Kapitel 62 - Feuerstelle
Die Sonnenstrahlen fielen wie goldene Schleier durch das dichte Blätterdach des Waldstücks und tanzten auf dem weichen Boden Alasterias. Der Duft von feuchter Erde und salziger Meeresluft lag in der Luft. Die Insel, die einst Teil des südlichen Kontinents Afran gewesen war, hatte sich vor mehr als sechzig Jahren als Folge eines gewaltigen tektonischen Ereignisses vom Festland gelöst. Wie ein verlorenes Fragment war sie auf den Atlantik getrieben worden. Und doch hatte sie in ihrer Isolation geblüht.
Wo einst wilde Natur das Land dominierte, war nun eine neue Balance zwischen Technik und Ökologie entstanden. Inmitten dieser natürlichen Pracht hatte die Organisation Globe Preservation eine kleine, nachhaltige Forschungsbasis errichtet. Maila saß auf einer hölzernen Bank, die von knorrigen Wurzeln umrankt war, und ließ den Blick über die Dächer der Basis schweifen. Von hier oben konnte sie jeden Zugangspunkt, jede Bewegung der Drohnen sowie die gläsernen Kuppeln über den Biokammern erkennen.
Der Sommerwind spielte sanft mit ihren dunklen Locken und strich wie eine vertraute Hand über ihre Haut.
Ihr Blick glitt über das satte Grün der Lichtung, als sich in der Ferne zwei Silhouetten aus dem Dunst des Morgens lösten. Langsam näherten sie sich dem Aussichtspunkt. Mit jedem Schritt wurden ihre Konturen deutlicher, ihre Bewegungen vertraut. Schließlich erkannte Maila die beiden Gestalten: Adaja und Yasmin.
Seit dem folgenschweren Vorfall in Mahan, bei dem Adajas Bruder Sinan die Kontrolle über seine Fähigkeiten verloren hatte, gehörte sie zur Gruppe. Seine Erdkraft hatte damals unkontrollierte Zerstörung ausgelöst und Maila war Teil des Einsatzteams gewesen, das verhindern musste, dass er sich und andere in den Abgrund riss. Seitdem hatte Adaja Alasteria kaum verlassen. Sie hatte sich der Erforschung der Deviants verschrieben – jener mysteriösen genetisch veränderten Menschen, die auf der Insel lebten. Dank ihres außergewöhnlichen Wissens über Biotechnologie war sie schnell zu einer Schlüsselfigur in der Forschungsbasis geworden.
Yasmin hingegen war erst vor einigen Wochen unfreiwillig nach Alasteria gekommen. In ihrer Heimat Kansas war sie von einer schleimartigen Substanz getroffen worden, die nachweislich zur Alienrasse der Shenth gehörte. Seither wurde sie regelmäßig untersucht. Nachdem sich der Anführer der Shenth nach der Entführung Nathaniels schließlich zu erkennen gegeben und einen großflächigen Angriff angekündigt hatte, wurde entschieden, dass Yasmin auf der Insel bleiben sollte – zumindest bis die Bedrohung gebannt war.
Die beiden blieben einen Moment lang schweigend vor Maila stehen. Der Wind wehte leise durch die Bäume. Anschließend ließen sich Yasmin rechts und Adaja links von Maila auf der alten Holzbank nieder. Die drei Frauen saßen in einer stillen Dreiecksformation, während die Brise durch das Laub flüsterte und der Duft von salziger Meeresluft, vermischt mit Blütenaromen, über die Insel Alasteria strich.
„Was machst du hier draußen ganz allein?“, fragte Adaja schließlich und durchbrach mit ihrer gewohnt offenen, fast sorglosen Stimme die Ruhe.
Maila atmete tief ein, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen. „Ein bisschen die Stille genießen. Und … nachdenken.“
Adaja sah sie von der Seite an, ein weiches Lächeln in ihrem Blick. „Seit Nathaniel entführt wurde, ziehst du dich immer mehr zurück. Das bist du nicht, Maila.“
Maila senkte den Kopf leicht, ihre Hände lagen still auf ihren Knien. „Ich weiß“, murmelte sie. „Aber es ist schwer. Zu viele Menschen, die ich geliebt habe, sind einfach … verschwunden. Nathaniel war anders. Er hat mich gesehen. Er hat mich aufgenommen, als ich kaum noch an Verbindung geglaubt habe. Und jetzt ist auch er fort.“ Ihre Stimme wurde brüchig. Der Schmerz saß tief.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann schob sich Yasmins ruhige Stimme in die Stille: „Du hast noch die Möglichkeit, ihn zurückzuholen. Es gibt bislang keinen Hinweis darauf, dass das unmöglich ist.“
Die Worte trafen wie ein gezielter Pfeil. Nicht schmerzhaft, aber unerschütterlich wahr. Maila hob langsam den Blick und sah die Entschlossenheit in Yasmins Augen. Sie erinnerte sich daran, was Yasmin ihr einmal von ihrer Flucht vor der eigenen Familie erzählt hatte. Yasmin hatte ihre Vergangenheit nicht hinter sich gelassen, weil sie musste, sondern weil sie es wollte. Maila wollte gerade etwas sagen, da legte Yasmin sanft ihre Hand auf ihren Oberarm.
„Oh Mann, was für eine Stimmung hier“, lachte Adaja und versuchte, die Schwere aus der Luft zu vertreiben. „Fatayat, wir nehmen dich jetzt mit zu deinen Tests. Danach machen wir uns einen richtig entspannten Abend, okay?“ Sie grinste breit. „Ich habe sogar die Feuerstelle für uns reserviert, niemand kommt dazwischen.“
Maila hob eine Augenbraue, während sie sich langsam erhob. „Fatayat? Was heißt das eigentlich?“
Adaja zwinkerte. „Mädchen. Oder Mädels. So im Sinne von ‚Hey, meine Mädels‘. Ein kleines Überbleibsel aus meiner Kindheit.“
Maila nickte lächelnd. „Klingt schön. Fast wie ein Versprechen.“
„Das ist es auch“, warf Yasmin ein, während sie sich ebenfalls erhob. „Ein Versprechen auf einen Abend, an dem wir all das hier für ein paar Stunden vergessen dürfen.“
Sie schlenderten gemächlich über das grün bewachsene Gelände in Richtung des Forschungslabors. Die Nachmittagssonne spiegelte sich auf den Glasflächen des Gebäudes.
„Weißt du, was wir echt bräuchten?“, begann Maila, während sie gedankenverloren einen kleinen Kiesel mit dem Fuß vor sich her kickte. „Abwechslung. Ich meine, ich kann mittlerweile kämpfen und meine Fähigkeiten einigermaßen kontrollieren, das ist cool, keine Frage. Aber bei Fremdsprachen, Strategie oder Taktik habe ich null Ahnung.“ Sie warf Adaja einen schiefen Blick zu. „Vielleicht bräuchten wir wirklich mal ’ne Art ... anderen Unterricht. Etwas, das unseren Kopf fordert, nicht nur unsere Kräfte.“
Adaja grinste, während sie ihren Synect-Chip aktivierte. Mit einem leisen Surren öffnete sich die automatische Tür vor ihnen. „Maila, wir sind kein Internat“, konterte sie schmunzelnd. „Und keine Schule. Aber ...“, sagte sie, während sie beim Eintreten halb zu Maila umdrehte. „Vielleicht ist genau das das Problem.“
„Was meinst du?“, fragte Maila, während sie in den kühlen, sterilen Gang des Labors traten.
„Ich meine, dass wir wie Kämpfer ausgebildet werden. Aber vielleicht sollten wir anfangen, wie Menschen zu denken. Strategisch, kreativ, unabhängig. Nicht wie Waffen.“
Maila dachte kurz darüber nach. Dann nickte sie langsam. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere eigene Art von Unterricht einfordern.“
Das Labor war eine Welt aus glänzendem Weiß, glatt polierten Oberflächen und schwebenden Hologrammen. Zwischen den hochmodernen Analyseanlagen, Reagenzgläsern und wandfüllenden Displays herrschte absolute Ordnung. Nichts lag zufällig herum. Jeder Zentimeter war durchdacht, jede Linie hatte ihre Funktion.
Maila sog den ihr vertrauten Geruch von sterilem Metall und sauberer Luft ein. Hier arbeiteten nur zwei Menschen regelmäßig: Adaja mit ihrem biotechnologischen Scharfsinn und Jonah, der heute nicht da war. Wenn jemand wusste, wie man Ordnung hielt, dann diese beiden.
Ohne ein Wort ging Maila auf die große Maschine zu, die wie ein metallischer Kokon aussah. Ihr Körper kannte den Ablauf, auch wenn ihr Bauch jedes Mal leise rebellierte. Sie stellte sich exakt in die vorgesehenen Markierungen und spürte die glatten Metallflächen unter ihren Füßen. Mit einem zischenden Geräusch schloss sich der Kokon um sie und ein Pfeifen drang durch den Raum. Für einen Moment war alles dunkel.
Dann erklang Adajas ruhige Stimme über das Audiosystem: „Okay, Maila, ich starte die Messung. Wir analysieren, wie sich deine Deviant-Fähigkeiten seit dem letzten Mal entwickelt haben.“
Maila schluckte. Sie wusste das natürlich, sie hatte diesen Satz schon oft gehört. Trotzdem ließ er ihr jedes Mal einen kalten Stich durch den Magen fahren. „Alles klar. Ich bin bereit. Ich bewege mich nicht“, antwortete sie, während ein gleichmäßiges Vibrieren durch die Maschine ging.
Sie hörte, wie das System zu arbeiten begann: leises Summen, kurze Energiestöße und vibrierende Impulse, die wie ein unsichtbares Netz durch ihren Körper zogen. Minuten vergingen. Dann hörte sie ein leises Klicken, der Kokon öffnete sich langsam und gab sie wieder frei.
Maila trat heraus und blinzelte kurz gegen das sterile Licht. Yasmin saß inzwischen auf einem Drehstuhl neben Adaja und ließ sich aus Langeweile im Kreis drehen. Ein Fuß am Boden bremste sie immer wieder.
Adaja beugte sich über das Hologramm, ihre Augen huschten schnell über die Zahlen und Diagramme. Ohne aufzublicken, murmelte sie: „Stabil. Sogar ein leichter Anstieg der Energieflussrate. Du wirst stärker. Aber ... Du bleibst im grünen Bereich.“
Maila atmete hörbar aus und ließ die Anspannung aus ihren Schultern gleiten. „Das ist ... gut, oder?“
Adaja nickte und deaktivierte mit einer Handbewegung das Hologramm. Die Lichtfelder verschwanden wie Nebel. Dann drehte sie sich zu den beiden um und lächelte schief.
„Optimal. Jetzt lasst uns den Abend beginnen, wir haben ihn uns verdient.“
Kurz darauf saßen sie gemeinsam an der Feuerstelle, umgeben von der warmen Dämmerung Alasterias', während der Wind leise durch die Palmenblätter strich. Die Sonne färbte den Himmel tief orange, das langsam in ein zartes Violett überging. In der Mitte des kleinen Kreises stapelte Adaja konzentriert Holzscheite zu einem pyramidenartigen Turm, den sie mit getrockneten Blättern und etwas Zunder entzündete. Mit einem leisen Fwoosh sprang die Flamme an, zuerst zaghaft, dann hungrig und knisternd. Die drei saßen im lockeren Kreis um das Feuer und waren mit einer Mischung aus salzigen Snacks, süßen Keksen und Getränken in recycelbaren Dosen ausgestattet. Die Hitze der Flammen vertrieb die Kühle des aufkommenden Abends und das Licht tanzte auf ihren Gesichtern.
„Wie bist du eigentlich auf die Idee mit dem Feuerabend gekommen?“, fragte Maila neugierig, während sie sich ein Stück Trockenobst in den Mund steckte.
Adaja lächelte, blickte kurz ins Feuer und antwortete dann: „Ich war es leid. Immer nur Training, Analysen, Missionen, Meetings … Wir drei, das sind die Neuen. Keine offiziellen Mitglieder von Globe Preservation, keine Soldatinnen, keine Agentinnen. Nur … wir. Mädchen, die reingeworfen wurden in all das hier.“ Sie schaute kurz auf. „Ich dachte, wir brauchen einen Moment, der uns gehört. Ohne Scanner, ohne Testprotokolle. Einfach wir.“
Yasmin zog die Knie an und legte das Kinn darauf. Ihr Blick ruhte auf den Flammen. „Ich glaube, du hattest recht“, sagte sie leise. „Ich habe das echt gebraucht. Irgendetwas Echtes.“ Maila nickte zustimmend. Ein Hauch von einem Lächeln zuckte über ihr Gesicht.
Sie redeten lange. Mal sprachen sie über alte Erinnerungen, mal über alberne Dinge wie Adajas Backversuche in der Mikrowelle im Labor oder Yasmins Theorie, dass die Shenth eigentlich nur missverstandene Astral-Schleimer waren.
Sie lachten. Sie schwiegen. Und sie spürten, dass sie zumindest an diesem Abend nicht allein waren, inmitten einer Welt, die sich zu schnell veränderte.
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