Kapitel 69 - Strippenzieher

Startseite                                                                                                                             Kapitelübersicht


In der kleinen Couch-Ecke des Lofts, in dem Sabine wohnte, flackerte das Licht der künstlichen Kerzen und malte sanfte Schatten an die Wände. Samuel und Sabine lagen seit Stunden eng umschlungen in einer Ecke der Couch. Ihre Beine verflochten sich immer wieder, während sie redeten, lachten und manchmal einfach schwiegen und den Moment genossen.

Es war der Abschluss eines Abends, den Sabine mit Liebe gestaltet hatte. Zunächst hatte sie für die beiden gekocht: eine dampfende Kartoffelsuppe, die nach frischen Kräutern roch, einen würzigen Braten auf Erbsenbasis, buntes Ofengemüse, das im Mund zerfiel, und knusprige Reiscracker. Zum Dessert gab es eine rote Grütze mit Vanillepudding, deren Süße Samuel noch immer in Erinnerung hatte. Es war alles so unfassbar lecker, dass es ihn fast rührte. Zehn Jahre lang, während seiner Zeit bei Terra, hatte Essen für ihn nur die Funktion gehabt, den Körper am Laufen zu halten. Kalorien, Nährstoffe, mehr nicht. Erst die letzten sechs Monate in Saint Veronika hatten ihm wieder gezeigt, wie man genießt. Auswärts essen, neue Geschmäcker entdecken, sich Zeit lassen.

Sabine roch noch immer zart nach dem Essen und einem leichten, blumigen Parfüm, das sich in der Wärme ihres Körpers entfaltete. Er spürte ihr ruhiges Atmen an seiner Brust und strich mit den Fingern über ihren Rücken, langsam und gedankenverloren.

Plötzlich hob sie den Kopf. Ihre Stimme klang ernst, fast ein wenig zögerlich: „Wie fühlst du dich?“

Er öffnete die Augen und sah sie an. „Was meinst du?“, fragte er, während er leicht an ihrem Nacken roch und die Haut dort sanft mit den Lippen liebkoste.

„Dass du deine Aufgaben bei Pretorius Tech aufgegeben hast.“

Sein Atem stockte für einen Moment, die Berührung wurde kürzer. „Du willst die Stimmung aktiv verschlechtern, oder?“, sagte er mit gespielter Empörung. „So ein Themenwechsel! Nach dem guten Essen, dem Wein, den Kerzen, und du fragst nach der Arbeit.“

Sie kicherte fast scheu, während er übertrieben die Augen verdrehte. Dann wurde er wieder ernst: „Aber ehrlich? Ich fühle mich befreit. Kein Händeschütteln mit Politikern, keine Grabenkämpfe mit anderen CEOs. Stattdessen habe ich meine Werkstatt. Meine eigenen Projekte. Einfach forschen, für mich.“


Sabine setzte sich langsam auf und kniete nun vor ihm auf der Couch. Ihr Haar fiel ihr ins Gesicht, während sie leicht wippte, als sei sie von einer unsichtbaren Musik getragen. Ihre Augen ruhten warm auf ihm und leuchteten im Schein der flackernden Kerzen. „Das ist schön, wirklich.“ Ihre Stimme klang weich, beinah bewundernd. Dann verzog sich ihr Mund zu einem leisen, verschmitzten Lächeln. „Und scheiß auf die Stimmung. Ich bekomme immer, was ich will.“

Ohne ihm Zeit zu geben, etwas zu erwidern, kletterte sie langsam über ihn und ließ sich auf seinen Schoß sinken. Er spürte ihr Gewicht, ihre Wärme und ihr pochendes Herz, das sich durch den dünnen Stoff ihres Shirts an seine Brust drückte. Samuel wollte etwas sagen, doch sie schüttelte stumm, aber bestimmt den Kopf.

Dann beugte sie sich vor und ihre Lippen fanden seine. Erst vorsichtig und suchend, dann immer intensiver. Ihr warmer Atem vermischte sich mit seinem und ließ seine Atmung unruhig werden. Er spürte, wie ihr Kuss ihn wie eine Welle erfasste, eine Mischung aus Hunger und Zärtlichkeit, als wolle sie ihn nicht nur küssen, sondern ganz in sich aufnehmen.

Ihre Hände glitten langsam über seinen Nacken, strichen durch sein Haar und hielten ihn fest, als wolle sie verhindern, dass er sich je wieder von ihr entfernte. Samuel schloss die Augen, ließ los und fiel ihr in die Arme. Seine Hände ruhten zunächst an ihrer Taille und zogen sie dann näher an sich, bis kein Raum mehr zwischen ihren Körpern blieb.

Sabines Küsse wanderten vom Mund über seinen Kiefer zu seinem Hals. Ihre Lippen hinterließen eine zarte, feuchte Spur auf seiner Haut. Bei jeder Bewegung spürte er die leichte Anspannung in ihren Muskeln, die Hitze ihres Körpers und das Heben und Senken ihres Atems. Seine Hände fanden ihren Rücken, strichen dort auf und ab, zeichneten die Linien ihrer Schulterblätter nach und spürten die feine Wärme ihrer Haut, die sie durch den Stoff hindurch wahrnahmen. Als sie kurz innehielt und ihn ansah, war ihr Blick zugleich weich und fordernd. Ein stummes Verlangen, das in der Dunkelheit zwischen ihnen aufloderte. Samuel hob die Hand, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte sie an ihre Wange. Für einen Moment ruhten sie einfach so da, blickten einander an und atmeten denselben Atem.

Dann zog Sabine ihn wieder an sich heran. Ihre Lippen trafen sich erneut, noch inniger, während das Kerzenlicht um sie herum flackerte und die Schatten an den Wänden lebendig tanzen ließ. Alles andere, der Raum, die Stadt draußen, war verschwunden, bis nur noch sie beide blieben.


Stunden später saß Samuel entspannt in einem tiefen Sessel, der direkt vor dem breiten Bett von Sabine stand. Er trug nichts am Körper, denn die milde Wärme des Sommerabends reichte vollkommen aus, um ihn nicht frieren zu lassen. Ein leichter Luftzug spielte mit den Gardinen und trug den Duft von Kerzenwachs und Sabines Parfüm durch das Zimmer.

In Gedanken sah er immer noch die Silhouetten ihrer beiden verschwitzten und schwer atmenden Körper, die in der Dunkelheit ineinander verschmolzen waren. Sie hatten jede Falte der Matratze, jede Ecke des Bettes genutzt, getrieben von Lust, Zärtlichkeit und dem Drang, sich ganz nah zu sein. Ein leises Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Der Moment klang noch in ihm nach, wie ein ferner, warmer Nachhall. Er sah Sabine an, wie sie ausgestreckt auf den Laken lag, das Haar zerzaust, die Lippen leicht geöffnet, friedlich atmend.

Seine Gedanken drifteten ab. Für einen Augenblick ließ er die Welt draußen ganz verschwinden. Er spürte die angenehme Schwere in seinen Gliedern und das Pochen seines Herzens, das langsam zur Ruhe kam. Doch der Frieden hielt nicht lange. Plötzlich vibrierte etwas in seinem Kopf, wie ein feines Ziehen hinter der Stirn. Sein Synect meldete sich.

Vor seinem inneren Auge leuchtete ein Name auf: Tavin.

„Samuel, ich wollte nicht stören. Elizabeth Thorne und ihre Familie wurden umgebracht. Die Polizei weiß noch nichts davon.“

Der Satz schnitt durch die Stille des Zimmers wie ein kaltes Messer. Samuel blinzelte, richtete sich langsam auf und spürte, wie sein Körper sich gegen die Müdigkeit stemmte. „Wieso weißt du dann Bescheid?“, fragte er, während er bereits nach seiner Kleidung griff.

„Section Shield hat ein Drohnen-Netzwerk mit Kameras“, antwortete Tavin ruhig, beinahe geschäftsmäßig. „Ich habe mich reingehackt, damit ich dich und Theresa rausschreiben konnte.“

Samuel zog sich Stück für Stück an: die Hose, das leichte Hemd, das er offenließ, während der warme Wind seinen verschwitzten Oberkörper kühlte. Für einen Moment blieb er stehen und sah Sabine an. Sie lag da wie in einem Gemälde, ihre Haut schimmerte im Schein der letzten Kerzen, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Ein Anblick, den er am liebsten noch länger genossen hätte.

Doch er wusste, dass dieser Moment vorbei war. Mit einem leisen Seufzer wandte er sich ab und griff nach seiner Jacke. „Okay, ich bin unterwegs“, sagte er schließlich mit etwas härterer Stimme als zuvor.



Leise verließ Samuel die Wohnung und trat hinaus in die warme Sommernacht. Er ließ nicht nur Sabine und das schwere, atmende Schweigen des Schlafzimmers hinter sich, sondern auch den flüchtigen Frieden, der für ein paar Stunden so echt gewirkt hatte. Draußen warteten Fragen, Gefahr – und vielleicht Antworten, die er nicht hören wollte.

Nitechore stand reglos im schwach beleuchteten Garten von Elizabeth Thorne. Der Rasen war noch feucht vom Sprinkler, der kurz zuvor gelaufen war, und der süßliche Geruch von nassem Gras hing in der Nachtluft. Mit routinierter Präzision löste er zwei kompakte Drohnen von der Halterung an seinen Schulterblättern. Ihre metallischen Oberflächen reflektierten schwach das Mondlicht, während sie in seinen Händen summend erwachten.

Ohne ein Wort schickte er die beiden schlanken, roten Drohnen los. Sie flogen lautlos und glitten durch das zerborstene Fenster direkt ins Haus. Jeder ihrer Sensoren war aktiv, jede Linse wachsam. Nitechore blieb draußen zurück, die Augen halb geschlossen, während er die Datenströme in seinem Synect spürte, als würden sie ihm direkt ins Ohr flüstern.

Der Tatort war ein Bild des Grauens: Elizabeth Thorne, ihr Mann und ihr viel zu junges Kind lagen leblos um den zerstörten Wohnzimmertisch. Das Blut war in dunklen Schlieren über Parkett und Teppich verteilt. Ein Anblick, der selbst einen wie Nitechore kurz stocken ließ. Die Drohnen scannten Schicht für Schicht und speicherten jedes Detail in Form von hochauflösenden Bildern und Tiefenscans.

Hinter den Leichen ragte ein ungewöhnlich großes, steinernes Wandbild hervor: eine riesige Spinne mit gespreizten Beinen, die einst unheilvoll und stolz an der Wand gehangen hatte. Doch jetzt war es von einer Explosion zerborsten, Risse zogen sich durch den Stein und Teile davon lagen am Boden verstreut. In der Bruchkante des Mosaiks glommen noch immer schwach Funken. Alles deutete darauf hin, dass eine Bombe direkt unter dem Tisch befestigt gewesen war. Die Zerstörung war gezielt und symbolträchtig.

Nitechore atmete einmal tief durch, während sein Blick zwischen den Drohnenbildern und dem dunklen Garten hin und her wanderte. In seinem Kopf formten sich Fragen: Wer hatte so etwas geplant? Und warum gerade diese Familie?

Gerade als er den nächsten Befehl an die Drohnen senden wollte, zuckten plötzlich Daten über sein Synect. Ein eingehender Anruf flammte wie ein scharfes Geräusch in seinem Bewusstsein auf.

Er erstarrte.

„Samuel Palmer, hast du mich nun auf deiner To-do-Liste erledigt?“, fauchte Sabine. Ihre Stimme bebte vor verletzter Wut.

Samuel brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. Sein Kopf hing noch halb am Tatort; die Bilder der toten Familie und des zerborstenen Spinnenmosaiks brannten sich in seine Gedanken ein. „Was meinst du?“, fragte er schließlich und richtete den Blick ins Leere.

„Du bist nach dieser Nacht einfach abgehauen!“, presste sie hervor. „Dann mach wenigstens drei Kreuze, damit du dem auch gerecht wirst.“

Für einen Augenblick huschte ein Grinsen über Samuels Gesicht, das er sofort wegzuwischen versuchte. „Ich musste ... ein bisschen an die frische Luft. Ich war sehr lange abstinent und musste das erst einmal verarbeiten.“ Seine Stimme klang brüchig, weil er gleichzeitig an der Realität und an den Bildern des Tatorts klebte.

Am anderen Ende der Leitung hörte er, wie Sabine tief durchatmete, als kämpfte sie gegen den Impuls, ihm noch mehr an den Kopf zu werfen. „Na gut, du Blödmann“, sagte sie schließlich etwas weicher, aber immer noch mit einem Unterton. „Hast du alles dabei? Ich muss zu einem Tatort. Elizabeth Thorne wurde getötet.“

Dieser Satz traf Samuel wie ein Schlag in die Magengrube. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg. „Wieso weiß die SVPD schon Bescheid?“, fragte er, bemüht, ruhig zu klingen, obwohl seine Gedanken in alle Richtungen rasteten.

„Noch da?“, fragte Sabine ungeduldig, als er nicht sofort antwortete.

„Ja …“, stammelte er. „Ich kannte sie. Das überrascht mich.“ Die Worte kamen stockend, denn er musste sich zusammenreißen, um nicht zu viel von dem zu verraten, was er schon wusste und nicht wissen dürfte.

„Ja, ist echt krass. Aber ich muss nun los“, sagte Sabine eilig, ihre Stimme wieder kühl und professionell.

„Okay“, murmelte Samuel, während in ihm das Chaos wuchs. Sabine legte auf und die Stille danach war drückend.

Er ging zu seinem Skidbike, dessen schwarze Karbonfläche matt im Licht der Straßenlaternen schimmerte. Einen Moment lang blieb er davor stehen, atmete tief ein und legte die Hand auf den Lenker.

Langsam, fast widerwillig, stieg er auf.


Vorheriges Kapitel                                                                                                             Nächstes Kapitel

Kommentare