohlich in der Halle wider. Im nächsten Augenblick glitt sie zurück und wand sich geschmeidig in eine der hinteren Ecken, als wolle sie nicht zusehen, was jetzt kommen würde.
Nathaniels Herz schlug wie wild. Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss, während er die Golems anstarrte, die sich wie lebendige Festungen näherten. Um sie herum krochen unzählige Triklin, bereit anzugreifen. Für einen Moment wurde Nathaniel schmerzlich bewusst, wie aussichtslos diese Situation war und dass sie vielleicht nicht lebend aus dieser Sache herauskommen würden. Doch dann spannte er die Muskeln an und hob den Blick. Flucht war keine Option. Sie mussten kämpfen.
Atlon zögerte keine Sekunde: Mit einem Aufblitzen sprang er nach vorne und feuerte einen gleißenden Lichtstrahl direkt auf den ersten Golem ab. Die geballte Energie prallte gegen das schwarze Gestein, ließ Kristallsplitter abspringen und tauchte die Halle in flirrendes Licht. Die Luft vibrierte, während der Golem kurz ins Wanken geriet, aber unaufhaltsam weiter auf sie zukam.
Kalyx nutzte den Moment und portete sich mit flüssiger Eleganz um den zweiten Golem herum. Immer wieder flammten kleine Portale in der Luft auf und jedes Mal, wenn er aus einem hervorschoß, feuerte er mehrere Salven mit seiner Energiewaffe ab. Die Projektile trafen den Golem und rissen kleine Stücke aus dem Stein. Doch das Monstrum schlug schwerfällig nach ihm und jeder Hieb ließ den Boden erbeben.
Mattash kniete derweil am Rand der Halle und wühlte hektisch in seinem alten, verbeulten Rucksack, dessen Riemen fast zu reißen drohten. Neben ihm stand Xhi-Tun, dessen wacher Blick ständig zwischen Mattash und dem tobenden Kampf hin und her huschte; seine Muskeln waren zum Sprung gespannt.
Nathaniel spürte, wie ihm das Blut in den Ohren rauschte, während er einen Moment wie erstarrt dastand. „Was tut ihr?“, rief er schließlich, seine Stimme überschlug sich beinahe im Lärm des Kampfes.
Mattash blickte nur kurz auf. Schweiß rann ihm über die Stirn. „Atlon, wir sprengen die Arena.“
Nathaniel schluckte, doch dann nickte er. Ein wildes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, in dem trotz der Angst ein Funke Trotz brannte. „Okay, logisch wird bombig!“ Er brüllte den Satz heraus, als wollte er sich selbst Mut zusprechen, dann riss er sich los. Mit einem gewaltigen Schub katapultierte er sich wieder nach vorne, mitten ins Chaos aus Staub, Trümmern und bebendem Boden.
In diesem Moment reichte Mattash Xhi-Tun eine unförmige, metallene Bombe, an deren Seite schwache Lichter blinkten. Xhi-Tun packte sie fest, drehte sich um und raste los, so schnell, dass er im nächsten Augenblick nur noch ein Schemen war. Er duckte sich zwischen Triklin hindurch, sprang über aufplatzende Eierschalen und rannte direkt auf die weiter hinten wütend aufbäumende Agon zu.
Atlon hingegen hatte weniger Glück: Der erste Golem erwischte ihn mit einem gewaltigen Schlag, als wäre er nicht mehr als ein Spielball. Er schleuderte Nathaniel wie einen zerbrechlichen Stofffetzen durch die Luft und krachte gegen die Halle. Stein splitterte um ihn herum.
Doch Mattash nutzte genau diesen Augenblick. Er ritt auf Garro, dessen massive Krallen und Zähne Funken aus dem Gestein schlugen, direkt auf den zweiten Golem zu. Am höchsten Punkt des Sprungs ließ Mattash sich fallen. Eine hell leuchtende, scharf wie reines Licht erscheinende Energieklinge formte sich in seinen Händen. Mit aller Kraft schlug er zu. Der Hieb krachte gegen den Golem, riss ihm einen ganzen Arm ab, der scheppernd auf den Boden fiel und Splitter durch die Halle regnen ließ.
Garro packte sofort den verbliebenen Arm des Golems, seine mächtigen Kiefer bissen hinein und rissen Stein und Kristall heraus. Nathaniel spürte, wie sein Herz vor Schmerz und Furcht raste – nicht nur wegen der Gefahr, sondern weil jeder Schlag, jeder Biss wie ein Tanz auf Messers Schneide wirkte.
Zwischen dem Staub, dem Zucken des Triklins und dem Knirschen der Golems spürte Nathaniel plötzlich, wie real alles war: der Geruch von brennendem Stein, der metallische Geschmack von Angst auf seiner Zunge, das Dröhnen in seiner Brust, das wie Trommeln vor einer Schlacht klang. Und trotz allem stürzte er sich erneut nach vorne, denn Aufgeben war längst keine Option mehr.
Xhi-Tun stand nun direkt vor der Brutmutter. Ihr Blick war voll tödlicher Wut, während sich ihr massiger Schlangenleib in der Mitte der Halle wand und das andere Ende in einem dunklen Loch im Boden verschwand. Für einen Augenblick, der sich unendlich lang anfühlte, starrten sie einander an, als würde die Zeit selbst den Atem anhalten. Dann aktivierte Xhi-Tun mit zitternden Fingern die Bombe.
Ein schrilles Piepen begann. „Neun!“ leuchtete es auf dem kleinen, flackernden Display auf. Ohne zu zögern riss sich Xhi-Tun los, sprang zur Seite und begann, im Kreis um die Agon herumzulaufen. Mit jedem Schritt zerplatzten Triklin an seinen Beinen, scharfe Klauen rissen seine Kleidung auf, während er sich den Weg freikämpfte.
„Wer zum Teufel bist du?!“, brüllte die Agon. Ihre Stimme bebte vor Hass und Verzweiflung, während sich ihr Leib wie eine Flutwelle aus Schuppen und Muskeln wand.
„Sechs!“ blinkte es auf, das Piepen wurde schneller und drängender. Schweiß brannte in seinen Augen, doch Xhi-Tun zwang sich zu einer weiteren Runde. Nathaniel tauchte in seinem Blickfeld auf, taumelnd zwischen den Trümmern. Sein Gesicht war gezeichnet von Staub und Angst, doch er wirkte entschlossen.
„Zwei!“ Noch ein letzter Blick zurück. Die Bombe vibrierte bedrohlich in seiner Hand. Er presste die Lippen zusammen, rannte zum Loch, aus dem der gigantische Schlangenleib ragte, und legte die Bombe behutsam, ja geradezu ehrfürchtig davor ab.
„Ich bin Amberlight!“, schrie er mit bebender Stimme, während seine Brust wie ein Schmiedehammer hämmerte.
„Eins!“
Xhi-Tun warf sich im letzten Moment zur Seite, rollte sich ab und landete schwer atmend neben Nathaniel. Er sah in dessen weit aufgerissene Augen und hörte für den Bruchteil einer Sekunde nur ihren beider Herzschlag; alles andere war wie ausgeblendet.
„Boom“, keuchte Xhi-Tun kaum hörbar, fast wie ein Gebet.
Die Explosion riss die Welt auseinander. Ein greller Lichtblitz erhellte alles, gefolgt von einer Druckwelle, die sie beide zu Boden warf. Hitze brannte auf der Haut, Staub und Blut regneten durch die Halle. Nathaniel hielt instinktiv die Arme vor sein Gesicht, während sich der markerschütternde Knall in seinem Schädel festfraß.
Als der Rauch sich legte, blieb ein grauenhaftes Bild zurück: Der Körper der Agon war an mehreren Stellen zerfetzt, ihr menschlicher Oberkörper hing schlaff über den zerborstenen Eiern, aus denen dampfender Schleim sickerte. Teile ihres Schlangenleibes zuckten noch kurz, bevor sie reglos liegen blieben.
Xhi-Tun keuchte schwer, seine Hände bebten. Nathaniel drehte sich zu ihm um. Ihr Blick traf sich voller Erschöpfung, Schock und einem unausgesprochenen, stummen Triumph. Sie hatten es geschafft. Doch der Preis dafür war in den Schatten der Halle noch immer spürbar.
Einer der Golems setzte sich in Bewegung und stapfte bedrohlich auf Nathaniel zu. Er lag noch immer am Boden, seine Muskeln waren wie gelähmt von den brennenden Schmerzen, die durch seinen ganzen Körper jagten. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würden seine Rippen bersten.
Der Golem kam immer näher. Seine gewaltigen Füße ließen den Boden erzittern, während Nathaniel sich mühsam auf die Ellbogen stützte. Er spürte, wie sein Herz raste und sein Kopf dröhnte, als wollte er bersten. Kurz flammte Panik in ihm auf, doch er bekämpfte sie.
Direkt vor ihm blieb der Golem stehen und warf einen massiven Schatten auf Nathaniel. Für einen endlos scheinenden Moment sah er in die leeren, leuchtenden Augen des Kolosses. Dann spannte sich der muskelbepackte Arm des Golems, er holte aus, bereit, Nathaniel mit einem einzigen Schlag zu zerschmettern.
Mit einem Aufbäumen seines Willens aktivierte Nathaniel seine Kräfte. Helles, blendendes Licht flammte an seinen Händen auf und formte sich zu einem schimmernden Schild aus purer Energie. Zitternd hob er die Hände, das Licht pulsierte im Takt seines rasenden Herzschlags. Die Faust des Golems schoss heran – ein gewaltiger Block aus Fleisch und violett schimmerndem Erz. Nathaniel spürte die Wucht in jeder Faser seines Körpers, obwohl der Schlag ihn noch nicht einmal getroffen hatte.
Doch in diesem entscheidenden Augenblick blitzte ein Riss in der Luft auf. Ein von Kalyx geschaffenes Portal riss sich mitten in der Flugbahn der Faust auf. Der Schlag verschwand in dem dunklen Strudel, als würde die Realität ihn selbst verschlucken.
Ein hässliches, dumpfes Krachen ertönte. Sekunden später stürzte der gewaltige Kopf des Golems, vom Rumpf getrennt, zu Boden, gefolgt vom abgetrennten Armstumpf. Violettes Blut quoll aus den klaffenden Wunden und tropfte auf den staubigen Boden.
Nathaniel sog bebend die Luft ein, während der Golem vornüberkippte und reglos liegen blieb. Für einen Herzschlag herrschte gespenstische Stille. Dann hob Nathaniel langsam den Blick zu Kalyx, der wenige Meter entfernt stand, den Arm noch ausgestreckt, die Augen kühl und konzentriert.
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