Kapitel 63 - Laserpointer

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Ein scharfes Zischen durchschnitt die Luft, so nah, dass es Barnowl die Haare auf der rechten Schläfe streifte. Im nächsten Moment explodierte hinter ihr eine kleine Ladung, die glühende Schrapnelle durch die Gasse jagte. Splitter prallten gegen die Ziegelwand, auf der sie lief. Der plötzliche Alarm über Synect beendete ihren Trainingstag jäh. Jetzt sprintete sie in voller Ausrüstung über die Dächer von Saint Veronika, wo zwischen Sakralbauten und Neon-Schildern das Chaos ausbrechen konnte, ohne dass jemand rechtzeitig reagierte.

„Theresa, Einsatz bestätigt. Zielperson ist Squint, männlich, bewaffnet und mental instabil“, hatte Tavin gesagt, als Theresa sich noch nicht einmal nach dem Training umziehen konnte. Sekunden später war Barnowl im Einsatzmodus. Ihre Kampfnadeln, das leise Summen ihrer Rüstung und ihre verstärkte Atmung, alles war aktiv. Sie war jetzt nicht mehr Theresa. Sie war Jägerin.

Unter ihr fiel ein Fenster in sich zusammen und zersplitterte, als eine Laserladung es zerfetzte. Der Täter, ein schmaler Typ mit einem selbstgebastelten Kostüm, das aussah wie eine Mischung aus Elektronikschrott und Sportswear, rannte wie ein gehetzter Käfer über die Dächer. Seine mechanische Jacke pumpte bei jedem Schritt und kleine Düsen feuerten stoßweise, um ihm kurze Sprünge zu ermöglichen. Zwischen den Schultern ragten Aufsätze heraus, an denen glimmende Energiekanäle zuckten, Waffentechnologie, die eindeutig jenseits legaler Standards lag.

„Ey, Laserpointer! Du kannst mir nicht davonlaufen!“, rief Barnowl ihm hinterher, sprang über einen Lüftungsschacht und rollte sich über die Kante eines Flachdaches.

Der Typ drehte sich flüchtig um; unter seiner viel zu engen Schutzbrille verzog sich sein Gesicht. „Ich heiße Squint, du dreckige Eule!“, brüllte er und aktivierte erneut seine Düsen.

Doch in diesem Moment hatte Barnowl bereits gezielt. Es ertönte ein kurzes, metallisches Schnappen, und eine der Nadeln aus seinem Handrückenmodul schoss heraus und traf Squint sauber in den linken Oberschenkel. Squint schrie auf, verlor den Takt in seinem Sprung, überschlug sich in der Luft und krachte seitlich gegen eine Werbetafel.

„Aaargh, du dumme Fotze!”, stieß er hervor, während er sich am Boden wand und versuchte, das Geschoss herauszureißen.

Barnowl landete geschmeidig nur wenige Schritte entfernt. Ihre Silhouette hob sich gegen das flackernde Licht der Stadt ab, und die Stoffbereiche ihres Anzugs bewegten sich im Düsensog von Squints missglücktem Aufprall.

„Achten Sie bitte auf Ihren Ton“, sagte sie ruhig und trat vor. Squint wollte gerade aufstehen, doch sie duckte sich unter seinem wuchtigen Schlagversuch, trat ihm in die Seite und nutzte den Schwung, um ihm mit einer weiteren Nadel in die Schulter zu stechen, diesmal mit einer Betäubungsladung.

„Mist … Mist … Ich war doch fast weg …“, röchelte er, taumelte zurück und versuchte, einen letzten Energiestoß aus seiner Jacke abzufeuern. Ein roter Lichtbogen schoss auf Barnowl zu. Sie warf sich seitlich ab, rollte über den Asphalt und reagierte instinktiv. In einer flüssigen Bewegung zog sie zwei weitere Nadeln, warf eine in die Jackensteuerung an seinem Rücken und die andere in das Düsensystem über seinem rechten Fuß. Beide Treffer saßen. Mit einem hässlichen Krachen explodierte die Mechanik, versengte seinen Rücken und ließ Rauch aufsteigen.

Squint sackte zusammen. Bewusstlos. Oder zumindest bewusstlos genug.

Barnowl richtete sich auf, atmete schwer und aktivierte das Synect-Mikro: „Ziel neutralisiert. Notfallkräfte zur Bergung anfordern. Und schicken Sie ein paar Leute für die Gebäudeschäden.“

Sie trat näher und sah ihm noch einmal ins Gesicht. Irgendwo zwischen Wahn, Wut und Verzweiflung lag auch Angst. Barnowl kniete sich hin und kontrollierte seine Vitalzeichen. Alles stabil. Dann richtete sie sich wieder auf und sah in die Straßen der Stadt. Die Lichter von Saint Veronika flackerten ruhig. Der Einsatz war beendet. Für heute.

Barnowl führte den fluchenden, humpelnden und wieder bei Bewusstsein befindlichen Squint langsam die Feuerwehrleitern hinunter. Jeder Schritt war ein Protest, jede Stufe wurde von einem neuen Schwall Beleidigungen begleitet.

„Lass mich los, du kostümierte Hexe! Ich schwöre, meine Leute holen mich da raus!“, knurrte er und hielt sich mühsam an der Leiter fest.

„Ja, ja, Laserpointer. Halt die Klappe und beweg dich, bevor ich dich wieder schlafen lege“, entgegnete Barnowl trocken mit einem Hauch von Müdigkeit in der Stimme. Die Jagd war vorbei, der Adrenalinschub ließ langsam nach. Sie hatte diese Art von Einsatz in den letzten Wochen mehrfach durchgezogen. Immer dieselbe Routine: ein Kleinkrimineller mit Tech-Spielzeug, der sich für einen Superschurken hielt, und sie, Theresa alias Barnowl, mittendrin, weil Samuel ihr systematisch die „Übungseinsätze“ zuschob.

„Die Großen brauchen dich noch nicht“, hatte er gesagt. „Du musst lernen, mit Unvorhersehbarem umzugehen, auch wenn es nur Idioten mit Jetpacks sind.“



Nun standen sie auf dem Bürgersteig in einer Nebenstraße von Saint Veronika. Squint kniete erschöpft und fixiert vor ihr auf dem Asphalt, seine defekte Jacke rauchte leise. Barnowl hielt einen sicheren Abstand, die linke Hand locker am Gürtel, bereit, bei Bedarf erneut zu reagieren.

Dann Sirenen. Laut, schrill und näher kommend. Blaue Lichter brachen durch den Straßendunst. Drei schwarz-silberne Einsatzskidcars von Section Shield bogen in scharfem Winkel um die Ecke und rollten mit Tempo auf sie zu. Bremslichter flackerten, Reifen quietschten. Die Türen sprangen auf, bewaffnete Einheiten stiegen aus: Helme, Visier, Schilde, taktische Ausrüstung. Das komplette Paket.

„Nicht bewegen!”, rief einer, während mehrere Waffen synchron auf Barnowl gerichtet wurden.

Sie hob die Hände, blieb aber ruhig.

Ein Mann mit einer goldenen Kommandobinde und ernster Miene trat vor. Das war der Einsatzleiter. In seiner Stimme lag weder Wut noch Unsicherheit, sondern nur Autorität.

„Ergeben Sie sich. Jetzt.“

„Ich glaube nicht“, antwortete Barnowl betont gelassen. Ihre Stimme war ruhig, doch in ihr brodelte es: „Ich habe ein Geschenk für euch. Aber ich möchte unsere Beziehung nicht vertiefen.“

Sie trat einen halben Schritt zurück, ließ Squint vor sich knien, legte den Kopf leicht schräg und fixierte die Agenten. Es war die Art von Arroganz, die sie sich mühsam antrainiert hatte – eine Hülle, hinter der sich Unsicherheit versteckte.

Theresa genoss es, frech zu sein. Zumindest nach außen. In ihrem Innersten aber ratterte es. Sie hörte, wie sich hinter ihr weitere Einheiten positionierten: klackende Stiefel auf Asphalt, das metallische Klicken von entsicherten Waffen. Es roch nach Gummi, Rauch und Adrenalin.

Sie war eingekreist.

Ihre Gedanken waren alles andere als cool. Okay. Denk nach! Denk, verdammt!

Blick nach links: eine geschlossene Seitenstraße. Rechts versperrt von einem der Einsatzwagen. Nach hinten? Zwei Beamte mit gezogenen Schilden. Vorne mindestens sechs Männer und Frauen von Section Shield mit auf sie gerichteten Energie-Impulsgewehren.

„Sie kommen hier nicht weg“, wiederholte der Anführer der Einheit mit schneidend scharfer Stimme. Kein Zögern mehr. Keine Drohung. Eine Feststellung.

Barnowl zwang sich zu einem Lächeln. „Wer sagt denn, dass ich weg will?“

Dann plötzlich ein Knall. Dumpf. Kurz. Es folgte ein Zischen und eine aufwallende Rauchwolke, die sich schlagartig zwischen sie und die Agenten legte. Der reizende Nebel kroch über den Boden, verdeckte Sichtlinien und ließ die Scheinwerfer flackern.

„Was zum …? Sichtkontakt verloren!“, rief einer der Männer.

„Einen Meter nach links. Kanalisation. Jetzt.“ Tavins Stimme. Ruhig. Klar. Aus dem Nichts.

Theresa reagierte sofort. Sie schubste Squint mit der Fußspitze hart, aber nicht brutal nach vorne, damit er sich nicht noch einmal aufrappeln konnte. Er stöhnte auf und rollte über den Asphalt.

Barnowl trat genau dorthin, wo der Rauch am dichtesten war, und entdeckte die runde Form eines geöffneten Gullydeckels. Ohne zu zögern sprang sie hinein. Sekunden später schloss sich der Deckel automatisch mit einem metallischen Klick über ihr.

Es war stockdunkel. Nur das leise Brummen eines Motors und ein pulsierendes Licht wiesen ihr den Weg. Unter ihr plätscherte leise Abwasser. Der typische, beißende Geruch der Kanalisation stieg ihr in die Nase, doch sie ignorierte ihn.

Ein schlankes, schwarzes Skidbike stand aufgeladen und betriebsbereit bereit.

Und daneben, kaum sichtbar im Dunkeln, bewegte sich ein Schatten. Eine Silhouette. Tavin trat einen Schritt vor, sein Gesicht halb im Lichtkegel. Ruhig. Gelassen.

„Ich fahre dich“, sagte er und nickte leicht.

Theresa atmete aus. „Ich dachte, du lässt mich hängen.“

Er zuckte mit den Schultern. „War knapp. Du hast gut improvisiert.“

Sie stieg hinten auf. „Danke für deinen Einsatz, Theresa“, fügte er diesmal mit echter Wärme in der Stimme hinzu. So warm, wie die Stimme eines Custodians nur sein konnte.Sie spürte, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel. Noch nicht ganz, aber der Druck wich. Der Motor brummte auf, das Licht der Rücklichter brach sich an den nassen Wänden. Dann schossen sie durch die Tunnel der Stadt.


Wenig später drückte Theresa die schwere Eingangstür zur Turnhalle auf. Nach dem Barnowl-Training noch das Turn-Training. Das Quietschen der Scharniere hallte durch den leeren Flur. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, hörte sie ein ihr vertrautes Geräusch: das rhythmische Klack-Klack von Gehhilfen auf Linoleum.

Da stand er.

Sebastian.

Er humpelte langsam voran und stützte sich schwer auf seine Unterarmstützen. Als er sie bemerkte, blieb er stehen. Ein Grinsen, irgendwo zwischen Spott und gespielter Bewunderung, breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Oha“, sagte er laut. „Unser Star. Unsere Nummer eins. Willkommen zurück, Theresa.“

Der Tonfall war süßlich-gehässig. Eine Mischung, die einem das Gefühl gab, gerade gelobt und beleidigt worden zu sein. Theresa spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Instinktiv wollte sie weitergehen, einfach an ihm vorbeigehen, ohne ein Wort zu sagen. Nicht heute. Nicht schon wieder.

Doch als sie neben ihm stand, blieb sie stehen.

Sie blieb stehen, drehte den Kopf zu ihm und sagte mit fester Stimme:

„Was?“

Er sah sie an. Überraschung flackerte kurz in seinem Blick auf, gefolgt von dem gewohnten, abschätzigen Funkeln.

Theresa holte kurz Luft. „Was habe ich dir getan, Sebastian?“ Ihre Stimme klang ruhig, beinah müde. Keine Anklage. Nur eine echte Frage.

Für einen Moment schien er zu überlegen. Doch statt zu antworten, verzog er das Gesicht, als würde ihm allein der Gedanke an eine ehrliche Reaktion körperliche Schmerzen bereiten.

Dann humpelte er weiter.

Theresa blieb noch einen Moment stehen und blickte ihm nach.

Sebastian zog eine zerdrückte Getränkedose, irgendetwas mit Cola oder Energy-Drink, aus seiner Jackentasche und warf sie mit einer fahrigen Bewegung in Richtung Mülleimer. Sie traf das Ziel nicht. Die Dose prallte gegen die Wand und kullerte in eine Ecke. Er schaute nicht einmal hin, um zu sehen, ob sie drin war.

Beim Weitergehen schwankte er kurz, als hätte ihn der Versuch aus dem Gleichgewicht gebracht. Er fing sich gerade noch, sagte aber nichts. Kein Wort mehr. Keine Antwort.

Dann war er durch die Tür verschwunden.

Theresa stand einen Moment lang allein im Flur. Die Dose lag immer noch in der Ecke. Ein kleiner, sinnloser Rest von Sebastians Auftritt. Sie seufzte, fuhr sich durch die Haare und ging in Richtung Umkleidekabine.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Der Flur war wieder still.

Kurz darauf saß Theresa auf der harten Holzbank in der Umkleidekabine. Ihre Ellbogen ruhten auf den Oberschenkeln und sie starrte auf den Boden. Ihre Sportschuhe standen ordentlich nebeneinander, die Schnürsenkel locker, als würden sie auf ein Zeichen warten.

Der Schweiß von der letzten Trainingseinheit war längst getrocknet, aber innerlich fühlte sie sich immer noch aufgewühlt – nicht von der Bewegung, sondern von der Begegnung mit Sebastian. Seine Worte hallten in ihr nach, begleitet von einem leisen Gefühl der Enttäuschung, das sie nicht genau einordnen konnte.

Was hatte sie ihm eigentlich je getan?

Plötzlich meldete sich ihr Smartphone. Der leuchtende, holografische Bildschirm riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah Samuels Namen.

Mit einem kleinen Lächeln nahm sie ab. „Hey.“

„Hey, Theresa. Ich wollte nur Bescheid geben. Ich bin dem Giftmischer auf der Spur. Ich habe ihn bald.“

Die Stimme klang knapp und sachlich, aber Theresa kannte ihn gut genug, um zu hören, dass er fokussiert war. Theresa richtete sich auf und ihr Blick wurde wach. In ihrer Stimme lag plötzlich Energie.

„Brauchst du Unterstützung? Ich bin gleich bereit. Sag einfach, wo.“

Es gab ein kurzes Zögern auf der anderen Seite, dann sagte sie: „Nein, nein, ich wollte dir nur Bescheid geben.“

Und klick, die Verbindung brach ab.

Theresa hielt das Handy noch einen Moment am Ohr, obwohl der Anruf längst beendet war. „Danke …“, sagte sie leise, doch niemand hörte es mehr. Ihre Worte verpufften im leeren Raum.

Sie atmete tief ein und ließ sich gegen die kühle Wand zurückfallen. Die Tür zur Umkleide öffnete sich mit einem lauten Klack.

„Ey King, was geht bei dir?“ Theresas Stimme war plötzlich lauter als nötig; der Reflex, ihre Stimmung hinter einem lockeren Spruch zu verstecken, funktionierte automatisch. Sie setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht ganz erreichte.

King, ihre Freundin und Trainingspartnerin, stand im Türrahmen, verschränkte die Arme und sah sie mit gespieltem Ernst an.

„Kommst du? Du trödelst!“, sagte sie und zog dabei eine Schnute wie ein freches Kind. „Oder willst du heute in der Umkleide schlafen?“

Theresa grinste. King war eine dieser Menschen, die mit einem Satz die ganze Welt ein Stück leichter machen konnten. Sie nickte und schnappte sich ihr Handtuch.

„Bin schon unterwegs, Frau Lehrerin.“

Sie gingen gemeinsam hinaus und die Tür fiel hinter ihnen zu.


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