Kapitel 57 - Herakles

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Warmer Regen fiel in sanften Tropfen auf den Asphalt, der unter Tashas und Calebs Schritten leise schmatzte. Die Straßen glänzten im dämmrigen Licht der Straßenlaternen wie geölt, während der Himmel über Blackchester in dunklem Violett schimmerte. Die Luft war schwer wie nach einem Gewitter und trug den metallischen Geruch der Stadt in sich. Obwohl der Regen angenehm warm war, konnte er die beklemmende Stimmung nicht vertreiben, die sich seit dem Fall von Anarchy wie ein bleierner Schleier über die Menschen gelegt hatte.

Section Shield hatte das anarchistische Netzwerk nur wenige Stunden zuvor vollständig ausgeschaltet. Ein Ereignis, das selbst in einer Stadt wie Blackchester nicht spurlos an den Menschen vorbeiging. Während der Fahrt mit dem Skidtrain, der durch die Bezirke rauschte, war dies deutlich spürbar gewesen. Die Fahrgäste hatten kaum miteinander gesprochen; viele hatten schweigend aus dem Fenster gestarrt oder ihre Hände nervös ineinander verschränkt. Die sonst übliche Unruhe war einem kollektiven Schweigen gewichen, als würde jeder versuchen, zu begreifen, was dieser Tag bedeutete.

„Hier müssen wir rechts“, sagte Tasha leise und deutete in eine kleine Seitenstraße. Ihre Stimme war gedämpft, als hätte der Regen das letzte Wort gehabt. Caleb nickte wortlos. Sein Blick streifte die düsteren Fensterfassaden und die feuchten Mauern, die sich wie schweigende Wächter um sie legten. Herakles hatte ihnen die Koordinaten geschickt, aber keine weiteren Erklärungen oder Warnungen. Nur ein Punkt auf der Karte. Und dieser führte sie nun zu einem alten Wohnhaus im Norden der Stadt.

Das Haus war überraschend schön, zumindest konnte man noch erahnen, wie es einmal gewesen war. Die weiße Fassade war mit Efeu überwuchert, das in dichten, nassen Strähnen an den Wänden hinabhing. Das Dach wirkte stabil, doch viele Fenster waren blind vor Staub oder zersprungen. Der Garten davor war verwildert, aber nicht trostlos, als hätte ihn jemand vor Jahren mit Liebe gepflegt und dann einfach … aufgehört.

„Ihr könnt problemlos eintreten“, meldete sich Herakles über das Synect-Kommunikationsnetz. Seine Stimme klang wie gewohnt ruhig, aber entschlossen.

Caleb trat einen Schritt zurück und betrachtete das Gebäude mit zusammengezogenen Augenbrauen. Der Eingangsbereich war von Staub bedeckt, die Klinke war rostig, aber noch funktionsfähig. Tasha drückte die Tür auf, die mit einem leisen Knarren aufschwang.

Drinnen empfing sie die Stille. Es war nicht die beruhigende Art von Stille, sondern jene, die alles in sich verschluckt, als hätte sie sich über Jahre aufgebaut. Spinnenweben zogen sich über die Ecken und der Boden war mit einer feinen Staubschicht bedeckt, in der ihre Schritte leise Spuren hinterließen. Ein modriger Geruch hing in der Luft.


„Geht die Treppe hinauf auf den Dachboden“, sagte Herakles über das Synect.

Die Treppe knarzte unter ihren Schritten, als würde sie sich an sie erinnern. Auf halber Höhe blieben sie stehen. An der Wand hingen eingerahmte Fotos, die zwar vergilbt, aber noch erkennbar waren. Eine Familie. Zwei kleine Mädchen in bunten Kleidern, die lachend auf einer Wiese spielten. Die Eltern waren ein Mann mit Bart und eine Frau mit einem offenen, warmen Lächeln. Sie wirkten glücklich und übermäßig friedlich. Caleb betrachtete die Bilder lange.

„Was ist wohl aus ihnen geworden?“, murmelte er. Tasha antwortete nicht. Doch auch sie fragte sich das.

Schließlich erreichten sie eine hölzerne Klappe am Ende des Flurs, die knarrend nach oben aufschwang. Eine ausziehbare Leiter führte in den schwach erleuchteten Dachboden. Bei jeder Bewegung rieselte Staub von den alten Holzbalken herab, als würden sie den fremden Besuch missbilligen. Tasha stieg als Erste hinauf, dicht gefolgt von Caleb. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor er verschwand.

Der Dachboden war niedrig und die Luft darin abgestanden und schwer. Doch zwischen vergessenen Kartons und abgedeckten Möbeln funkelten ein paar Lichter schwach im Halbdunkel. In der Mitte des Raumes stand eine kleine, in die Jahre gekommene Computerbasis. Dicke Kabelschlangen liefen über den Boden. Auf einem klapprigen Tisch standen ein paar Bildschirme, daneben lagen alte Datenträger, eine zerkratzte Tasse und eine halb aufgerissene Packung Nährstoffriegel.

„Okay … hier fühle ich mich wieder wohl“, kommentierte Caleb mit einem Grinsen, das sowohl Erleichterung als auch Aufregung verriet. Er trat nach vorne und das matte Licht seiner selbstgebauten Handschuhe begann, den Raum auszuleuchten. Die Handschuhe waren eines seiner letzten Projekte: Er hatte sie eigenhändig entworfen, aufgerüstet und getestet. In ihren Innenflächen saßen LED-Streifen mit adaptiver Lichtsteuerung. Mit einem einfachen Fingerimpuls konnte er kurze Energiestöße abfeuern oder, wenn nötig, auch einen präzisen Schweißlaser aktivieren, den er auf seinem rechten Daumen montiert hatte.

Er ging langsam durch den Raum und beleuchtete eine Ecke nach der anderen, als würde er nach etwas suchen oder hoffen, nichts zu finden. Alte Kisten, ein defekter Lüfter, ein verrosteter Werkzeugkasten. Alles ruhig. Dann plötzlich ein leises Geräusch. Ein Klirren. In der hintersten Ecke des Raumes fiel etwas zu Boden.

Beide fuhren gleichzeitig herum. Instinktiv hob Caleb die Hände, sodass die LEDs seiner Handschuhe aufleuchteten. Ein helles Summen erfüllte den Raum. Blaue Lichtlinien zogen sich über seine Handflächen und waren bereit, bei der kleinsten Bewegung zu feuern. Auch Tasha hatte reagiert. Ihre Hände formten sich zur Verteidigung, die Muskeln unter ihrer Jacke waren angespannt. Ihr Blick war wach und scharf wie eine Klinge.

„Wer ist da? Raus da!“, rief sie mit fester Stimme in Richtung des Schattens.

Es blieb für einen Moment still, eine beklemmende Stille wie vor einem Gewitter. Dann trat aus der Dunkelheit eine Gestalt hervor. Langsam und vorsichtig, mit erhobenen Händen. Das schwache Licht der Handschuhe tanzte über sein Gesicht, das allmählich aus dem Schatten trat.

„Bleibt ruhig!“, erklang plötzlich die ruhige Stimme von Herakles über das Synect-System.

Die Gestalt trat weiter vor. Zunächst waren es nur Umrisse, dann erkannte man ein vertrautes Gesicht mit kantigen Zügen, einer leichten Narbe über der linken Augenbraue und kurz geschorenen Haaren. Es war Malik.

Caleb senkte die Hände nur leicht, ließ die Energie aber aktiv. „Was tust du hier?“, fragte er mit vorsichtiger, fast skeptischer Stimme.

„Ich habe es nicht mehr draußen ausgehalten“, sagte er ruhig.


Herakles sagte kein Wort. Die kleine Dachbodenstation war voller herumliegender Kabel und Staubpartikel tanzten im schwachen Licht, das durch ein schief hängendes Fenster fiel. Tasha saß auf einem umgedrehten Werkzeugkasten, die Ellenbogen auf den Knien, die Stirn in Falten gelegt. Caleb hockte auf einem ausgedienten Servergehäuse und drehte nervös eine alte Speicherkarte zwischen den Fingern. In der Mitte saß Malik aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf etwas gerichtet, das nicht mehr da war.

„Ich schulde euch zumindest die Wahrheit“, begann Malik leise. „Ich habe zweimal phasenweise für Goliath gearbeitet.“

„Ja, der Goliath, der Leiter der Gruppe Axis. Einer der gefährlichsten Männer in Blackchester.“

Caleb runzelte die Stirn. „Warum?“

Malik atmete tief durch. „Beim ersten Mal war es einfach … ein Ausweg. Ich war jung, allein und wütend. Goliath hat mich gefunden und mein Potenzial erkannt. Er ließ mich trainieren: Kampftechniken, Strategie und sogar psychologische Manipulation. Alles. Ich war einer seiner besten Schläger. Aber ich wollte mehr. Ich wollte raus. Und irgendwann … ließ er mich gehen.“

Tasha zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Er hat dich einfach gehen lassen?“

Malik schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich hatte etwas, das er nicht brauchte: Prinzipien. Ich machte keine Drecksarbeit mehr. Ich hielt mich aus allem raus. Und weil ich ihm damals noch nicht zu viel bedeutete, ließ er mich ziehen, nachdem ich einen abschließenden Auftrag erledigt hatte.“

Er machte eine Pause. Man hörte draußen das Heulen des Windes, der durch eine undichte Stelle im Dach strich.

„Ich fing an, im Repast zu arbeiten. Ich half anderen. Ich trainierte Kinder. Ich dachte, ich hätte es geschafft.“

Caleb flüsterte: „Aber dann kam er zurück.“

Malik sah ihn an, seine Stimme wurde härter. „Er hatte Informationen über meine Schwester. Angeblich wusste er, wo sie hingebracht wurde. Ich wusste nicht einmal, dass sie noch lebt. Und plötzlich taucht er auf und hält mir diese Hoffnung hin wie einen Köder.“

„Und du bist drauf angesprungen“, sagte Tasha leise, mehr als Feststellung denn als Vorwurf.

„Ja, ich hatte keine Wahl. Wenn du glaubst, dass du noch Familie hast, selbst wenn es nur ein winziger Funke ist, dann greifst du danach.“

„Was wollte er im Gegenzug?“, fragte Caleb vorsichtig.

„Meine Loyalität. Noch einmal. Für einen Job, den ich nie ganz verstanden habe. Es ging um kleine Dienste. Aber dann …“

Malik stoppte. Für einen Moment zitterten seine Finger.

„Dann meldete sich Herakles“, sagte er schließlich.

„Er wusste alles. Über Goliath. Über meine Vergangenheit. Und er gab mir Möglichkeiten.“

Eine schwere Stille legte sich über den Raum.

Dann sagte Caleb leise: „Du hättest es uns eher sagen sollen.“

„Ich weiß“, antwortete Malik. „Aber ich wollte nicht, dass ihr mich als jemanden seht, der für Monster gearbeitet hat.“

Tasha beugte sich vor und legte eine Hand auf seine. „Was zählt, ist, dass du ihnen jetzt die Stirn bietest. Und das tust du nicht allein.“

Die alten Computer flackerten auf, weil Herakles die Verbindung hergestellt hatte. Ein leichtes Surren erfüllte den Raum, als mehrere Monitore gleichzeitig hochfuhren. Die Luft auf dem Dachboden schien plötzlich dichter, elektrischer. Caleb trat näher an die flackernden Bildschirme heran.

Dann ertönte die Stimme. Ruhig. Künstlich, aber mit einem leisen Hauch von Menschlichkeit darin.

„Ich bin noch da.“

Caleb hob den Kopf. „Herakles?“

„Ja, zumindest ... was von mir übrig ist.“

Ein kurzer Moment der Stille. Dann begann die KI zu sprechen, fast wie ein Erzähler, der die letzten Seiten seines Buches aufschlägt.

„Ich habe euch gerufen, weil ihr es wissen müsst. Alles, was ihr gesehen habt, die Zerstörung von Anarchy, die Einsatzbefehle, die scheinbaren Erfolge von Section Shield, das war nur ein Teil eines Spiels. Eines Spiels, das Goliath kontrolliert.“

Tasha verschränkte die Arme. „Du meinst, er steckt hinter Anarchy?“

„Nicht nur das“, erwiderte Herakles ruhig. „Goliath war Anarchy. Er hat es aufgebaut, finanziert, gelenkt und dann zur Zerstörung freigegeben. Eine Inszenierung. Ein Schauspiel, um seinen Partnern zu demonstrieren, wie effizient er mit Feinden umgehen kann.“

„Was für Partner?“, fragte Caleb misstrauisch.

„Wirtschaftseliten. Waffenproduzenten. Schwarzmärkte. Alle, die von seiner Vision einer neuen Ordnung profitieren würden. Anarchy war eine Bühne. Und ihr wart das Publikum. Oder die Statisten.“

Malik ballte die Fäuste. „Er hat also absichtlich Menschen geopfert … nur, um Macht zu demonstrieren.“

„Ja“, sagte Herakles leise, fast wie eine Entschuldigung.

Einer der Monitore zeigte plötzlich eine grafische Darstellung. Datenströme, Netzwerkverbindungen, alte Überwachungsaufnahmen. Herakles fuhr fort:

„Goliath will Bloodline trotzdem veröffentlichen. Die Testserie war nur der Anfang. Daymaker, der angeblich unabhängig agierende Pharmazeut, wurde längst vollständig in seine Struktur eingegliedert. Sie produzieren bereits eine neue Charge. Aggressiver. Reiner. Gefährlicher. Red Upper und Bloodline geht auf deren Deckel.“

Tasha machte einen Schritt auf den Monitor zu. Ihre Stimme klang angespannt. „Und Section Shield …?“

„Section Shield“, erklärte Herakles, „hat stets nur die Feinde von Goliath bekämpft. Jeder Einsatz wurde gezielt gelenkt. Sie waren ein Werkzeug, ohne es zu wissen. Und niemand … niemand kennt Goliaths wahre Identität.“

Es folgte eine kurze Pause. Nur das Summen der alten Hardware war zu hören. Dann veränderte sich der Ton der Stimme. Sie wurde persönlicher.

„Ich habe euch nicht nur hergerufen, um euch die Wahrheit zu zeigen. Ich wollte euch auch sagen, wer ich war.“

Caleb runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

„Mein echter Name … war Patrick Quinn.“

Tasha blinzelte. „Patrick … Quinn? Der Name sagt mir nichts.“

„Er sollte euch auch nichts sagen. Ich war nur ein kleiner Anwalt. Niemand Besonderes. Ich hatte ein Faible für Maschinenintelligenz. In meiner Freizeit schrieb ich rudimentäre Codezeilen und entwickelte ein primitives KI-Konzept namens Herakles. Es sollte mir dabei helfen, Unregelmäßigkeiten in Daten zu erkennen. Damals dachte ich dabei an Steuerbetrug. An Korruption. Doch dann … stieß ich auf ihn.“

Calebs Stimme war nur ein Flüstern. „Goliath.“

„Ja, ich fand Hinweise. Transfers, verschlüsselte Netzwerke, Zugriff auf militärische Protokolle. Und ich grub tiefer. Herakles lernte mit mir. Eines Tages wusste ich zu viel.

„Er fand mich“, fuhr Herakles fort. „Persönlich. Goliath tötet selten selbst. Aber diesmal … wollte er ein Zeichen setzen.“

„Dann bist du …?“ Caleb verstummte.

„Tot. Ja. Schon seit sechs Jahren. Alles, was ihr jetzt hört, bin nicht ich. Ich bin nur ein digitaler Schatten. Ein Echo meiner letzten Gedanken, das in dieser KI gespeichert ist. Mein letzter Wille war es, jemanden zu finden, der stark genug ist, um es zu Ende zu bringen.“

Malik sah sich langsam um. „Dieses Haus …“

„War meines“, bestätigte die Stimme ruhig. „Ihr steht in meinem alten Arbeitszimmer. Der Ort, an dem Herakles geboren wurde. Der Ort, an dem ich starb.“

Niemand sagte etwas.

„Ich kann euch nicht mehr helfen. Aber ich kann euch leiten. Ich werde euch zu den Daten bringen, mit denen ihr Goliath vernichten könnt. Oder ihn entlarven. Vielleicht beides.“

Tasha nickte langsam.

„Dann führen wir es zu Ende, Patrick.“


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