Kapitel 64 - Schmerz
Nitechore betrat das alte Haus und trat langsam über die knarrende Schwelle. Ihm drang schlagartig der Geruch von Moder, altem Holz und abgestandener Luft in die Nase. Er zuckte leicht zusammen, als seine Lungen sich mit diesem bitteren Aroma des Verfalls füllten.
Die Tür hinter ihm fiel mit einem schweren Klong ins Schloss. Der Klang hallte wie ein gequälter Seufzer durch die verwesende Stille. Nitechore blieb stehen und lauschte, doch es gab keinen Wind, keine Vögel und nicht einmal das Knacken von Holz. Nur diese tiefe, bedrückende Ruhe lag wie ein Mantel auf allem.
Das Licht fiel in schrägen Streifen auf den staubbedeckten Boden, brach sich an gläsernen Scherben und ließ Schatten über die Wände tanzen, die mehr an Spukgestalten erinnerten als an gewöhnliches Dämmerlicht. Die gesamte Eingangshalle wirkte wie eingefroren in einem Moment, den niemand mit eigenen Augen hätte sehen sollen.
Nitechore atmete tief durch und ließ seinen Blick schweifen. Die Tapeten, die einst stolz und farbenfroh gewesen waren, hingen in schlaffen Fetzen herab. In den Rissen hatten sich kleine Insekten eingenistet, die rasch in dunkle Spalten huschten, sobald sich ein Lichtstrahl näherte. Bilderrahmen hingen schief, einige lagen zersplittert auf dem Boden. Die Fotografien darin waren ausgebleicht, zerkratzt und teilweise verschimmelt. Sie zeigten Gesichter aus einer anderen Zeit. Ein Mann mit strengem Blick, eine Frau mit eingefrorenem Lächeln und ein Kind, das in die Kamera starrte, als wüsste es bereits, dass seine Zukunft kein glückliches Ende nehmen würde, waren darauf zu sehen.
Sein Blick blieb an einem der Bilder hängen, das halb aus dem Rahmen gerutscht war. Auf der Rückseite stand in krakeliger Schrift das Datum 2283, doch es fühlte sich an, als wäre es mehrere Leben her. Der Flur, in den er nun tiefer vordrang, schien sich mit jedem Schritt weiter zu verengen. Das Haus atmete nicht, es wartete.
Am Ende des Gangs lag die Küche hinter einer offen stehenden Tür, deren Scharniere beim leisesten Windstoß klangen wie das Stöhnen eines Verletzten. Als Nitechore den Raum betrat, hielt er unwillkürlich die Luft an. Der Gestank hier war anders. Süßer. Schwerer. Eine Mischung aus Fäulnis, Metall, Schimmel und etwas, das seinen Magen rebellieren ließ. Der Raum schien im Moment des Verfalls eingefroren zu sein. Dreckiges Geschirr türmte sich in der Spüle, als hätte jemand mitten in der Hausarbeit aufgehört, mitten im Leben stehen geblieben. Die Ränder der Teller waren schwarz verschmiert und Reste halbverwesender Mahlzeiten klebten wie Fossilien des Alltags daran. Schimmel hatte sich in dicken, grünlichen Pelzen über Brot- und Fleischreste gelegt, die in vergessenen Schüsseln auf der Anrichte standen.
Fliegen summten langsam und träge durch die stickige Luft, als seien auch sie längst betäubt vom Zustand des Hauses. Auf dem Tisch stand noch eine halbvolle Tasse. Der Kaffee darin war zu einer schwarzen, sirupartigen Masse geworden. Daneben lag: Ein kleines Stofftier, ein Hase mit einem abgerissenen Ohr, aus dem die Füllung quoll. Es saß neben einem Kinderteller, auf dem noch Krümel lagen. Irgendetwas an diesem Bild ließ Nitechore den Atem anhalten.
Dann roch er es. Blut. Nur einen Hauch, verborgen unter all dem anderen Gestank, aber es war da. Ein stechender, metallischer Unterton, der nichts Gutes versprach. Nitechore spannte die Schultern an, seine Sinne schärften sich. Was auch immer in diesem Haus passiert war, es war nicht nur Verlassenheit. Es war etwas anderes. Etwas Böses.
Er trat näher an den Tisch und spürte, wie Glas unter seinem Stiefel knirschte. Hier war etwas geschehen, vielleicht ein Streit, vielleicht Schlimmeres. Sein Blick wanderte zur Decke und dann zur Tür, die in den Keller führte. Die Dunkelheit dort wirkte tiefer als im Rest des Hauses. Lebendig. Wartend.
Er durchquerte die verfallene Küche und kehrte in den Flur zurück. Die morsche Dielen knarzten unter seinen Stiefeln wie alte Knochen, die sich gegen jeden weiteren Schritt wehrten. In seinem Inneren arbeitete es. Die Akten, die er in einer waghalsigen Nachtaktion bei Pretorius Tech gestohlen hatte, flimmerten ihm wieder durch den Kopf. Unter chiffrierten Daten, manipulierten Patientenakten und verschlüsselten Projektberichten war immer wieder ein Name aufgetaucht: Setech. Ein Schatten, der sich durch mehrere Schichten krimineller Aktivitäten zog. Und dieser Ort war der einzige reale Anhaltspunkt, den Nitechore in dem Wust aus Lügen und Desinformationen gefunden hatte. Das Elternhaus. Der Ursprung.
Die Treppe vor ihm wirkte, als hätte sie seit Jahrzehnten kein Gewicht mehr getragen. Ihre Stufen waren vom Zahn der Zeit gezeichnet, gesplittert, morsch und von Rissen durchzogen. Als er sie hinaufstieg, gab das Holz unter seinem Gewicht nach und stöhnte in einem Ton, der an ein Brechen erinnerte. Jeder Schritt war ein Wagnis. Und doch ging er weiter.
Oben empfing ihn ein schmaler, von Dunkelheit gesättigter Flur. Der Putz an den Wänden war aufgequollen und in feinen Schichten hatte sich Schimmel ausgebreitet, der im schwachen Licht wie grünlicher Nebel glänzte.
Er öffnete die erste Tür zu seiner Rechten.
Das Schlafzimmer.
Das Bettgestell war zerbrochen, als hätte es jemand mit bloßen Händen zerstört. Die Matratze war an mehreren Stellen aufgeschlitzt und die Füllung quoll wie Gedärme hervor. Die Vorhänge hingen zerrissen und verdreckt in den Rahmen, schlaff wie tote Glieder. Die Schubladen lagen umgestürzt auf dem Boden, ihr Inhalt war wie die Überreste eines aufgebrochenen Geheimnisses verstreut.
Nitechore trat vorsichtig ein. Glas knackte unter seinen Sohlen. Der Spiegel war in zahllose Scherben zersprungen. Sie lagen im Raum verteilt, manche wie kleine Dolche, andere matt vor Staub, als hätten selbst ihre Reflexionen resigniert.
Er verließ das Zimmer und wandte sich der Tür am Ende des Flurs zu.
Das Kinderzimmer. Er öffnete die Tür langsam. Sie schwang mit einem leisen, klagenden Laut auf.
Der Raum war klein. Beinah beengend. Die Luft stand still, war dick wie Samt und durchdrungen von einer altmodischen Süße, die an getrockneten Lavendel erinnerte – künstlich und zu lange bewahrt. Die Wände waren blassblau gestrichen und an vielen Stellen war der Lack abgeblättert. An ihnen hingen vergilbte Poster, wellig vom feuchten Atem der Jahre.
In der Ecke stand ein kleines Bett, ordentlich gemacht. Die Decke war dünn und stellenweise durchlöchert, als hätten Motten sie gefressen. Neben dem Bett stand ein leerer Nachttisch. Kein Nachtlicht. Kein Wecker. Kein Buch.
Doch am meisten verstörte Nitechore das, was nicht da war. Keine Spielzeuge. Keine Stofftiere. Keine Kinderzeichnungen. Es gab keine Spuren von Leben. Der Raum war nicht verlassen, er war nie bewohnt worden. Oder er war es einmal, und alle Erinnerungen an das Kind darin waren ausgelöscht worden wie Kreide von einer Tafel.
Er trat langsam hinein und ließ den Blick über jeden Zentimeter des Raumes gleiten. Der Boden knarrte kaum. Zu viele Teppichreste, zu viel Staub. Und doch war da etwas. Ein Gefühl. Wie ein Echo aus einer Zeit, in der jemand hier gesessen, geschwiegen und gelitten hatte.
Am Fenster entdeckte er etwas. In den Rahmen gekratzt. Buchstaben. Winzig. Kaum sichtbar.
J. V.
Janus Vile, der Wissenschaftler, stand auch in den Unterlagen. Er war hier gewesen. Er hatte hier gelebt. Doch was genau in diesem Haus mit ihm geschehen war, konnte Nitechore nur erahnen.
„Was ist hier passiert?“, flüsterte Nitechore kaum hörbar. Nicht, weil er Antworten erwartete, sondern weil die Stille ihn dazu zwang, ihre Sprache zu sprechen. Seine Stimme verklang zwischen den blinden Wänden, als wäre selbst der Raum nicht gewillt, ihr Raum zu geben. Er ließ seinen Blick über das verlassene Zimmer schweifen. Es war, als hätte die Zeit hier nicht einfach angehalten, sondern wäre abgestorben und langsam verrottet. Die wenigen Reste menschlicher Anwesenheit – ein umgekippter Stuhl, ein eingerissener Kalender an der Wand und die schemenhaften Umrisse von Bildern, die einst gehangen hatten und nun fehlten, wirkten wie Fragmente eines Lebens, das jemand mit Gewalt ausgelöscht hatte.
Sein Blick fiel auf die Kellertür.
Er zögerte. Etwas an ihr schien falsch. Sie wirkte nicht wie ein banaler Zugang zu einem Vorratsraum, sondern wie ein Siegel. Es roch nach feuchter Erde, nach abgestandener Luft und nach etwas anderem. Etwas Unaussprechlichem. Die Glühbirne über der Treppe flackerte, als wolle sie ihn warnen oder seine Entschlossenheit verspotten.
Er atmete flach. Dann stieg er hinab.
Stufe für Stufe. Der Tritt hallte dumpf zwischen den Steinwänden. Die Kälte kroch ihm in die Knochen, wurde mit jedem Schritt bissiger, beinah lebendig. Es war, als würde das Haus ihn prüfen oder langsam verschlingen.
Unten angekommen, betrat er einen fensterlosen Raum. Die Dunkelheit war dicht, fast greifbar. Das spärliche Licht der Glühbirne reichte kaum über den Raum hinaus und doch war das, was Nitechore sah, genug, um ihm das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Dies war kein Keller.
Dies war ein Schrein.
In der Mitte stand eine Streckbank. Sie war verrostet, aber stabil. Sie war unübersehbar wie ein Altar für Schmerz. Die Lederriemen waren spröde, ausgefranst und an einigen Stellen zerfetzt. Nitechore ging näher und zwang sich zu ruhigen Schritten. Die Riemen waren nicht nur durch die Zeit eingerissen. Jemand hatte sich gewehrt. Mit aller Kraft.
Ringsum lagen Werkzeuge verstreut. Es waren keine Werkzeuge für Handwerk oder Gartenarbeit, sondern für etwas anderes. Zangen. Klingen. Haken. Metallinstrumente, deren Form allein eine Gänsehaut auslöste. Einige wiesen rostbraune Spuren auf. Andere glänzten, als seien sie erst kürzlich benutzt und gereinigt worden oder auch nicht.
Sein Magen krampfte sich zusammen. Er zwang sich, nicht wegzuschauen.
An einer Wand standen Regale. Chemikalien. Flaschen in den unterschiedlichsten Formen und Farben. Manche waren sauber beschriftet, andere völlig unleserlich. Andere waren völlig unleserlich. Einige schienen mit der Hand in zittriger, hastiger Schrift beschriftet worden zu sein. Viele der Etiketten waren zerrissen oder mit etwas Dunklem verschmiert.
Einige Flaschen waren offen. Andere waren halb leer. Die Luft war durchtränkt von einem beißenden Geruch. Es war eine Mischung aus Alkohol, Lösungsmittel und etwas Süßlichem, das wie faulendes Obst oder verbrannte Vanille roch. Der Geruch war alt, aber nicht tot. Er lebte. Er drang ihm tief in die Nase, als wolle er sich in seinen Erinnerungen einnisten.
Dann fiel sein Blick auf die Wand neben der Streckbank. Ein Wort war dort eingeritzt. Tief. Mit zitternder Hand. In die Steinwand selbst, als hätte derjenige gewusst, dass Papier hier nicht überdauern würde.
„Ex nihilo.”
Aus dem Nichts.
Ein Name? Ein Motto? Ein Projekt?
Nitechore wusste es nicht. Noch nicht. Aber eines wusste er mit Sicherheit:
Doch dann fesselte der Computer in der Ecke seine Aufmerksamkeit endgültig.
Ein klobiges, altes Gerät, das einen seltsamen Kontrast zum modernen Grau bildete, das den Raum erfüllte. Der Bildschirm flackerte schwach in einem kränklichen Grün, als zögere das Gerät selbst, seine Inhalte preiszugeben. Nitechore trat näher und sein Atem beschleunigte sich unwillkürlich. Er zögerte, als wolle ein Teil von ihm den Moment hinauszögern, in dem die Wahrheit sichtbar werden würde.
Er legte die Hand auf die Maus. Der Cursor zuckte, der Monitor flammte auf.
Es erschien eine Liste von Videodateien, säuberlich geordnet, jede benannt mit einem Datum, einer kryptischen Bemerkung und dem Anhang „Fizzle”.
Der Name war harmlos, beinah kindisch. Aber in diesem Kontext ... war er bedrohlich. Kalt. Kalkuliert. Krank.
Seine Hand zitterte, als er die erste Datei anklickte.
Der Bildschirm zeigte den Raum, in dem er sich befand. Doch die Perspektive wirkte entmenschlichend, wie das Auge eines Jägers. Im Zentrum stand die Streckbank. Und daran gefesselt war ein Junge. Vielleicht zehn Jahre alt. Vielleicht sogar jünger.
Das Licht im Video war fahl, das Bild körnig. Doch nichts konnte das Grauen verschleiern. Die blutigen Riemen schnitten tief in die Handgelenke des Kindes, das sich wimmernd wand und nicht in der Lage war, sich zu befreien. Seine weit geöffneten Augen irrten ungläubig und suchend durch den Raum, bis sie auf jemanden trafen, der außerhalb des Bildes stand.
Dann ertönte eine Stimme.
„Janus, mein Junge.“
Kühl. Emotionslos. Eine Stimme, die wie ein Skalpell schnitt – präzise und ohne Mitleid.
Die Kamera bewegte sich leicht, und da stand er: der Vater, im weißen Hemd, mit einem Skalpell in der Hand.
Im weißen Hemd, mit einem Skalpell in der Hand, blickte er auf das Kind herab, als wäre es ein gescheitertes Experiment. Kein Zorn. Kein Wahnsinn. Nur Analytik. Und dann begann er zu summen. Eine Melodie, so harmlos und vertraut, die in diesem Moment jedoch verachtenswert war. Ein Kinderlied.
Ein Lullaby, um das Grauen zu begleiten.
Der Junge, Janus, rang nach Luft. Tränen liefen über sein Gesicht. Seine Stimme kam nur noch als Hauchen:
„Sum ... Sum ... Nicht ...“
Doch der Vater summte weiter. Langsamer. Lauter. Er durchbrach jede Bitte, als wäre sie bedeutungslos. Als wäre Mitleid ein Irrtum, den er längst überwunden hatte.
„Du musst deine Ängste überwinden, Janus“, sagte er.
„Nur so wirst du stark.“
In diesem Moment, mit diesem einen Satz, verstand Nitechore mehr, als er begreifen wollte. Es ging nicht um Bestrafung. Es ging nicht um Sadismus.
Es war Erziehung. Eine Lektion im Grauen.
Nitechore riss sich vom Bildschirm los. Sein Magen rebellierte, sein Atem ging stoßweise. Etwas in ihm wollte fliehen, rennen und alles vergessen. Aber er wusste, dass er es nie würde können. Weder, was hier geschehen war, Und nicht, was es aus einem Kind gemacht hatte.
Er war erschaffen worden.
Nitechore saß reglos vor dem Bildschirm, als hätte ihn das erste Video in eine unsichtbare Klammer gezwungen. Die Bilder hallten noch in seinem Innersten wider: das Summen, das Flüstern, die kalt kalkulierte Grausamkeit. Und dennoch ... Er wusste, es musste weitergehen.
Etwas in ihm – vielleicht die Pflicht, vielleicht bloße Verzweiflung – zwang ihn, die nächste Datei zu öffnen.
Ein Klicken.
Der Bildschirm flackerte kurz, dann begann die neue Aufnahme.
Das Bild war schärfer, das Licht klarer. Die Kamera zeigte wieder denselben Raum und dieselbe Streckbank, doch der Junge war nicht mehr derselbe. Janus war älter. Dreizehn vielleicht. Vierzehn. Doch in seinen Augen lag keine Entwicklung, kein Wachstum. Nur das bleiche Echo von etwas, das einmal gelebt hatte. Hoffnungslosigkeit, tief und unbeweglich.
Sein Blick war auf einen Punkt im Nichts gerichtet. Kein Wimmern, kein Flehen. Nur ein ruhiges, gebrochenes Schweigen, das lauter sprach als jedes Schreien.
Der Vater trat ins Bild, wie ein Chirurg vor einer Operation: emotionslos und präzise. Auf einem silbernen Tablett lagen Fläschchen, sauber wie Werkzeuge in einem Labor aufgereiht. Einige der Etiketten waren beschriftet, andere entfernt oder abgekratzt. Die Flüssigkeiten darin waren farblos, aber nicht harmlos.
Nitechore spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte.
Der Mann zog sich in aller Ruhe Handschuhe über, griff zur Spritze und zog eine Flüssigkeit auf. Dann trat er an die Bank, hob den Arm seines Sohnes, der sich nicht wehrte, und setzte die Kanüle an.
„Diesmal werden wir sehen, wie weit du kommst, Janus“, sagte er.
Die Worte waren so beiläufig gesprochen, als ginge es um einen Test in der Schule. Kein Zynismus, keine Wut – nur klinisches Interesse. Der Vater drückte den Kolben der Spritze langsam herunter.
„Du musst lernen, den Schmerz zu kontrollieren. Er darf dich nicht beherrschen.“
Der Körper des Jungen zuckte, nur leicht.
Doch dann begannen sich seine Muskeln zu spannen, als würde ein innerer Sturm in ihm toben. Seine Atmung beschleunigte sich, sein Gesicht verzog sich, als wate er durch ein unsichtbares Meer aus Schmerz. Die Kamera hielt unerbittlich drauf, eingefroren auf diesem einen Moment der Entmenschlichung.
Ein leiser Laut entrang sich Janus' Kehle. Keine Gegenwehr, nur das Echo einer einstigen Bitte.
„Nicht ...“, flüsterte er.
„Bitte ... Nicht ...“
Doch sein Vater hörte nicht, oder er wollte nicht hören.
Er trat zurück, legte die Spritze beiseite und begann, Notizen zu machen. Als wäre das hier eine Studie. Kein Kind. Kein Sohn. Ein Versuchstier.
Nitechore hob eine Hand vor den Mund. Das Leuchten des Monitors spiegelte sich in seinen Augen, die sich langsam mit Tränen füllten. Nicht nur wegen des Grauens, das er sah. Sondern auch, weil ihm dämmerte, dass der Junge nicht nur gequält wurde, sondern auch gebrochen.
Er wurde geformt.
Und irgendwo, tief in der Zukunft, lief dieser Janus Vile immer noch herum.
Als Mann.
Mit dieser Kindheit in seinem Innersten.
Mit dem Summen im Ohr.
Und mit einer Leere in der Seele, die kein Licht je erreichen konnte.
Doch der Vater reagierte nicht. Kein Zucken in seinem Gesicht, kein Innehalten, kein Mitleid. Stattdessen summte er weiter dieselbe verstörende Melodie, die inzwischen mehr war als nur ein Klang. Sie war zu einem Ritual geworden. Ein dunkles Mantra, das den Raum durchdrang und jede Ecke mit Kälte füllte.
Die Kamera blieb unbeirrt auf Janus gerichtet. Nitechore spürte, wie ihm die Luft wegblieb, als der Junge unter der Wirkung der Substanz immer weiter verfiel. Sein Stöhnen war nicht mehr allein Ausdruck von Schmerz, es war das Winseln eines Wesens, das langsam aus sich selbst gelöscht wurde.
Janus’ Glieder zuckten, dann erschlafften sie. Seine Finger, die sich eben noch in die Riemen gekrallt hatten, lösten sich. Die Spannung wich aus seinem Körper, als wäre er ein zerplatzter Ballon. Seine Haut bekam einen ungesunden, bläulichen Schimmer und seine Augen, die einst voller stiller Qual gewesen waren, waren nun starr und leer wie Glas, das nie mehr reflektieren würde.
Die Zeit verging.
Nicht in Minuten. In Ewigkeiten.
Man hörte nur das stetige Rasseln seines Atems. Und das Summen.
Und dann, just in dem Moment, als es schien, als hätte der Tod selbst seine kalten Hände ausgestreckt, trat der Vater wieder vor. Ruhig. Präzise. Als hätte er auf diesen Moment gewartet. Er holte eine neue Spritze hervor, die mit einer andersfarbigen Flüssigkeit gefüllt war, die im schwachen Licht beinahe leuchtend hell erschien.
Mit der gleichen gefühllosen Sorgfalt injizierte er das Gegengift.
Und Janus lebte.
Wieder.
Es geschah schleichend, fast unmerklich. Erst ein Flackern in den Augen. Dann strömte ein Schwall Luft gierig in seine Lungen. Seine bläuliche Haut wich einem blassen, doch lebendigeren Ton. Seine Wangen bebten, als kehrten Nervenreize zurück.
Er kam zurück, aber nicht als Kind.
„Gut gemacht, Janus“, sagte der Vater zufrieden wie ein Uhrmacher, der ein besonders kompliziertes Werk neu eingestellt hat.
„Du lernst. Der Schmerz formt dich.“
Dann schnitt das Bild.
Ein Ruck ging durch das Video.
Unsauber, hastig.
Als wäre das nächste Fragment nur ungern gezeigt worden.
Die Kamera war jetzt leicht schief. Die Streckbank stand wieder im Bild. Doch diesmal lag nicht mehr der Junge von früher darauf.
Es war ein junger Mann. Sechzehn, vielleicht siebzehn Jahre alt.
Sein Körper war gezeichnet von Narben und Missbrauch, aber auch muskulös und widerstandsfähig. Eine Gestalt, die trotz all der Qualen überlebt hatte. Nicht nur körperlich, sondern auch mit einem Willen, der sich nicht hatte brechen lassen.
Und seine Augen ...
Seine Augen brannten.
Keine Angst. Kein Flehen. Keine Leere.
Nur reines, aufgestautes Feuer.
Ein Sturm, der jahrzehntelang gezügelt wurde und wartete.
Ein Ausdruck, der sagte: „Ich erinnere mich.” Ich vergesse nicht. Ich verzeihe nie.
Nitechore spürte eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper hinweg. Denn zum ersten Mal in diesen Aufnahmen …
sah er nicht mehr nur ein Opfer.
Er sah den Anfang von etwas anderem.
Etwas Dunklerem.
Etwas Unaufhaltsamem.
Der Vater trat langsam ins Bild, mit der Präzision eines Mannes, der wusste, was er tat. Die Hände tief in den Taschen seines langen Kittels vergraben, richtete er seinen Blick auf Janus, als wäre dieser nicht sein Sohn, sondern ein Versuchsobjekt, das kurz vor dem Durchbruch stand.
Dann begann er zu summen.
Dasselbe Lied. Immer dasselbe.
Wie ein Dirigent vor einer letzten, alles entscheidenden Aufführung.
Doch diesmal war etwas anders.
Janus regte sich. Zunächst kaum sichtbar. Ein Zucken in den Fingern, ein Flackern in den Augen. Als würde das Summen nicht beruhigen, sondern etwas in ihm anstoßen, etwas Dunkles, etwas Urgewaltiges.
Die Kamera wackelte, kippte und stürzte schließlich zu Boden. Der Blick wurde schief und verwaschen. Doch das Wesentliche war noch zu sehen:
Janus sprang.
Ein Sprung voller reiner, konzentrierter Wut.
Die Fäuste geballt.
Seine Augen waren wie brennende Kohlen.
„Nein!“, schrie der Vater voller Panik, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben erkannt, dass er die Kontrolle verloren hatte.
Doch es war zu spät.
Der Sohn, geformt im Feuer, schlug zurück.
Was folgte, war ein Ringen im Schatten.
Schemen von Körpern, die aufeinanderprallten.
Zerbrechende Möbel. Keuchende Atemzüge.
Und dazwischen:
der markerschütternde Schrei des Vaters.
Und Janus' Stimme, tief und dann schwarz.
Lächelnde Gesichter, eingefroren in einem Moment, der nie echt gewesen war.
Doch diesmal sah Nitechore genauer hin.
Und da ...
Ein Haus. Eher eine Halle. Immer wieder diese Hallen.
Auf jedem Bild.
Mal verschwommen, mal deutlich.
Es war immer im Hintergrund zu sehen.
Ein großes Gebäude mit einem hohen Giebel.
Alt. Imposant. Es war mir fremd und zugleich erschreckend vertraut.
Es war nicht dieses Haus.
Nicht der Ort, an dem er sich jetzt befand.
Ein Schauer kroch ihm den Rücken hinab.
Er trat näher.
Er zoomte mit dem Synect auf eines der Bilder.
Er machte ein Foto.
Ein Gedanke begann in ihm zu wachsen.
Ein Ziel.
Wenn es dort weiterging, musste er diesen Ort finden.
Denn die Geschichte von Janus Vile war noch nicht zu Ende.
Sie hatte dort vielleicht erst begonnen.
Gerade als Nitechore das Bild speichern wollte, zuckte er zusammen.
Ein Geräusch, kaum mehr als ein zischendes Flüstern, glitt an sein Ohr.
Er hielt inne.
Er drehte sich um.
Niemand.
Dann traf es ihn.
Ein beißender, stechender Geruch kroch in seine Nase, säurehaltig und künstlich wie der Rauch nach einem Laborbrand. Seine Augen begannen zu tränen, seine Lungen verkrampften sich.
„Was zum Teufel ...“
Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Ein dünner, schimmernder Nebel quoll aus den Ritzen zwischen Bodenplatten und Wänden, sickerte aus Lüftungsschächten und tropfte wie giftiger Tau von der Decke.
Es war kein Unfall.
Ein Husten krampfte durch seinen Körper. Seine Haut brannte, als würde sich ein unsichtbarer Film aus Chemikalien auf jeden Quadratzentimeter legen. Die Luft wurde dicker, schwerer, glühend wie flüssiges Metall.
Er stolperte zur Tür, doch sie war versiegelt.
Eine unsichtbare Kraft hielt sie wie verschweißt.
Die Klinke bewegte sich keinen Millimeter.
Panik.
Er rannte zum Fenster, rüttelte daran, doch auch hier: Riegel, wie verschmolzen.
„Verdammt!“, brüllte er, halb vor Schmerz, halb vor Wahnsinn.
Das Haus war keine Ruine.
Es war eine Falle.
Er griff nach einem Stuhl, holte aus und schleuderte ihn gegen das Fenster.
Ein dumpfer Knall. Risse im Glas.
Noch ein Schlag. Und noch einer.
Scherben splitterten.
Endlich gab das Fenster nach.
Er riss die letzten Glassplitter aus dem Rahmen.
Ein Windstoß, kühl und frisch, schlug ihm ins Gesicht.
Ein Sprung, dann fiel er.
Schwer. Hart.
Nass.
Keuchend lag er auf dem feuchten Boden.
Sein Körper zitterte. Seine Lungen arbeiteten wie ein überlasteter Motor.
Das Haus stand ruhig und schweigend da.
Als wäre nie etwas geschehen.
Ein letzter Husten.
Dann wurde es schwarz.
Ein Ruck.
Ein greller Lichtblitz.
Nitechore schlug die Augen auf.
Sein Blick verschwamm.
Er sah eine violette Kapuze.
„Theresa?“, fragte er.
Sie nickte. „Gut, dass wir allein sind. Sonst hättest du meinen Namen verraten.“
Langsam richtete er sich auf. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er durch einen Fleischwolf gedreht worden.
„Was … was ist passiert?“, fragte er.
Theresa zog die Kapuze zurück. Ihr Blick war ernst.
„Du lagst in dem Haus. Du hast halluziniert. Ich habe dich rausgeholt, bevor du dich selbst erstickt hast.“
Ein trockenes Lachen entwich ihm.
„Ich dachte, ich hätte es selbst geschafft …“
Theresa schüttelte nur den Kopf.
„Nein, hast du nicht.“
Sie zeigte auf ein Skidcar, das am Straßenrand stand.
„Steig ein. Tavin wartet. Er muss dich untersuchen.“
Samuel stand langsam auf.
Seine Beine wackelten, aber er konnte stehen.
Er nickte.
„Theresa … ehrlich danke.“
Sie antwortete nicht.
Aber ihr Blick sagte genug.
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