Kapitel 59 - Atlon
Die ersten Strahlen der Morgensonne durchbrachen das dichte Blätterdach wie flüssiges Gold und hüllten den Wald in ein warmes, flackerndes Licht. Vögel zwitscherten zaghaft, als wollten sie den neuen Tag vorsichtig begrüßen. Inmitten dieser friedlichen Szenerie kämpfte Nathaniel mit seinen eigenen Gedanken und dem schmerzenden Ziehen in seinen Armen.
Xhi-Tun ging voran, sein Gang war ruhig und fast lautlos. Er bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit durch das unwegsame Gelände, als wäre der Wald sein zweites Zuhause. Nathaniel hingegen musste sich bei jedem Schritt konzentrieren, um nicht zu stolpern oder sich erneut an den überall lauernden Dornen zu verletzen.
Die Anstrengung hinterließ Spuren. Jeder Ast, den er zur Seite schob, erinnerte ihn an die Grenzen seines Körpers. Ein stechender Schmerz pochte in seinen Muskeln, nicht akut, aber zermürbend. War ich wirklich bereit für diesen Weg?, fragte er sich. Es war nicht das erste Mal, dass Zweifel in ihm aufkeimten. Im Training hatte er gelernt, Verletzungen zu vermeiden, seinen Körper zu kontrollieren und zu verstehen. Doch das hier war kein Trainingsraum. Dies war der Ernstfall, und hier galten andere Regeln. Regeln, die kein Lehrer, kein Buch und kein Ratschlag vollständig vermitteln konnten.
„Komm schon, wir sind gleich da“, sagte Xhi-Tun, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme klang ruhig, beinah heiter.
Nathaniel hob den Blick. Vor ihnen schälten sich die Umrisse einer gewaltigen hölzernen Mauer aus dem morgendlichen Nebel. Das Holz schimmerte in einem ungewöhnlich sanften Türkis und war nicht braun oder grau, wie man es von gewöhnlichen Palisaden erwarten würde. Es wirkte fremd und zugleich alt, als hätte es viele Jahre überdauert, ohne dabei an Leben zu verlieren.
Seine Schritte verlangsamte sich unwillkürlich. Der Anblick war so unerwartet und surreal, dass er den Schmerz in seinen Armen für einen Moment vergaß.
Xhi-Tun blieb stehen, drehte sich zu ihm um und lächelte. Es war kein aufgesetztes, höfliches Lächeln, sondern offen, ehrlich und beinahe stolz.
„Wir sind da“, sagte er schlicht.
Langsam öffnete sich das große Eingangstor vor ihnen, ohne dass jemand sichtbar Hand anlegte. Es knarrte nicht, es ächzte nicht, es glitt lautlos auf.
Ein kühler Hauch strömte Nathaniel entgegen, vermischt mit einem Hauch von Harz, Rauch und etwas, das er nicht zuordnen konnte, etwas Älteres, Ursprünglicheres. Er trat durch das Tor und wusste, dass ihn jenseits dieser Mauer etwas erwarten würde, das ihn verändern würde.
Vor ihnen erstreckte sich ein Dorf, aber keines, wie Nathaniel es je zuvor gesehen hatte. Es war erfüllt von Leben, Farben und einer beinahe überfordernden Vielfalt. Hunderte intelligente Wesen bewegten sich geschäftig durch die geschwungenen Gassen. Ihre Stimmen bildeten ein vielstimmiges Murmeln, das sich mit dem Klirren von Werkzeugen und dem Knistern kleiner Feuer vermischte.
Kreaturen in den schillerndsten Farben und außergewöhnlichsten Formen bevölkerten den Platz. Einige waren hochgewachsen und schlank, mit schimmernden Häuten wie flüssiges Metall, andere klein und gedrungen, mit federähnlichen Auswüchsen, die im Wind tanzten. Ein Wesen schob mit mehreren Armen einen Karren, in dem dampfende Töpfe lagen. Ein anderes balancierte mühelos auf zwei dünnen Beinen, während sein langer Hals sich neugierig zu jedem Kunden senkte.
Trotz all dieser Unterschiede verband sie eines: Bewusstsein. Intelligenz. Es war keine Tierwelt, kein Zoo, keine Fantasie, es war eine Gemeinschaft. Nathaniel spürte es sofort. Ihre Blicke waren wach, ihre Bewegungen zielgerichtet, ihre Gespräche sinnreich, auch wenn er kein Wort verstand.
Sie durchquerten einen Marktplatz, der wie das vibrierende Herzstück des Dorfes wirkte. Händler boten Waren an, die für Nathaniel ebenso fremdartig wie faszinierend waren. Es gab Früchte in leuchtendem Blau, rauchende Gerichte mit unbekannten Aromen und Stoffe, die im Licht zu flirren schienen. Nichts erinnerte ihn an das, was er von Terra kannte.
Verblüfft verlangsamte Nathaniel seine Schritte, drehte den Kopf nach links, dann nach rechts. Er wollte alles sehen und einordnen, war aber ständig von der Reizflut überfordert. Es war wie ein Spaziergang durch einen lebendigen Traum.
Xhi-Tun bemerkte das, wandte sich halb zu ihm um und lächelte geduldig. „Wir sind gleich da“, sagte er mit ruhiger Stimme, um Nathaniel wieder auf den Weg zu fokussieren.
Sie gingen nun zielgerichteter vorbei an einem überdachten Bereich, in dem kleine Kreaturen mit glänzenden Augen auf bunten Matten saßen und sich offenbar in einer Art Unterricht befanden. Immer wieder wandten sich neugierige Blicke dem Fremden zu, doch niemand schien feindselig, sondern lediglich interessiert.
Vor ihnen ragte ein größeres Gebäude aus dem Ensemble heraus. Es war aus dem gleichen türkisfarbenen Holz wie die Mauer gefertigt, doch es besaß zusätzliche Verzierungen, die wie eingelegte Kristalle wirkten und in der Morgensonne schimmerten. Das Gebäude hatte eine einladende, fast zeremonielle Aura.
Sie traten durch den hölzernen Eingangsrahmen und wurden sofort von der warmen, rauchigen Luft einer großen Halle empfangen. In der Mitte loderten mehrere offene Feuerstellen, über denen Töpfe hingen oder auf denen spitze Metallstäbe ruhten, an denen unbekannte Speisen brutzelten. Rund um die Feuer saßen Gruppen verschiedenster Gestalten, die sich unterhielten, aßen oder ruhig beobachteten.
Die Halle war ein Zentrum des Austauschs und des Zusammenseins, ein Ort, der wie das Herz einer Gemeinschaft wirkte.
Sie bewegten sich leise zwischen den Gruppen hindurch. Am anderen Ende der Halle erreichten sie eine weitere Tür, die mit Symbolen verziert war, die Nathaniel nicht deuten konnte, die er aber dennoch instinktiv als bedeutungsvoll empfand.
Xhi-Tun blieb stehen, legte die Hand auf das Holz und blickte kurz zu Nathaniel. Dann öffnete er die Tür. Xhi-Tun zögerte nicht. Mit einem selbstverständlichen Schritt trat er durch die Tür.
Der Raum war rund wie eine Höhle, nur dass seine Wände aus demselben türkisfarbenen Holz bestanden. In der Mitte stand ein massiver, rauer Felsbrocken, so groß wie ein kleiner Wagen, mit grauer, poröser Textur.
In der linken Ecke hockte eine blonde Frau mit zusammengezogenen Schultern und aufgeschrecktem Blick. Ihre Haut war blass, ihre Kleidung fremdartig, doch ihre Gesichtszüge waren menschlich. Sie wirkte, als würde jede Bewegung um sie herum sie tiefer in ihre Unsicherheit treiben. Als wäre sie Teil dieses Ortes und zugleich völlig fehl am Platz. In der rechten Ecke saß ein Wesen, das Nathaniel den Atem stocken ließ: Es war humanoid, aber seine Haut war glatt und blassgrau, völlig haarlos, und seine leeren, weißen, pupillenlosen Augen schienen durch Dinge hindurchzusehen. Es wirkte nicht bedrohlich, sondern unnahbar wie eine lebende Statue, die alles registrierte und nichts vergaß.
Xhi-Tun hob die Arme in einer offenen Geste. „Das ist Nathaniel“, sagte er mit ruhiger, einladender Stimme. „Er ist nun unser Gast.“
Noch bevor jemand reagieren konnte, vibrierte eine tiefe, grummelnde Stimme durch den Raum. Sie kam von überall und von nirgends.
„Willkommen, Nathaniel“, sagte die Stimme.
Der gewaltige Fels in der Mitte begann sich plötzlich zu regen. Risse öffneten sich, als würden sich uralte Gelenke strecken. Zwei riesige Arme formten sich, eine Brust, ein Kopf mit steinernen Zügen. Die Kreatur erhob sich langsam Stück für Stück und stand schließlich in voller Größe da: ein steingewordener Riese, ein Golem mit moosbedeckten Schultern und leuchtenden Adern unter der Oberfläche.
„Ich heiße Greengore“, sagte er mit ehrwürdigem Tonfall. „Ich habe dieses Dorf gegründet. Und ich heiße dich willkommen.“
Nathaniel stand da, unfähig zu sprechen. Xhi-Tun sprach weiter, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet. „Nathaniel kommt von Terra.“
Bei diesem Wort zuckte die blonde Frau zusammen, als hätte man sie körperlich getroffen. Selbst das graue Wesen auf der anderen Seite hob nun leicht den Kopf.
Greengore nickte langsam und schwer. „Terra ...“, wiederholte er. „Es ist lange her, seit ich diesen Namen gehört habe.“
Nathaniel rang sich endlich Worte ab. „Ich will nicht unhöflich sein“, sagte er vorsichtig, aber bestimmt. „Doch ich möchte wieder zurück. Ich will nach Hause. Wie komme ich hier weg?“
Greengore machte eine Geste. Ein flacher, runder Stein glitt aus dem Boden empor – ein Sitzplatz, schlicht, doch einladend. „Setz dich“, sagte er. „Denn die Antwort ist nicht leicht.“
Zögernd nahm Nathaniel Platz, seine Hände umklammerten die Knie.
Greengore sah ihn lange an. Dann sagte er:
„Gar nicht.“
Eine bedrückende Stille senkte sich über den Raum. Nathaniel wollte aufbegehren, fragen, schreien, doch Greengore hob wieder die Stimme, diesmal mit düsterem Nachdruck.
„Die Shenth bauen aus den Planeten, auf denen sie landen, etwas, das sie den Ursprung nennen. Sie entziehen den Welten die Essenz, das Leben, die Magie, das Gedächtnis. Was zurückbleibt, ist Staub. Terra scheint der Nächste zu sein.“
Nathaniels Brust zog sich zusammen. „Und das ... das akzeptiert ihr einfach so?“, sagte er mit bebender Stimme, die in einen Aufschrei überging. „Ihr schaut zu, wie sie meine Welt zerstören?“
Greengore antwortete mit Nachdruck, seine Stimme donnerte. „Wir haben keine Wahl!“
Er wies auf die blonde Frau. „Iris. Sie hat sich gewehrt. Sie ist eine Kriegerin der Golden Esperance, einem uralten Orden, der einst gegen das Unvermeidliche kämpfte. Jetzt ist sie ein Schatten. Gebrochen. Und der Orden ist nicht mehr.“
Seine Augen funkelten auf, seine steinerne Haut spannte sich. „Wir sind im Ilum, Nathaniel. Dem Schiff der Shenth. Wir sind nicht auf einem Planeten, wir sind in einem Gefängnis. Für sie sind wir nichts weiter als ... Tiere.“
Die blonde Frau Iris schloss die Augen.
Der grauhäutige Mann blieb plötzlich stehen. Sein langer Mantel wehte in einem leichten Luftzug, der durch die Gasse zog. Er drehte sich halb zu Nathaniel um, sein Blick ruhig, aber durchdringend. Die Stimme, die er erhob, war sanft, beinah traurig, und trug den Hall jahrhundertealter Erinnerungen in sich.
„Man nennt mich Kalyx“, sagte er. „Ich verstehe deinen Schmerz. Deine Fragen. Deinen Zorn.“
Er schwieg einen Moment, als müsse er seine Gedanken ordnen. Dann sprach er weiter.
„Nur die Wesen haben ihren Glauben verloren. Sie haben damit begonnen, Dörfer zu gründen und sich in Gruppen abzuschotten. Zwar gibt es noch rudimentäres Stammesverhalten, kleine Reiche, Kämpfe und Bündnisse, aber das ist ein Rückfall. Kein Fortschritt.“
Er seufzte leise, beinah wehmütig, und ging weiter, vorbei an Häusern mit organischen Strukturen, die eher gewachsen als gebaut schienen. In der Luft lag der Geruch von Harzen und fremden Gewürzen.
„Einst gab es das Unio Mundorum“, fuhr Kalyx fort. „Ein Rat, dem alle bekannten Völker angehörten, eine Vereinigung der Welten, geschaffen, um Ordnung, Frieden und gegenseitige Unterstützung zu sichern. Sie wachten über das Gleichgewicht zwischen Magie, Technologie und Leben.“
Seine Stimme wurde härter.
„Die Shenth haben den Rat ausgelöscht. Mit einem einzigen, gezielten Schlag. Und mit ihm starb die Hoffnung vieler Rassen. Denn sie wussten: Wenn selbst der Unio Mundorum fällt, wer sollte dann noch Schutz bieten?“
Nathaniel schluckte. Er wollte etwas erwidern, doch Kalyx sprach unbeirrt weiter.
„Einer Gruppe war es damals gelungen, Widerstand zu leisten: die Golden Esperance. Ein Orden von Kriegern, Weisen und Wächtern. Sie standen für das Licht, für Ehre und den Schutz der Schwachen. Iris ...“
Er hielt einen Moment inne.
„... ist die Letzte von ihnen. Die Letzte, die den Kampf überlebt hat. Und nun … ist auch sie gebrochen.“
Ein kurzer Blick zurück zu Nathaniel. „Das gesamte Congeries Planetarum, das Bündnis der bewohnten Welten, ist gefallen. Was geblieben ist, sind Splitter. Und Angst.“
Sie erreichten eine kleine Hütte am Rande des Dorfes, die niedriger als die anderen war und eine Tür aus verwobenem Material hatte, das in feinen Linien pulsierendes Licht abstrahlte.
Kalyx klopfte nicht. Er trat ein. „Ashux“, sagte er sanft, „kannst du dich um unseren Gast kümmern? Er hat Verbrennungen an den Armen.“
Im Inneren der Hütte herrschte Dämmerlicht. An den Wänden hingen Kräuterbündel, Gläser mit schimmernden Flüssigkeiten und filigrane Instrumente. Aus einer Ecke trat eine Frau hervor, deren Haut hellblau war wie gefrorenes Licht. Auf ihrer Stirn wuchs eine verknorpelte Struktur in Form eines geschlossenen Kreises ein Zeichen, das sie einzigartig wirken ließ. Ihre Augen leuchteten in einem ruhigen Violett.
„Natürlich“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Ihre Stimme war melodisch, beinah beruhigend. Sie deutete Nathaniel an, sich zu setzen, und begann, aus einem Gefäß eine dickflüssige Salbe zu entnehmen.
Sie trug die Paste vorsichtig auf seine verletzten Arme auf. „Greengore stammt von einem Volk, das einst für seine Alchemie berühmt war. Ihre Mixturen konnten heilen, stärken und manchen sogar Träume schenken“, erzählte Kalyx während der Behandlung.
Die Salbe wirkte sofort. Ein kühles, prickelndes Gefühl breitete sich aus, nahm den Schmerz und löste die Hitze aus seiner Haut. Nathaniel atmete auf – ein erster Moment des körperlichen Friedens seit Stunden.
„Doch auch Greengores Volk wurde ausgelöscht. Nur er hat überlebt, und das auch nur, weil er zu den Ersten gehörte, die in dieses Schiff gebracht wurden. Ilum ist ein lebendes Gefängnis, geschaffen von den Shenth. Biologisch, bewusst, unendlich groß. Ein Moloch, der Planeten verschluckt und sie nie mehr freigibt.“
Nathaniel lauschte, während sie sanft die Reste der Salbe verteilte. Ihre Berührung war warm und sicher.
„Greengore hat immer wieder versucht auszubrechen“, sagte Kalyx leise. „Er hat verhandelt, gekämpft, geträumt. Aber es gelang ihm nie, die Völker hier zu vereinen. Nie genug für einen gemeinsamen Aufstand.“
Kalyx schaute Nathaniel an. „Vielleicht, Nathaniel, gelingt es diesmal.“
„Dann reden wir eben mit allen“, sagte Nathaniel mit fester, fast trotziger Stimme.
Xhi-Tun senkte den Blick. Etwas Dunkles, beinah Resigniertes legte sich auf sein Gesicht. „Das ist … unmöglich“, murmelte er. Nach kurzem Zögern fügte er leise hinzu: „Aber, Kalyx, Nathaniel ist wirklich mächtig. Er hat ein Exhes mit seinem Licht besiegt. Ganz allein.“
Kalyx’ Augen wanderten langsam zu ihm. Für einen Moment sagte er nichts. Dann antwortete er trocken und beinahe nüchtern: „Und dabei hat er sich verletzt.“
Nathaniel stand auf. Ashux hatte ihre Behandlung gerade beendet. Die kühlende Wirkung der Salbe war noch spürbar auf seiner Haut. Er streckte die Arme, prüfte seine Beweglichkeit und richtete den Blick entschlossen auf die beiden.
„Ihr kennt diese Welt, dieses … Ilum, besser als ich“, begann er ruhig. „Ihr wisst, was möglich ist und was nicht. Aber wenn ich hier feststecke, wenn das meine neue Realität ist, dann will ich wenigstens wissen, wie ich meine Kräfte richtig einsetzen kann.“ Er sah erst Kalyx, dann Xhi-Tun an. „Gibt es jemanden, der mich ausbilden kann? Oder irgendetwas, das mir hilft, stärker zu werden?“
Kalyx öffnete den Mund, als wollte er antworten, doch in diesem Moment zerriss ein schriller Schrei die Luft. Dann erklang eine durchdringende Stimme.
„Triklin! Triklin!“
Alarmrufe. Panik. Schritte in Eile, Schreie in fremden Sprachen. Ein dumpfer Gong schlug irgendwo dreimal an.
Kalyx reagierte augenblicklich. Mit einer schnellen Handbewegung zog er ein Portal aus dem Raum selbst hervor: ein ovales, bläulich flackerndes Fenster. Ohne zu zögern sprang er hindurch. Im nächsten Moment sah Nathaniel ihn in weiter Entfernung auf der Mauer des Dorfes stehen, den Blick wachsam in die Ferne gerichtet.
„Wir sollten uns verstecken“, sagte Xhi-Tun angespannt.
Doch Nathaniel schüttelte den Kopf. Sein Blick war ruhig, fast unerschütterlich. „Nein.“
Mit einem Ruck aktivierte er seine Rüstung. Energie schoss durch seinen Körper, goldenes Licht hüllte ihn ein und zeichnete leuchtende Linien über seine Glieder. Ein zischendes Geräusch ertönte, dann stieß er sich mit voller Kraft vom Boden ab. Wie ein Pfeil schoss er durch die Luft und landete mit einem metallischen Aufprall neben Kalyx auf der Mauer.
Der alte Krieger sah ihn überrascht an. „Du bist verrückt“, sagte er.
Nathaniel blickte ernst in die Ferne. „Wie besiegen wir sie?“
Kalyx schwieg einen Moment, dann sagte er mit düsterem Unterton: „Wir besiegen sie nicht. Wir halten aus. Und hoffen, dass sie nicht reinkommen.“
Nathaniel presste die Lippen zusammen. Nein, das reichte ihm nicht. Nicht mehr. Mit einem Satz sprang er von der Mauer hinab ins offene Feld davor. Der Boden bebte unter seinen Füßen. Staub wirbelte auf.
Vor ihm näherten sich albtraumhafte, etwa hüfthohe Kreaturen mit glitzernden, violetten Panzern. Ihre Körper waren spindeldürr, sie hatten zu viele Beine und ihre Bewegungen waren zu schnell. Ihre Augen leuchteten in grellem Blau – seelenlos und doch zielgerichtet.
Nathaniel hob die Hände und konzentrierte sich. Sein Licht begann zu flackern und zu pulsieren, jedoch weder gleichmäßig noch kontrolliert. Er konnte es spüren: Die Kraft war da, aber sie war wild. Roh.
Er blickte zur Mauer zurück. Dort standen sie. Greengore stand unbeweglich wie ein Denkmal. Iris stand mit verschränkten Armen da, ihr Blick war abwartend, aber nicht gleichgültig. Und Xhi-Tun mit einem Ausdruck aus Angst und Hoffnung zugleich.
Alle sahen auf ihn. Alle warteten. Für einen Moment spürte Nathaniel den Druck dieser Erwartung wie eine Last. Aber er wich nicht zurück.
Nicht diesmal.
Die Triklin hatten sich auf ihn fixiert. Ihre vielgliedrigen Beine zuckten mit rasender Geschwindigkeit über den Boden, ihre giftigen Reißzähne waren geöffnet. Dann, als hätten sie ein lautloses Kommando erhalten, sprangen sie gleichzeitig auf ihn zu.
Nathaniel riss die Hände hoch. Energie flackerte um seine Finger, goldene Blitze zuckten in die Luft. Mit einem wütenden Schrei schleuderte er eine Druckwelle aus Licht nach vorne, die die vordersten Kreaturen in der Luft zerriss. Gliedmaßen flogen, chitinartige Panzer zerbarsten. Zwei weitere Triklin explodierten regelrecht unter der Wucht seiner Schübe.
Doch sie kamen nach. Immer mehr. Dutzende.
Die nächste Welle erreichte ihn, sprang auf ihn und klammerte sich an seine Rüstung. Ihre Klauen kratzten über das Energiefeld und ihre Kiefer schnappten nach den Zwischenräumen seiner Panzerung. Nathaniel brüllte, sprang kraftvoll in die Höhe und schleuderte im Flug einen weiteren Energiestoß in alle Richtungen.
Die Kreaturen fielen wie Fallobst von seinem Körper. Ein gleißendes Flackern, dann zwei gezielte Salven, und die letzten klammernden Wesen zersplitterten unter seinem Licht. Er landete schwer atmend wieder am Boden und war bereit, weiterzukämpfen.
Doch dann kam der Schlag.
Ein violetter Lichtstrahl, blitzschnell, präzise und lautlos, traf ihn mitten auf den Brustkorb. Es fühlte sich an, als wäre ein Meteoriten eingeschlagen. Seine Rüstung flackerte, das Energiefeld brach zusammen und er wurde meterweit nach hinten geschleudert. Der Boden barst unter ihm, als er aufprallte.
Er lag keuchend in einem Krater, der Rauch seines eigenen Aufpralls lag in der Luft. Seine Brust brannte. Er zwang sich, ruhig zu atmen, den Schmerz zu unterdrücken und nicht der Schwäche nachzugeben. Dann sah er ihn.
Aus dem Nebel der Triklin trat eine Gestalt hervor. Hochgewachsen. Humanoid. Ihre Haut erinnerte an geschliffenes Obsidian und ihre Augen leuchteten schwach lila. Ein Shenth. Er bewegte sich langsam und beinahe elegant, als würde er jeden Moment auskosten. Die Triklin wichen ehrfürchtig zur Seite.
Nathaniel versuchte, sich aufzurichten, doch er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Noch ein Treffer, und es wäre vorbei.
Dann ertönte ein rauschendes Geräusch. Ein Riss in der Luft. Und plötzlich stand Nathaniel woanders.
Hinter einem Felsen. Versteckt. Vorerst in Sicherheit.
„Xhi!“, rief er erleichtert. „Danke, Mann!“
Der nächste violette Strahl schoss durch die Stelle, an der Nathaniel gerade noch gestanden hatte, und riss ein gewaltiges Loch in die Mauer des Dorfes. Steinbrocken flogen, Staub stieg auf. Die Zuschauer auf der Mauer schrien auf und zogen sich zurück.
Doch Xhi-Tun ließ sich nicht einschüchtern. Wie ein Wirbelwind sprang er in die Menge der Triklin, seine Bewegungen waren so schnell, dass sie kaum sichtbar waren. Jeder seiner Schläge zertrümmerte ein Monster und jeder Tritt schleuderte mehrere Meter weit.
Nathaniel hatte nur kurz Zeit, sich zu erholen. Dann sah er wieder zu dem Shenth.
Er stand noch immer dort, als hätte er die Welt unter Kontrolle. Seine Lippen öffneten sich langsam, viel zu langsam, und aus seinem Mund sammelte sich ein neuer, violett glühender Strahl, der vor dunkler Macht vibrierte.
Nathaniel wusste: Er musste ihn stoppen. Jetzt.
Seine Augen verengten sich. Die Rüstung pulsierte. Er ging mit festen Schritten auf den Shenth zu, der seinen Zauber bereitete.
Nathaniel sammelte seine Energie. Licht begann in seinen Händen zu tanzen: gleißend, kraftvoll, lebendig. Als der violette Strahl des Shenth auf ihn zuschoss, riss er die Arme hoch und lenkte ihn zur Seite ab. Die Lichtenergie knisterte, als sie den Angriff zerschmetterte wie Glas unter einem Hammer.
Ohne zu zögern sprintete Nathaniel los.
„Jetzt oder nie“, flüsterte er.
Mit geballter Wucht und einem gezielten Energieschub aus den Fersen sprang er vor und rammte die Faust in den Oberkörper des Shenth. Der dunkle Krieger taumelte und verlor kurz das Gleichgewicht, blieb aber erstaunlich standhaft. Nathaniel ließ ihm keine Zeit zur Erholung.
Schlag um Schlag. Stoß um Stoß. Jeder Schlag und jeder Stoß wurde von einer Explosion aus Licht verstärkt. Die Luft vibrierte, der Boden bebte. Der Shenth wurde rückwärts getrieben, seine Aura flackerte, bis er plötzlich mit einem übermenschlichen Satz nach oben sprang.
„Verdammt ...“ Nathaniel blickte hoch.
Doch er hatte geübt. Er war bereit.
Er richtete seine Hand nach oben, fokussierte sein Innerstes, und ein gebündelter Lichtstrahl schoss aus seiner Handfläche. Er war so hell, dass selbst die Dunkelheit blinzelte. Der Strahl durchbohrte den Angreifer, gleißend wie ein Komet. Alles um sie herum wurde in Licht getaucht. Für einen Moment war die Welt still.
Doch der Shenth hob keuchend und wütend seinen Arm. Der Boden bebte. Und dann brachen sie aus der Erde: Triklin, Dutzende, Hunderte. Die Erde barst, als violette Spinnenwesen Nathaniel erneut belagerten.
Er drehte sich, wollte sich wehren, doch da stand er schon wieder vor ihm.
Der Shenth. Direkt vor ihm.
Eiskalt packte er Nathaniel am Kinn und hob ihn mühelos hoch, als wöge er nichts. Nathaniels Beine baumelten, seine Rüstung knisterte. Der Griff brannte.
„Nathaniel Reed …“, flüsterte der Shenth mit einem zischenden Lächeln. „So viel Wille zum Brechen.“ Seine violetten Augen flackerten wie dunkle Sterne. „Dein Vater wird dich zerstören. Und sein Hass wird dich verzehren.“
Nathaniel wollte protestierend antworten, doch es kam nur ein gepresstes Keuchen. Er spürte, wie Magie in seinen Geist drang.
Und dann sah er die Bilder.
Ein riesiges, ringförmiges Raumschiff, das sich wie ein Würgegriff über Terra legt. Titanische Bohrer, die sich in die Erde graben. Triklin bis hin zu Golems, Legionen aus lebendigem Tod, die über Städte rollen. Magier, die den Himmel schwarz färben. Menschen, die fallen. Alles brannte.
„NEEEEEIIIINNN!“, brüllte Nathaniel und seine Stimme zerriss.
Etwas in ihm erwachte.
Seine rechte Hand leuchtete auf, erst golden, dann weiß und schließlich jenseits aller Farben. Wie eine Sonne, die zum Leben erwacht. Kraft durchströmte ihn. Reiner Wille. Reiner Trotz. Reine Hoffnung.
Er holte aus und rammte seine leuchtende Hand durch den Bauch des Shenth.
Ein erschütternder Laut, weder Schrei noch Stöhnen, sondern das Knacken eines sterbenden Sterns, erklang. Der Shenth ließ los, taumelte, fiel auf die Knie und begann, in violetter Flamme zu verglühen. Die Triklin kreischten, dann verpufften sie in schwarzem Rauch. Alles war vorbei.
Nathaniel sank keuchend zu Boden. Seine rechte Hand zitterte, pochte und brannte. Doch er stand auf.
Langsam und würdevoll.
Er drehte sich zur Mauer. Dort standen Menschen – fassungslos, weinend, jubelnd – und riefen seinen Namen. Nein, sie versuchten es.
„Na…niel… Nat… Thi…?“Er lächelte. Trotz der Schmerzen. Trotz der Bilder. Trotz allem.
„Ihr könnt mich Atlon nennen“, sagte er mit rauer, erschöpfter Stimme.
Ein Moment der Stille.
Dann schwoll ein Chor an.
„Atlon! Atlon! Atlon!“
Die Salbe brannte kurz, dann kühlte sie angenehm. Nathaniel spürte, wie die Schmerzen nachließen. Er saß still, die Hände auf den Knien, während das Licht des Nachmittags durch das schmale Fenster fiel und Greengore ihm gegenüberstand.
„Atlon“, begann der alte Krieger mit seiner tiefen, kratzigen Stimme. „Du hast heute mehr bewiesen als nur Mut. Du hast Hoffnung entfacht. Wenn du auch die beiden anderen Dörfer überzeugen kannst, dann stehen wir an deiner Seite.“
Nathaniel nickte langsam. Nicht als Geste des Stolzes, sondern der Entschlossenheit.
„Ich werde ihn begleiten“, sagte Xhi-Tun. Seine Stimme klang ruhig, aber entschlossen. Kein Zögern, kein Zweifel. Dann trat Kalyx einen Schritt vor. „Ich auch. Was ich heute gesehen habe, verdient Unterstützung.“
Greengore schaute die beiden an.
„Nun gut“, sagte er knapp. „Dann bringt das zu Ende.“
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