Kapitel 66 - Unio Mundorum

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Die künstliche Sonne brannte hell über dem weitläufigen, offenen Feld, während Kalyx, Xhi-Tun und Nathaniel nebeneinander ihren Weg suchten. In der flirrenden Hitze wirkte der Horizont wie eine flüssige Linie, die sich in der Ferne verlor. Lange hatten sie geschwiegen, jeder in Gedanken versunken, bis Nathaniel schließlich die Stille zerschnitt.

„Wieso seid ihr überhaupt mitgekommen?“, fragte er und wandte seinen Blick von der flimmernden Ebene zu seinen Begleitern.

Xhi-Tun zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Ich war mein Leben lang im Ilum gefangen“, sagte er nach kurzem Zögern. Seine Stimme klang ruhig, beinah jugendlich unbekümmert. „Du willst etwas daran ändern. Und ich … ich will sehen, ob es möglich ist.“

Nathaniel nickte langsam, während er über den steinigen Boden stapfte. „Ich weiß selbst nicht, ob ich es schaffen kann“, gab er leise zu. „Aber ich will mich nicht einfach damit abfinden. Irgendetwas muss man doch tun ...“

„Der Wille ist ausschlaggebend, Atlon“, meinte Kalyx mit seiner gewohnt kühlen, aber eindringlichen Stimme. Er blieb kurz stehen, als müsse er das nächste Wort sorgsam wählen. „Die Hoffnung ist längst erloschen. Stattdessen blieb nur die uneingeschränkte Akzeptanz. Wir alle kannten nur Geschichten von jenen, die aufbegehrten … und am Ende scheiterten.“

Nathaniel nickte langsam, während er versuchte, die vielen neuen Begriffe einzuordnen. „Okay … ich lerne wohl noch. Und wohin genau gehen wir jetzt? Was hat es mit diesen zwei Dörfern auf sich, die ich überzeugen soll?“

Kalyx hob die Hand und deutete in die Ferne. „Zunächst nach Alltaal. Sie liegt an einer alten Kristallmine. Die Materialien von dort sind für alle in Ilum überlebenswichtig. Die Stadt ist klein, aber von großer Bedeutung.“

Nathaniel runzelte die Stirn. „Und das zweite Dorf?“

„Retha“, antwortete Kalyx mit einem kurzen Blick über die Schulter. „Ein barbarisches Volk. Sie ziehen rastlos über die weiten Felder und folgen alten Pfaden.“

Nathaniel sah sich um. Seine Augen suchten in der flirrenden Hitze nach Bewegung. „Deshalb gehen wir also diesen Weg“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Wir suchen Retha nicht … wir warten darauf, dass sie uns finden, oder?“

Kalyx nickte langsam, beinahe anerkennend. „Genau so ist es, Atlon. Retha sucht jene, die ungeschützt durchs Land ziehen.“

Ein Windstoß wehte über das Feld, wirbelte Staub auf und brachte den Geruch von heißem Stein mit sich. Für einen Moment war nichts zu hören außer dem gleichmäßigen Tritt ihrer Schritte auf dem trockenen Boden und dem fernen Summen der künstlichen Sonne über ihnen.

„Wieso ist Greengore eigentlich so zurückhaltend?“, fragte Nathaniel nach kurzem Zögern. Seine Stimme klang leise und unsicher, als hätte er Angst, eine Grenze zu überschreiten.

Kalyx hob den Kopf, sein Blick blieb dabei in die Ferne gerichtet, während sie weiter über das staubige Feld liefen. „Er gilt als der beste Taktiker des Congeries Planetarum“, begann er mit ruhiger Stimme. „Doch seine größte Taktik ist nicht der Kampf, sondern der Schutz. Für ihn ist es klüger, die Wesen zu bewahren, selbst wenn das bedeutet, ein passives Leben zu führen. Seine Versuche, etwas zu ändern, endeten endgültig mit dem Opfer von Prometheus.“

„Prometheus? Wer war das?“, fragte Nathaniel neugierig und zugleich spürbar bewegt nach. Er konnte den Namen nicht einordnen, doch er klang wie eine längst vergessene Legende.

„Prometheus war der Anführer der Golden Esperance“, erklärte Kalyx etwas langsamer, als wolle er jede Silbe mit Bedeutung füllen. „Er, Iris Greengore und Nyreth, sie alle stammen aus der ersten Generation der Bewohner hier im Ilum. Sie haben nicht nur einmal versucht zu fliehen. Immer und immer wieder haben sie gegen die Mauern, Ketten und Gesetze dieser Welt angekämpft … und sind immer wieder gescheitert.“

Nathaniel spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, während er diese Worte auf sich wirken ließ. „Und die Golden Esperance … Sie waren Teil dieses Unio Mundorum, richtig?“

„Ja“, sagte Kalyx knapp. Xhi-Tun fügte jedoch erklärend hinzu: „Das Unio Mundorum war einst ein Zusammenschluss verschiedener Völker. Verschiedene Völker, die versuchten, gemeinsam zu bestehen, gemeinsam frei zu bleiben.“

Nathaniel runzelte die Stirn. „Und was genau war das? Ein Rat? Eine Armee?“

„Das Unio Mundorum existierte weit über tausend Jahre“, begann Kalyx, während sein Blick über die trockenen Felder wanderte. „Es wurde von einem Terraner namens Viktor Caer gegründet. Ein Name, der bis heute in Legenden fortlebt.“ Seine Stimme wurde ruhiger, beinah feierlich, als er weitersprach. „Über Jahrhunderte hinweg war es ein Bündnis, das Verträge zwischen Planeten und Völkern schloss, selbst zwischen jenen, die kaum die gleiche Sprache teilten. Die Golden Esperance sorgten dabei für den Frieden, und sie taten das so lange, dass alle glaubten, es könne niemals etwas Schlimmes geschehen.“

Nathaniel lauschte gebannt, während sie zwischen staubigen Feldern weitergingen. Der Gedanke an einen so langen Frieden wirkte auf ihn fast unwirklich, wie ein Märchen aus einer vergessenen Zeit.

Kalyx fuhr fort, seine Stimme klang nun schwerer: „Doch dann … tauchten die Shenth auf. Plötzlich. Wie aus dem Nichts. Direkt im Kern des Systems. Sie zerrissen alles: das Bündnis, die Ordnung, sogar den Glauben an Sicherheit.“

Für einen Moment schien Kalyx zu zögern, als wäre die Erinnerung daran selbst wie eine nicht heilende Wunde. „Es ist, als wäre das Unio Mundorum einfach verschwunden. Ausgelöscht in einem einzigen, schwarzen Moment.“

„Aber …“, begann Nathaniel nach kurzem Zögern, „Apex hat doch gesagt, die Shenth wurden eingeladen. Wie passt das zusammen?“

Kalyx nickte, als müsse er eine unangenehme Wahrheit bestätigen. „Das höre ich immer wieder“, antwortete er. „Die Shenth sollen ihre Anhänger als Setzlinge aussenden. Diese sollen sich auf einem Planeten niederlassen, dort Einfluss gewinnen und schließlich die Shenth selbst herbeirufen.“ Seine Stimme klang nun leiser und gepresster. „Diese Einladung soll den Untergang bringen. Und dann beginnt das große Verschlingen …“

Er wollte gerade weitersprechen, doch dann blieben ihm die Worte im Hals stecken.

Denn plötzlich tauchten Dutzende bewaffneter Wesen auf, als wären sie aus dem Boden selbst hervorgesprungen. Sie trugen schwere, kantige Rüstungen, deren Metall im grellen Licht der künstlichen Sonne matt schimmerte. Aus den Kanälen zwischen den Feldern stiegen sie auf, zogen sich aus dem hohen, trockenen Gras hervor und schlossen den Kreis um die kleine Gruppe.

Nathaniels Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, während seine Augen hektisch nach einem Fluchtweg suchten. Doch überall sah er nur diese gesichtslosen Helme, stählerne Arme mit gezogenen Waffen und das Knirschen von Schritten auf trockenem Boden.

Die Welt, in der eben noch alte Geschichten lebendig geworden waren, war im nächsten Augenblick zur Falle geworden. Und noch bevor jemand reagieren konnte, waren sie vollständig eingekreist.

Ein Wesen trat in den Vordergrund. Es war so massiv, dass Nathaniel unwillkürlich den Kopf in den Nacken legen musste. Es war mindestens drei Meter hoch und allein der muskulöse Hals machte ein Drittel seiner Größe aus. Im Vergleich dazu wirkte der Kopf fast klein mit schmalen, reptilienartigen Augen und einem flachen Maul, das von schuppiger, glatt glänzender Haut umgeben war. Die Schuppen waren goldgelb, doch an Bauch und Hals wechselten sie zu einem hellen, fast perlmuttweißen Ton, der in der Sonne schimmerte wie gehärtetes Leder.

„Kalyx, Xhi-Tun“, sagte das Wesen mit einer tief vibrierenden Stimme, als stünde irgendwo weit hinten ein schwerer Gong. Es sprach langsam, jede Silbe gedehnt, als koste es Mühe, sich auf ihre Sprache einzulassen. „Ihr wisst, dass das unsere Route ist.“

„Nyreth, wir wissen das“, erwiderte Kalyx ruhig und trat dabei einen Schritt nach vorn. Seine Stimme blieb fest, doch Nathaniel spürte die angespannte Höflichkeit, die dahinterlag. „Wir suchen dich bewusst auf.“ Kalyx machte eine knappe Geste in seine Richtung. „Atlon möchte mit dir sprechen.“

Nyreth neigte den gewaltigen Kopf, sodass ihr Blick direkt auf Nathaniel fiel. Ihre goldgrünen, schlitzpupilligen Augen blickten durch ihn hindurch, als wollten sie seine Gedanken ertasten. Nathaniel spürte, wie sein Herz raste, doch er hielt stand und zwang sich, nicht wegzuschauen.

„Neuling“, sagte Nyreth nach einem Moment, ihre Stimme war leiser, aber nicht freundlicher. „Was willst du von mir?“

Nathaniel holte tief Luft. Trotz des mulmigen Gefühls in seiner Brust trat er einen Schritt vor. „Ihr werdet mit mir und dem Dorf Gort gegen den Wachturm vorgehen“, sagte er mit fester Stimme, stärker, als er selbst erwartet hätte. „Wir werden dem Ilum entkommen.“

Einen Herzschlag lang war es still. Dann zog Nyreth den Kopf ein, drehte sich zu ihren Truppen, den massigen Retha in den schweren Plattenpanzern, um und brach in lautes, schallendes Gelächter aus, das von den Feldern widerhallte. Die Retha stimmten ein, mit einem kehlig-dröhnenden Gelächter, das Nathaniel fast körperlich traf.

Nyreth wandte sich wieder ihm zu, ihre Augen glänzten vor Spott. „Amüsant, Neuling.“


Doch Nathaniel wich nicht zurück. Er machte stattdessen noch einen Schritt auf sie zu, sodass sie fast auf gleicher Höhe waren, so weit das möglich war. „Ich werde die Shenth davon abhalten, Terra zu verschlingen“, sagte er, und seine Worte klangen wie geworfene Dolche.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann brach erneut Gelächter aus. Doch diesmal klang es kürzer, als würde ein Rest Neugier mitschwingen.

Nyreth neigte den Kopf zur Seite, sodass ihr Kamm aus festen Schuppen leicht erzitterte. „Dann kämpfe mit mir, Atlon!”, forderte sie mit rauer Stimme. „Ein Duell ohne Tod. Bis einer von uns aufgibt. Zeig mir, dass du das hier wirklich willst.“

Nathaniel spürte, wie ihm ein heißer Stich durch den Bauch fuhr. Er sah kurz zu Kalyx und Xhi-Tun. Xhi-Tun wirkte blass, die Kiefer angespannt, während Kalyx’ Blick ernst und fast besorgt war. Doch Nathaniel spürte zugleich auch etwas anderes: ein Ziehen in seiner Brust, das ihn drängte, weiterzugehen – egal, wie groß die Angst war.

Langsam drehte er sich wieder zu Nyreth. „Na los.“

Nyreth bewegte sich so schnell, dass Nathaniel kaum den Blick folgen konnte. Wie ein Blitz zog sie ein Schwert vom Rücken, dessen Klinge breit, dunkel und von schimmernden Runen überzogen war. Sie schlug nach ihm. Hätte sie ihn getroffen, hätte er den Schlag nicht überlebt.

Nathaniel warf sich seitlich weg und spürte den Luftzug des Schlages an seiner Wange. Staub stob unter seinen Füßen auf. Ringsum jubelten und gröhlten die Retha, klopften mit Waffen gegen Schilde, während sich der Kreis enger zog.

Nathaniel kam wieder auf die Beine und atmete schwer. Sein Herz donnerte in seinen Ohren, doch inmitten der Angst keimte etwas anderes: Entschlossenheit.

Er spannte die Muskeln, hob die Fäuste und blickte der Riesin entgegen.


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