Kapitel 68 - Schuldgefühle
Reglos stand Nyreth vor Nathaniel, das massive Schwert erhoben, bereit für den nächsten Angriff. Für ihre Größe wirkte sie fast unheimlich leichtfüßig. Jeder Muskel spannte sich unter ihrer dicken, schuppigen Haut, während sie Nathaniel mit den Augen eines Raubtiers fixierte, das seine Beute taxiert. Nathaniel spürte das Pochen seines Herzens bis in die Fingerspitzen, während er hastig Energie in seine Hände leitete. Ein feines, flirrendes Leuchten zuckte um seine Fingerknöchel und kroch wie lebendige Blitze über seine Unterarme. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, die Klinge gegen seine von Energie verstärkten Hände zu treffen. Ein metallisch scheppernder Klang gellte durch die Felder.
Nyreth wich ein kleines Stück zurück. Ein breites, fast respektvolles Grinsen verzerrte ihr Gesicht. „Atlon, das ist ja ganz nett“, zischte sie und neigte den Kopf leicht nach hinten. Einen Herzschlag später schnellte sie nach vorn und spuckte eine zähe, schleimige Masse, die in der Luft bedrohlich glitzerte.
Instinktiv riss Nathaniel die Hände hoch, und Energie flammte gleißend auf. Die Masse prallte zischend von der Barriere ab, tropfte jedoch an den Seiten vorbei und hinterließ Brandnarben auf seiner Rüstung, die unter dem Rauch aufplatzte. Der scharfe, beißende Geruch von Verbranntem stieg ihm in die Nase und trieb ihm Tränen in die Augen.
Ringsum tobte die Menge aus Retha, sie stampfte, gröhlte und schlug ihre Fäuste gegeneinander. Doch Nathaniel hatte kaum Zeit, daran zu denken. Nyreth hob erneut ihr Schwert, dieselbe Schwungbewegung. Diesmal hatte er sie längst durchschaut.
Er duckte sich zur Seite, spürte den Luftzug der gewaltigen Klinge an seinem Gesicht vorbeirauschen und nutzte die Bewegung, um mit seiner rechten, von Energie durchzogenen Faust zuzuschlagen. Seine Hand krachte gegen ihren gepanzerten Oberkörper, es war ein dumpfer Knall zu hören. Nyreth wurde mehrere Meter weit zurückgeschleudert, rutschte über den staubigen Boden und hinterließ eine tiefe Furche in dem trockenen Acker.
Einen Augenblick lang war es totenstill. Selbst die Retha hielten den Atem an, als könnten sie nicht fassen, dass der kleinere Kämpfer ihre Kriegerin so weit zurückgeschleudert hatte.
Doch Nyreth richtete sich wieder auf, spuckte Blut auf den Boden und ein kehliges, fast belustigtes Lachen vibrierte in ihrer Brust. Sie straffte die Schultern und ihre Muskeln spannten sich wie Seile aus Stahl. Mit funkelnden Augen ging sie wieder in Kampfstellung.
Der Tanz ging weiter. Immer wieder stürmte sie vor, immer wieder wich Nathaniel aus oder blockte. Er spürte, wie seine Arme unter der Wucht der Hiebe brannten und zitterten. Er spürte, wie ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief und wie ihn die Hitze seiner eigenen Energie von innen heraus fast kochte. Doch er blieb konzentriert und suchte in jeder Bewegung nach einer Lücke.
Nach und nach veränderte sich etwas. Die anfänglich hasserfüllten Rufe der Retha wandelten sich. Immer öfter hallte nach einem Treffer von Nathaniel auch Jubel auf, als wäre ihnen der Kampf selbst wichtiger als ein klarer Sieg ihrer Kriegerin. Sie brüllten bei jedem Schlag, egal wer traf, als wären sie Teil eines uralten Rituals, das nicht nur den Sieger, sondern die Stärke feierte.
Schließlich, nach endlosen Minuten, hob Nyreth plötzlich die Hand. Ihre Brust hob und senkte sich schwer, während Schweiß und Blut an ihr hinabströmten. „Genug!“, rief sie mit rauer Stimme, und sofort verstummten die Retha, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie ließ ihr Schwert sinken und neigte leicht den Kopf.
Nathaniel spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel und seine Knie weich wurden. Seine Hände glühten immer noch schwach vor Energie, doch er zwang sich, nicht nachzugeben. Er hielt Nyreth fest im Blick und spürte zugleich den Respekt, der plötzlich in der Luft lag, wie ein stilles Band zwischen zwei Kämpfern, die einander geprüft hatten. „Ich denke, das reicht“, sagte Nyreth schließlich. Ihre Stimme klang immer noch schwer atmend vom Kampf. Schweiß perlte über ihre Stirn, während sie das Schwert sinken ließ. Nathaniel nickte stumm. Er war immer noch wachsam, obwohl die Anspannung langsam von seinen Schultern glitt.
„Lass uns ein paar Meter gehen“, bat sie ihn mit rauer Stimme. Ohne ein weiteres Wort verließen sie die Arena und entfernten sich von den jubelnden und tuschelnden Retha. Ihre Schritte wirbelten Staub auf und für einen Augenblick war nur das gleichmäßige Schlagen ihrer Stiefel auf dem sandigen Boden und das Rauschen des Blutes in Nathaniels Ohren zu hören.
Nach einigen Schritten sprach Nyreth wieder. Ihre Stimme klang nachdenklich, beinah brüchig. „Wir werden bald zum Wachturm kommen. Ich weiß nicht, ob wir dort wirklich eine Chance haben. Aber du … du hast Willen. Und das ist das Essenzielle, Atlon.“ Ihre Augen wanderten kurz in die Ferne, als würde sie etwas längst Vergangenes sehen.
Nathaniel wollte gerade etwas sagen, doch Nyreth hob leicht die Hand, atmete einmal tief durch und fuhr dann fort: „Atlon, Kurze Frage.“ Sie zögerte, als koste es sie Überwindung. „Kommt Iris auch mit zum Wachturm?“
Überrascht runzelte Nathaniel die Stirn. „Ja, warum?“, fragte er vorsichtig und spürte ein leises Unbehagen in ihrer Stimme mitschwingen.
Nyreth schnaufte leise, als müsste sie Worte für etwas finden, das schwer auszusprechen war. „Wir alle … wir waren einmal Teil des Unio Mundorum. Iris … sie spielte damals eine große Rolle bei der Golden Esperance. Weißt du, sie hat Apex und Amet gefunden, als sie noch Kinder waren. Und sie hat dafür gekämpft, dass sie Teil unserer Einheit wurden.“
Einen Moment lang wirkte Nyreth abwesend, ihr Blick glitt über die weite, staubige Ebene. „Greengore, Prometheus und ich, wir waren zunächst skeptisch. Kinder in einem so gefährlichen Bund? Aber Iris hat uns überzeugt. Sie hatte dieses Feuer in den Augen. Und …“ Ihre Stimme senkte sich und wurde leiser. „Sie war anders, Atlon. Sie wirkte verstört, als hätte sie Dinge gesehen, die selbst für uns schwer zu ertragen gewesen wären. Es hat sie mitgenommen. Sie hat nie ganz darüber gesprochen.“
Nathaniel spürte, wie eine stille Schwere zwischen ihnen wuchs, wie ein unsichtbares Gewicht, das beide niederdrückte. Er sah zu Nyreth hinüber. Er wollte etwas sagen, ihr eine Frage stellen, doch ihre Miene war verschlossen, hart wie Stein. Es schien, als würde sie nicht mehr zulassen, dass diese Tür weiter geöffnet wurde.
Sie waren wieder unterwegs. Kalyx ging mit langen, schnellen Schritten voraus, während Nathaniel und Xhi-Tun langsamer folgten – beinahe, als wollten sie die Stille nach dem Kampf noch ein wenig auskosten. Der Weg war staubig und von zerborstenen Ruinen sowie überwachsenen Steinen gesäumt, die wie stumme Zeugen einer längst vergessenen Zeit wirkten.
Nathaniel ließ seinen Blick schweifen, als suche er etwas, das sich nicht greifen ließ. Dann brach er das Schweigen: „Das geht zu einfach. All das hier, nahezu kein Widerstand“, sagte er. Seine Stimme klang leiser und nachdenklicher, als er beabsichtigt hatte.
Xhi-Tun blieb kurz stehen, drehte den Kopf leicht, sodass das schwache Licht auf seine Schuppen fiel. „Das ist normal. Es war jedes Mal so. Apex will uns am Wachturm zerstören“, erklärte er ruhig. „Er hat Spaß daran.“ Ein bitteres Funkeln huschte durch seine Augen, das Nathaniel nicht entging.
Er schüttelte den Kopf, während sie weitergingen und Staub um seine Stiefel wirbelte. „Gut zu wissen …“ Er zögerte, dann wagte er eine weitere Frage, die ihm schon länger auf der Zunge brannte: „Eine Frage. Was ist mit Prometheus passiert?“
Xhi-Tun hob leicht die Schultern, als lastete auch in der Erinnerung an diesen Namen etwas Schweres. „Er war der Anführer von Golden Esperance“, begann er langsam. „Ein starker Mann, jemand, der uns zusammengehalten hat. Vor dem Wachturm haben die Shenth ihn zu einer Statue versteinert. Jetzt steht er dort, reglos, als Statue.“ Seine Stimme wurde leiser. „Er ist so etwas wie ein Wahrzeichen unseres Scheiterns.“
Nathaniel ließ die Worte sacken und spürte, wie sie in ihm nachhallten. Er stellte sich vor, wie dort eine steinerne Figur steht, nicht einfach ein Denkmal, sondern ein eingefrorener Moment des Untergangs. „All das ist vor unserer Zeit passiert“, fügte Xhi-Tun hinzu, als wolle er die Schwere ein wenig lindern.
„Das erklärt immer mehr, warum Iris so ist, wie sie ist“, murmelte Nathaniel. Er dachte an ihr stilles, oft abwesendes Gesicht und an diesen Blick, mit dem sie immer etwas sah, das niemand anderes sehen konnte. „Sie hat extrem viel gelitten.“
Xhi-Tun nickte nur. Sein Blick blieb auf dem Weg gerichtet, doch Nathaniel sah, wie kurz seine Kiefermuskeln zuckten – ein stummer Ausdruck von Mitgefühl oder Erinnerung. Für einen Moment gingen sie schweigend weiter, während der Wind leise durch zerfallene Mauern strich. Die Sonne stand tief und warf lange Schatten vor ihnen her. Jeder Schritt fühlte sich an, als führten sie näher an etwas heran, das größer war als sie selbst – an etwas, das schon viele vor ihnen gebrochen hatte.
Wenig später ließ Kalyx ein Zelt aus einem kleinen, unscheinbaren technischen Kasten aufbauen. Mit einem leisen Surren und Knacken wuchs es in die Höhe, während sich schwarze Paneele wie von selbst entfalteten und miteinander verbanden. Das Zelt wirkte beinahe wie ein kleiner Schutzbunker: Die Wände waren hart und glatt wie Glas, aber gleichzeitig matt wie polierter Stein – ein Material, das Nathaniel stark an Obsidian erinnerte, jedoch leichter und zugleich stabiler wirkte.
Fasziniert strich er mit den Fingern darüber. Die Wand fühlte sich kühl an, als trüge sie eine eigene, stille Energie in sich. „Unglaublich …“, murmelte er mehr zu sich selbst. Kalyx warf ihm ein knappes Lächeln zu, während sie gemeinsam die wenigen Habseligkeiten hineintrugen.
Als die Nacht endgültig über das Land fiel, entzündeten sie vor dem Zelt ein kleines Feuer. Die Flammen tanzten, warfen flackernde Schatten an die dunklen Zeltwände und ließen das Obsidianmaterial in rötlichem Schein schimmern. Die Luft war kühl und ein schwacher Wind trug den Geruch von trockenem Gras und Staub heran. Nathaniel lehnte sich zurück, blickte in die Glut und spürte, wie sich eine leise Ruhe in ihm ausbreitete.
Sie teilten ein einfaches Mahl: getrocknetes Fleisch, ein wenig Brot, das nach fremden Gewürzen schmeckte, und Wasser aus einer metallischen Feldflasche. Trotz der kargen Umgebung, der drohenden Gefahren und der ungewissen Zukunft konnte Nathaniel nicht leugnen, dass es ihm deutlich schlechter hätte ergehen können. Für einen Augenblick vergaß er sogar, wie weit er von allem entfernt war, was er einst Heimat genannt hatte.
Das Knistern des Feuers füllte die Pausen zwischen den wenigen Worten, während über ihnen ein klarer Sternenhimmel gespannt war, so weit und fremd wie die Welt, in der er nun lebte. Nathaniel atmete tief ein und spürte, wie ihn diese Stille zugleich beunruhigte und beruhigte, als wäre sie der Vorbote von etwas Großem, das noch kommen würde.
Es war Nacht, und Nathaniel konnte nicht schlafen. Rastlos drehte er sich auf der harten Liege hin und her, bis er schließlich leise das Zelt verließ. Draußen umfing ihn die kalte, klare Luft, die sich wie tausend winzige Nadeln auf seiner Haut anfühlte. Er atmete tief ein und spürte, wie der kühle Wind durch seine Haare strich. Über ihm spannte sich ein schier endloser Himmel, übersät mit funkelnden Sternen, die fremd und doch vertraut wirkten. Für einen Moment fühlte sich alles beängstigend echt an, als wäre er plötzlich wacher als je zuvor.
Plötzlich durchbrach eine hallende Stimme die Stille der Nacht: „Atlon!“
Nathaniel fuhr zusammen, sein Herz schlug heftig. Er drehte sich ruckartig um und sah eine Gestalt, die so hell strahlte, dass er unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Das Licht schmerzte beinahe, brannte sich in seine Netzhaut und ließ Konturen verschwimmen.
„Träume ich?“, fragte Nathaniel mit belegter Stimme. Er fühlte, wie seine Knie weich wurden. Doch die Lichtgestalt schwieg, unbewegt und fast unnahbar.
„Wieso besuchst du mich? Willst du mir etwas antun? Willst du mir helfen?“ Nathaniels Stimme klang unsicher und schwankte zwischen Angst und Trotz. Wieder erhielt er keine Antwort, nur das unablässige, stechende Leuchten.
Er wollte gerade erneut sprechen, als die Gestalt schließlich doch die Stille zerschnitt: „Ich will schauen, ob du fähig bist.“ Die Worte hallten nach, als kämen sie von sehr weit her, durch Mauern aus Zeit und Raum.
„Und was heißt das? Wozu fähig?“, fragte Nathaniel, seine Stimme nun etwas fester. Doch seine Hände zitterten leicht.
„Für das, was kommt“, sagte die Lichtgestalt leise, aber mit einer Schwere, die Nathaniel bis ins Mark drang. Ehe er reagieren konnte, verschwand sie. Das Licht zerfiel lautlos in der Dunkelheit, als wäre es nie dagewesen.
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