Kapitel 65 - Teamwork

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Sabine West stand in ihrer großzügigen Küche, die den Stil des gesamten Penthouses widerspiegelte: schlicht, aber von leiser Eleganz durchzogen. Die kühlen, grauen Betonwände harmonierten auf unerwartet warme Weise mit dem polierten Eichenboden, der dem Raum eine natürliche Note verlieh. Überall hingen farbenfrohe Gemälde.

Eine hohe Fensterfront zog sich fast über die gesamte Wand und bot einen atemberaubenden Blick auf die nächtliche Skyline von Saint Veronika. Draußen funkelten Tausende Lichter wie ein flüssiger Strom aus Gold und Silber, während sich die scharfkantigen Silhouetten der Wolkenkratzer dunkel gegen den tiefblauen Nachthimmel abzeichneten. Dort draußen pulsierte das Leben der Stadt laut, widersprüchlich und unberechenbar.

Gerade als Sabine den Korken aus einer schweren Flasche Rotwein zog, füllten sanfte Jazz-Klänge die Küche. Sie stellte die Flasche behutsam auf den hellen Steintresen, öffnete den oberen Schrank und nahm ein bauchiges Glas heraus. Mit ruhiger Hand schenkte sie es zur Hälfte voll. Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie das Glas gegen das Licht hielt. Der Wein schimmerte in einem tiefen Rubinrot. Sie führte das Glas an die Nase und schloss kurz die Augen.

„Ein guter Jahrgang“, murmelte sie leise, beinahe, als wolle sie sich selbst davon überzeugen. Langsam stellte sie das Glas zurück und griff nach einem scharfen Messer, das in der Halterung an der Wand glänzte.

Mit einem leisen Seufzen begann sie, frisches Gemüse auf einem großen Holzbrett zu schneiden. Zucchini, Paprika und reife Tomaten, während der Duft von frisch gehacktem Knoblauch, Thymian und Basilikum durch die Küche zog. Sabine liebte diese kleinen, einfachen Rituale nach einem langen Tag. Sie gaben ihr Ruhe inmitten eines Lebens, das oft von unvorhersehbaren Wendungen geprägt war.

Sie hatte nie viel Wert auf teure Statussymbole gelegt, obwohl ihre Familie wohlhabend war. Vielleicht war sie gerade deshalb bei allem Erfolg bodenständig geblieben.

Während das geschnittene Gemüse in die vorgewärmte Pfanne glitt, zischte es leise, als das Öl aufspritzte. Sabine rührte langsam um, sah zu, wie die Farben lebendig wurden und sich die Aromen in der Hitze verbanden. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrem letzten Fall. Tagelang hatte sie sich durch Lügen, Halbwahrheiten und falsche Spuren kämpfen müssen.

Sie drehte den Herd herunter, griff eine Handvoll frischer Kräuter und ließ sie in die Pfanne fallen. Sofort erfüllte ein neuer Duft die Küche. Als sie die Pfanne leicht schwenkte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel ein leises, pulsierendes Licht an ihrem Arm. Ein leises Summen erklang, kaum hörbar über die Musik hinweg. Ihr Blick fiel auf ihr Handgelenk, auf dem ein holografisches Display projiziert wurde. Dort leuchtete ein Name auf: ihr Partner. Sabine hielt inne, das Messer noch in der Hand, und spürte, wie sich ein kurzer Moment der Stille über den Raum legte. Sie zögerte, atmete tief durch, während draußen die Stadt weiterhin unaufhörlich pulsierte.


„Was gibt’s, Corbin?“ Sabines Stimme klang kontrolliert. Dienstgespräche um diese Uhrzeit bedeuteten selten etwas Gutes, meist waren sie der Beginn langer Nächte voller Fragen, Zweifel und Entscheidungen.

„Wir haben einen neuen Fall. Es ist dringend“, kam die knappe Antwort durch den kleinen Lautsprecher ihres Synects. Seine Stimme klang gepresst und angespannter als sonst. Sofort spürte Sabine, dass etwas Ernstes vorlag. Ein feiner Druck breitete sich in ihrem Magen aus.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus, drehte mit geübter Hand den Herd herunter und griff nach ihrem Weinglas. „Wo soll ich hin?“, fragte sie und stellte sich innerlich bereits darauf ein, das halb gekochte Abendessen stehen zu lassen und hinaus in die Nacht zu fahren.


Doch noch bevor sie eine Antwort bekam, knackte es in der Leitung. Für einen Augenblick herrschte eine unnatürliche Stille, ein kurzes Innehalten zwischen zwei Atemzügen. Sabine runzelte die Stirn. Ihr Blick fiel auf das flackernde Display des Synects, das wie ein geisterhaftes Glimmen über ihrem Unterarm schwebte. Verwirrt hob sie die Hand.

Eine Stimme, die so anders war: tiefer, rauer, fast brüchig, und doch war sie von einer kalten Selbstsicherheit durchzogen, die Sabine sofort die Nackenhaare aufstellen ließ.

„Sabine West“, sagte der Unbekannte mit langsamer, messerscharfer Betonung. „Ich habe ein Angebot für Sie. Mein Name ist Nitechore, und ich möchte mit Ihnen arbeiten.“

Für einen Augenblick wich alle Geräuschkulisse zurück: das leise Knistern des Herdes, die Jazzmusik im Hintergrund, selbst das entfernte Rauschen der Stadt vor den Fenstern. Sabines Herz klopfte nun spürbar schneller, ein dumpfer Schlag gegen ihre Rippen.

Ein kurzer Anflug von Wut flammte in ihr auf, jedoch nicht aus Angst, sondern aus Abneigung gegenüber der Dreistigkeit dieses Mannes. Nitechore, der maskierte Rächer, über den die Medien der Stadt seit Monaten berichteten. Er, der nachts in den Schatten verschwand, Kriminelle jagte, dabei aber selbst jede Grenze missachtete. Die Polizei von Saint Veronika hatte ihn längst als unberechenbar eingestuft: ein Mann, der sich zwischen Gerechtigkeit und Selbstjustiz bewegte wie auf einem schmalen Grat.

Sabine hatte ihn bisher nur aus Berichten und Gerüchten gekannt, nie persönlich mit ihm gesprochen. Doch jetzt, da sie seine Stimme hörte, wirkte er nicht mehr wie eine vage Figur aus den Nachrichten.

In ihrem Inneren regte sich Zorn über die Störung, gepaart mit einem wachsenden Unbehagen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, während draußen in der Dunkelheit die Lichter der Stadt weiterflimmerten, als wäre nichts geschehen.

„Sobald das Gespräch unterbrochen wird, ist die Polizei in fünf Minuten hier“, sagte sie mit fester, leicht angespannter Stimme. Ihre Finger lagen ruhig auf der Kante des Tresens, doch in ihrem Blick flackerte ein warnendes Feuer. „Keine Spielchen!“, fügte sie hinzu. Ihre Worte klangen schärfer, als sie es selbst erwartet hatte.

„Mir reicht’s!“, knurrte Nitechore, als sei er kurz davor, die Geduld zu verlieren.

„In fünf Minuten sind sie da“, wiederholte Sabine eindringlich, dieses Mal hörbar kühler. Der Argwohn ließ sich nicht mehr aus ihrer Stimme verbannen. „Also beeil dich lieber, wenn dir wirklich etwas daran liegt.“

Für einen Moment war nur ihr eigener Atem zu hören, dann antwortete er rau und knapp: „Ich bin kurz davor, den Hersteller namens Fizzle festzunehmen, der hinter dem in der Stadt kursierenden Gift SumX steckt.“

Sabine spürte, wie sich ihre Schultern unmerklich anspannten, als der Name fiel. Der Giftmischer, der in den Akten der Polizei längst ein eigenes Kapitel hatte. Ein skrupelloser Chemiker, dessen Gift in den letzten Wochen immer wieder Menschen das Leben gekostet hatte und oft in unterschiedlichsten kriminellen Kreisen aufgefunden wurde. Bisher hatten alle Ermittlungen ins Leere geführt.

„Und du glaubst, du kannst ihn fassen?“ Sabine versuchte, sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen, doch selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme zu kühl und distanziert. Sie hasste Selbstjustiz und misstraute jedem, der glaubte, außerhalb des Gesetzes handeln zu können.

„Ich weiß, dass ich es kann“, erwiderte Nitechore ohne zu zögern. Seine Stimme vibrierte vor Überzeugung. Für einen Augenblick hielt Sabine inne. Da war etwas in seinem Tonfall, das schwer zu ignorieren war: eine Entschlossenheit, die tiefer ging als bloßer Trotz.

„Aber ich brauche jemanden bei der Polizei, der nicht korrupt ist. Jemanden, dem ich vertrauen kann.“

Seine Worte hallten in Sabines Kopf nach, während sie den Blick über die dunkle Skyline von Saint Veronika schweifen ließ. In der Ferne funkelten die Lichter ruhig und schön, als würde das Chaos der Stadt nicht existieren. Doch sie wusste es besser. Die Wahrheit sah anders aus.

Es war kein Geheimnis, dass die Polizei in den letzten Jahren von Skandalen zerrissen worden war: Beamte, die mit kriminellen Syndikaten kooperierten, Beweismittel verschwinden ließen und Informationen verkauften. Immer wieder hatte Sabine erlebt, wie Kollegen verhaftet oder suspendiert wurden, wie Vertrauen zerbrach.

Sie selbst hatte sich geschworen, niemals Teil davon zu werden. Ihr Ruf war hart erarbeitet und beruhte auf Integrität – genau dieser Ruf schien Nitechore nun aufgespürt zu haben.

„Warum ich?“, fragte sie schließlich leiser und nachdenklicher. Ihr Blick haftete an der Scheibe, hinter der sich die Silhouetten der Stadt wie Schatten überlappten. Als könnte sie dort draußen eine Antwort finden.

„Weil du noch an Gerechtigkeit glaubst“, sagte Nitechore nach kurzem Schweigen. Seine Stimme klang dabei ruhiger, beinah weich, aber auch voller Nachdruck. „Es gibt zu viele Verbrecher, die dich lieber in ihren Reihen sehen würden. Du kannst verhindern, dass sie gewinnen.“

Für einen Moment war Sabine gefangen in seinen Worten, gefangen zwischen Pflicht und Zweifel. Sie dachte an all die Jahre, in denen sie gegen die Schatten der Stadt gekämpft hatte, und daran, wie fest sie an ihre Überzeugung geglaubt hatte, dass das Gesetz trotz allem Bestand haben musste.

Doch was, wenn dieser Mann recht hatte? Was, wenn sie durch ihn tatsächlich etwas bewegen konnte, was ihr allein verwehrt blieb?

Ihre Gedanken wirbelten wie lose Blätter in einem kalten Wind. Während sie nach einer Antwort suchte, spürte sie, dass dies keine gewöhnliche Bitte war.

„Ich treffe meine Entscheidungen nicht leichtfertig, Nitechore“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang ruhig, doch in ihrem Inneren spannte sich alles an wie eine Sehne kurz vor dem Reißen. „Aber wenn du den Giftmischer wirklich zur Strecke bringen kannst, werde ich dir helfen. Vergiss aber eins: Ich bin Polizistin. Das Gesetz ist für mich keine Verhandlungsmasse.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Augenblick Schweigen, das schwer in der Luft hing. Dann hörte sie ein leises, kaum wahrnehmbares Lachen. Es klang nicht spöttisch, sondern eher wie ein kurzes Aufblitzen von Respekt oder vielleicht sogar Anerkennung.

„Fünf Minuten, wie gesagt“, kam die Antwort. „Ich rufe zurück.“


Ein leises Klicken beendete das Gespräch. Sabine blieb wie versteinert stehen, das Handy noch immer in der Hand. Um sie herum kehrte eine Stille ein, die so dicht und schwer wirkte, dass sie fast greifbar war. Die Neonlichter der Stadt warfen flackernde Reflexe an die Wände ihres Penthouses, doch sie nahm sie kaum wahr. Stattdessen spürte sie, wie sich ihr Herzschlag langsam beruhigte, während sie gleichzeitig wusste, dass dies erst der Anfang war.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Was hatte sie da gerade getan? Sie, die stets für klare Linien stand, hatte sich auf etwas eingelassen, das gefährlich nah an diesen entlangtanzte. Sie holte tief Luft und versuchte, Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen. Doch bevor sie weiterdenken konnte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.

Instinktiv fuhr sie herum und ihr Blick schoss zum bodentiefen Fenster, das den Wohnraum zum Balkon hin öffnete. Für einen Herzschlag blieb ihr Atem stehen. In der Dämmerung stand dort eine reglose Gestalt wie ein Schatten zwischen den Reflexen der Stadtlichter.

Er trug einen schwarzen Anzug und eine Maske, die sein Gesicht verbarg. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein Greifhaken. Es war Nitechore.

Ihre Augen trafen seine, auch wenn sie nicht einmal sicher sagen konnte, ob er sie ansah. Und doch hatte sie das Gefühl, dass sein Blick sie direkt durchbohrte. In seiner Haltung lag etwas Unmissverständliches: eine Mischung aus Entschlossenheit, Vorsicht und einem seltsamen Hauch von Traurigkeit, den sie sich nicht erklären konnte.

Einen Augenblick lang verharrten sie beide in diesem stummen Zwiegespräch.

Noch bevor sie reagieren konnte, neigte Nitechore den Kopf leicht, fast wie eine Verbeugung, und trat dann einen Schritt rückwärts ins Nichts. Ihr Herz setzte aus.

Sie hastete ans Fenster. Ihre Fingerspitzen trafen das kühle Glas, als sie sah, wie er in die Tiefe fiel. Doch es war kein unkontrollierter Sturz. Mit einer eleganten Bewegung zog er an der Seilwinde, bremste ab und verschwand lautlos in den Schatten der Straße unter ihr. Für einen Augenblick glitt sein Umriss noch zwischen den Lichtern hindurch, dann war er verschwunden, als wäre er nie da gewesen.

Sabine blieb wie angewurzelt stehen, das kalte Fensterglas an ihrer Stirn. Erst jetzt merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte. Langsam wich die Starre aus ihrem Körper, ihre Schultern sanken.

Sie trat einen Schritt zurück, schüttelte leicht den Kopf, als könnte sie den surrealen Moment damit abschütteln.


Plötzlich ertönte wieder das vertraute Summen ihrer Synect.

Sabine zuckte leicht zusammen, als hätte sie vergessen, dass es die reale Welt noch gab.

„Sabine?“ Corbins Stimme klang angespannt, beinah besorgt. „Geht es dir gut? Du warst plötzlich weg.“

Sie blinzelte und atmete tief durch, um die Fassung wiederzugewinnen. „Ja, alles in Ordnung“, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen. „Die Verbindung hat nur Mist gebaut.“

Ihre Worte kamen schneller, als ihr lieb war, und sie wusste, dass Corbin sie hören konnte.

„Alles klar“, erwiderte er, doch sie konnte das leichte Zögern nicht überhören, diesen leisen Zweifel, der zwischen den Worten mitschwang. „Wenn du bereit bist, können wir uns gleich im Büro treffen. Wir haben Arbeit zu erledigen.“

Sabine schloss für einen Moment die Augen und spürte, wie ihr Herz immer noch schneller schlug. Dann nickte sie unbewusst, obwohl er sie nicht sehen konnte. „Ich komme gleich“, sagte sie leise, beendete das Gespräch und legte das Handy beiseite.

Einen Moment lang blieb sie stehen, die Hand noch immer auf dem Display. Ihr Blick glitt wieder zu dem großen Fenster. Die Stadt lag in kaltem Neonlicht vor ihr, Straßenbahnen zogen lautlos ihre Bahnen, das Leben ging weiter, als sei nichts geschehen.

Sie suchte mit den Augen die Balkonkante ab, als könnte dort noch ein Schatten lauern – ein letzter Beweis dafür, dass all das wirklich passiert war. Doch der Balkon war leer und von Nitechore keine Spur mehr.

Sie atmete langsam aus, ließ die Schultern sinken und wandte sich ab. Der Moment war vorbei.

Mit einem Kopfschütteln, als wollte sie das eben Erlebte aus ihrem Kopf schütteln, ging sie zurück in die Küche, wo noch immer der würzige Duft von Knoblauch, Kräutern und angebratenem Gemüse in der Luft hing. Dort hing noch immer der würzige Duft von Knoblauch, Kräutern und angebratenem Gemüse in der Luft, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Sabine griff mit einer geübten Bewegung nach der Pfanne, in der das Gemüse leise vor sich hin brutzelte, als hätte sie nichts gestört. Einen Augenblick lang wirkte diese Alltäglichkeit fast tröstlich. Sie stellte die Pfanne neben den Herd, drehte die Temperatur herunter und begann, die frischen Zutaten zurück in den Kühlschrank zu räumen.

Ihre Bewegungen waren automatisch und routiniert, doch sie spürte, wie ihr Kopf noch immer um das kreiste, was gerade passiert war.

Nitechore. Sein Angebot. Und der unausgesprochene Pakt, der alles verändern konnte.

Mit einem letzten Blick über ihre Schulter in die Nacht schloss sie die Kühlschranktür. Dann strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, atmete tief durch und machte sich bereit, ins Büro zu fahren, dorthin, wo ihre Pflicht auf sie wartete.


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