Kapitel 56 - Ilum

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Nathaniel blinzelte. Oder hatte er gar keine Augen mehr? Alles um ihn herum war tiefschwarz, als wäre das Licht aus der Welt geschnitten worden. Nur am Horizont schimmerte eine leichte Kontur, ein hauchzarter Lichtstreifen, der sich nicht bewegte oder flackerte, als würde er nur existieren, um ihm Orientierung zu geben. Der Boden unter seinen Füßen war schwarz wie Pech, aber glatt und spiegelnd wie Glas. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt verursachte konzentrische Wellen, die lautlos, aber deutlich sichtbar waren. Der Untergrund reagierte wie Wasser, doch er fühlte sich fest an. Ein Paradoxon. Er kniete sich nieder, legte die Handfläche auf den Boden und beobachtete, wie sie langsam versank, als würde sie in eine stille Tiefe gezogen. Als er sie wieder hervorzog, war sie jedoch staubtrocken.

Keine Tropfen. Kein Gefühl von Nässe.


Verwirrt sah er auf. Die Silhouette war noch immer da: menschlich, weiblich, strahlend wie eine Sonne in der Dunkelheit – aber ohne Hitze. Je näher er ihr kam, desto klarer spürte er: Es gab eine Grenze. Eine unsichtbare Linie, die ihn auf Abstand hielt. Er lief und drängte sich voran, doch es änderte sich nichts. Die Entfernung blieb bestehen. Wie ein kosmisches Gesetz.

„Wer bist du?“, rief Nathaniel. Seine Stimme hallte über die unendlich wirkende Fläche, aber es kam keine Antwort.

Keine Antwort. Nur Stille. 

„Was mache ich hier?!“

Dann endlich erklang eine Stimme. Ruhig. Erhaben. Weiblich. Sie war gleichzeitig überall und nirgendwo.

„Dein Erbe begreifen.“ Nathaniel verstand nicht. „Du bist die leuchtende Hoffnung.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein … ich bin kein Held. Ich bin einfach ...“ Er hielt inne. Die Worte verließen ihn. Selbstzweifel stiegen in ihm auf.

„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragte er leise, beinahe bittend. Seine Stimme klang ruhiger als sein Atem.

Die Silhouette antwortete: „Jeder muss ins Fließen kommen. Wer sich dem Strom verweigert, bleibt stehen und verliert sich.“

Stille.

„Das gehört zu deinem Werdegang.“

Nathaniel ballte die Fäuste. „Ich will zurück. Ich will wissen, was mit Jack ist. Ich will Nathaniel sein. Nicht … irgendetwas anderes.“

„Du kannst zurück.“ Die Stimme klang nun sanfter, beinah traurig. „Aber du musst dich durchsetzen. Du musst erkennen, wer du wirklich bist, jenseits von Namen, jenseits von Schuld.“

Ein leiser Wind zog durch den Raum, obwohl es keinen Wind geben konnte. Die Silhouette neigte leicht den Kopf.

„Ich wünsche dir viel Erfolg, Atlon.“

Der Name hallte wie ein Donner durch ihn. Nicht gesprochen, aber verankert.

Atlon.

Nathaniels Herz raste.

„Ich werde deinen Werdegang voller Vorfreude beobachten“, sprach die Stimme ein letztes Mal, fast flüsternd.

Dann zerfiel alles in Dunkelheit, nicht abrupt, sondern wie Tinte, die sich in Wasser auflöst. Die Silhouette verblasste. Die Welt löste sich auf. Und Nathaniel fiel.

Er schlug die Augen auf, als müsse sich sein Bewusstsein erst an den Gedanken gewöhnen, wieder zu existieren. Über ihm spannte sich ein Himmel auf. Kein Flugzeug, keine Wolke, keine Unregelmäßigkeit. Es war ein makelloses Blau, das ihm fremd war, beinahe beunruhigend in seiner Perfektion. Die Luft war erfüllt von einem Duft, den er nicht zuordnen konnte: eine Mischung aus wildem Jasmin, Harz und etwas Unbekanntem, das fremdartig, aber nicht unangenehm war. Er lag auf einer Lichtung, die wie aus einem Traum geschnitzt schien. Das Gras war smaragdgrün, weich wie Seide und bewegte sich in einer Brise, die er kaum spürte. Die Sonne spendete warmes Licht, das sich golden auf seine Haut legte. Nur Natur. Irgendetwas … stimmte nicht.

Er setzte sich auf und sah sich um: In alle Richtungen erstreckte sich dichter Wald und samtige Hügel. Es war zu perfekt. Zu rein.

Nathaniel stand auf. Jeder seiner Schritte fühlte sich federleicht an. Er ging einige Meter, als ihn plötzlich ein Gedanke wie ein Stromschlag durchfuhr. Instinktiv hob er die Hand und aktivierte seinen Synect. Erleichtert sah er, wie sich das Display aufleuchtete. Keine Fehlermeldung. Alles funktionierte. Alles … bis auf eines.

Das GPS zeigte eine Koordinate an, jedoch keine auf der Erde. Nicht einmal in ihrer Nähe. Es war ein Ort Tausende Kilometer entfernt. Ein Datenfehler? Eine Täuschung? Oder hatte er tatsächlich …? Sein Herz pochte.

Dann ein bernsteinfarbener Lichtblitz.

Ein orangefarbener Punkt schoss wie ein lebendiger Komet auf ihn zu. Nathaniel zuckte zurück, wollte reagieren, doch es war zu spät. Die Gestalt stand bereits vor ihm. Eine Person, menschlich, zumindest auf den ersten Blick. Sie trug einen leuchtend orangefarbenen Anzug, war schlank und beweglich. Das Gesicht war vollständig schwarz, nicht als Maske. Nur zwei leuchtend weiße Augen waren sichtbar. Die eng gelockten Haare waren ebenfalls rabenschwarz.

„Guten Tag, Fremder!“ Die Stimme klang fröhlich, war schnell und klar verständlich. Das war nicht seine Sprache. Der Übersetzer von Synect arbeitete perfekt.

Der Fremde tippelte nervös mit den Füßen auf der Stelle, als müsste er gleich losrennen. „Ich hoffe, dein Übersetzer funktioniert. Wir müssen hier schnell ...“

Ein Wimpernschlag, und die Gestalt war verschwunden.

Nathaniel runzelte die Stirn. Er wollte gerade einen Schritt machen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Brust spürte. Der Fremde war wieder da, so nah, dass Nathaniel erschrak. Seine Bewegungen waren lautlos, präzise und jenseits des Vorstellbaren.

„Planänderung“, sagte er knapp. Seine Stimme klang nun ernster.

Bevor Nathaniel fragen konnte, was geschah, riss der Fremde ihn wortlos zur Seite. In einer einzigen, fließenden Bewegung landeten sie hinter einem umgestürzten Baumstamm. Der Aufprall war sanft, aber bestimmt. Nathaniel spürte den feuchten, moosbedeckten Boden unter sich und das Gefühl der kalten Erde auf seiner Haut. Der Wald kam ihm plötzlich anders vor, als hätte sich die Farbe verändert. Die Luft vibrierte.

Und dann hörte er es.


Ein leises Stampfen. Dann wurde es stärker. Schließlich donnerte eine Herde über die Lichtung, auf der er eben noch gestanden hatte. Es waren große Kreaturen, so schnell und anmutig wie Hirsche, aber doppelt so groß. Ihre Körper waren mit dunkelblauem, glänzendem Fell bedeckt, das im Licht wie Metall wirkte. Anstelle eines Geweihs hatten sie zwei lange, schwanzähnliche Gebilde, die von ihren Köpfen herabhingen: pulsierend, schwebend, wie lebendige Sensoren. 

Nathaniel hielt den Atem an, doch die Tiere schienen sie nicht zu beachten. Vielleicht konnten sie sie nicht wahrnehmen. Oder sie wurden nicht als Bedrohung erkannt.

Minuten vergingen. Dutzende dieser Wesen zogen in Zeitlupe an ihnen vorbei. Nathaniel wagte nicht zu sprechen, geschweige denn zu atmen.

Der Fremde neben ihm drehte sich schließlich um, grinste und streckte ihm einen Daumen entgegen. Nathaniel konnte nicht anders, als leise zu schmunzeln.

Nachdem die Herde vorübergezogen war, erhob sich der Fremde. Ohne ein Wort reichte er Nathaniel die Hand – eine schlichte, aber bedeutungsvolle Geste. Nathaniel zögerte einen Moment, nahm sie dann an und ließ sich auf die Beine helfen.

„Wir sollten gehen“, sagte der Fremde ruhig, während sein Blick bereits den nahenden Abend erahnte. „Es wird bald dunkel.“

Nathaniel musterte ihn kurz, dann nickte er. Allein war hier keine Option. Er folgte ihm.

Nach wenigen Schritten blieb der Fremde stehen, legte zwei Finger an seine Schläfe und aktivierte offenbar ein Kommunikationsgerät, das dem Synect ähnelte. Ein bläuliches Leuchten huschte über seine Schläfenknochen.

„Greengore“, sagte er knapp. „Wir sind unterwegs. Ich habe den Neuen vor einer Herde Lyx gerettet.“

Ein kurzer Moment der Stille, dann die knappe Antwort: „Verstanden.“

Der Fremde wandte sich Nathaniel zu. Seine Haltung war plötzlich fast förmlich.

„Also fangen wir vorne an“, sagte er mit sanfterer Stimme. „Ich heiße Xhi-Tun. Ich bin ein Obex, eine von vielen Spezies hier. Mein Beruf war Läufer. Darum … bin ich etwas schneller als andere.“

Nathaniel blinzelte. Die ganze Situation war noch immer surreal, aber der Tonfall des Wesens wirkte auf seltsame Weise beruhigend.

„Nathaniel Reed“, sagte er langsam. „Codename: Atlon. Einsatzkraft der Globe Preservation. Von … Terra.“

Xhi-Tun blieb stehen, sein pechschwarzes Gesicht war eine Maske der Begeisterung. „Ein Terraner! Ich wollte schon immer einen Terraner kennenlernen.“

Nathaniel lächelte schwach. „Dann scheine ich deine Bucket List zu erfüllen.“

„Was ist eine Bucket List?“

„Später“, sagte Nathaniel. „Sag mir lieber, wo sind wir?“

„Wir sind im Ilum“, sagte Xhi-Tun, als ob das alles erkläre.

„Und … was ist das Ilum?“, fragte Nathaniel und sah sich um. Der Wald wurde dichter, das Licht gedämpfter und der Boden feuchter unter ihren Füßen.

„Ein Schiff“, sagte Xhi-Tun nüchtern. „Ein gewaltiges biologisches Schiff der Shenth. Wir befinden uns in ihrem Zoo.“

Nathaniel blieb stehen. „Ein Zoo?“

„Wir sind die Trophäen von Apex“, flüsterte Xhi-Tun. „Was hast du denn gedacht? Natürlich sind wir Gefangene.“ Nathaniel schluckte schwer.

Sie gingen weiter. Die Sonne oder was auch immer dieses Licht war senkte sich langsam und tauchte den dichten Wald in blutrote Schatten.

„Wir müssen uns beeilen“, sagte Xhi-Tun plötzlich. „Es wird Nacht. Und die Exhes jagen bald wieder.“

Nathaniel versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Kannst du uns nicht einfach dorthin bringen? Du bist doch ein Läufer, oder?“

Xhi-Tun seufzte: „Das wäre … brutal anstrengend. Und der Weg ist zu weit. Wir sollten vorsichtig bleiben.“

Nathaniel grinste schwach. „Ein außerirdischer Zoo, eine vergessene Galaxie, räuberische Kreaturen … Ach. Einfach wundervoll.“

Xhi-Tun blieb stehen und sah ihn fragend an. „Was ist daran wundervoll?“

Nathaniel lachte kurz. „Das war Ironie.“

Xhi-Tun runzelte die Stirn. „Das … sagt mir nichts. Ich bin mit dieser Redensart nicht vertraut.“

„Kein Problem. Ich bringe es dir bei. Eigentlich war es nur ein Versuch, meine Verzweiflung zu überspielen.“

Xhi-Tun nickte langsam. „Das verstehe ich.“

Einige Schritte lang war es still, dann wandte sich Xhi-Tun wieder ihm zu. „Was ist ein Codename?“

Nathaniel antwortete ruhig: „Ich arbeite als Agent. Der Codename schützt meine Identität, meine Freunde, meine Familie.“

Xhi-Tun hielt inne und dachte nach. Dann leuchteten seine Augen. „Das will ich auch. Hast du eine Idee für mich?“

Nathaniel lachte leise. „Okay. Bei uns gibt es diese fiktiven Figuren, die Comichelden genannt werden. Sie sind besonders schnell. Flash, zum Beispiel. Quicksilver. Aber ich habe etwas Besseres für dich.“

Xhi-Tun beugte sich gespannt vor.

„Amberlight“, sagte Nathaniel. „Orange wie Bernstein. Schnell wie das Licht.“

Ein Lächeln, weich und ehrlich, erschien auf Xhi-Tuns dunklem Gesicht. „Amberlight. Das klingt … einfach schön.“ Sie wurden unterbrochen. Ein dröhnendes Geräusch hallte durch den Wald, dann wurde es schlagartig dunkel.

„Ich denke, das ist die Nacht“, sagte Nathaniel.

Xhi-Tun nickte. „Eine halbe Zeiteinheit.“

„Okay“, murmelte Nathaniel und aktivierte sein Synect. „Ich stoppe die Zeit – mal sehen, wie lange das wirklich ist.“

Xhi-Tun kratzte sich am Hinterkopf und lächelte entschuldigend. „Doof, dass du das noch nicht kennst.“

Er aktivierte eine Leuchtfackel. Ihr Licht flackerte durch die dichte Vegetation, während sie sich vorsichtig weiter durch den Wald bewegten. Nathaniels Timer zeigte mittlerweile dreieinhalb Stunden an.

Plötzlich schnitt ein klares, schrilles Pfeifen die Stille.

„Verdammt! Exhes“, zischte Xhi-Tun. „Wir müssen bereit sein.“

Ein schwarzer Schatten sprang aus dem Gebüsch und riss ihm die Fackel aus der Hand. Dunkelheit umfing sie erneut. Doch dank seines Trainings blieb Nathaniel ruhig. Er aktivierte seine Fähigkeit und sein ganzer Körper begann zu leuchten. Ein grelles Licht erhellte die Umgebung.

„Das ist krass“, murmelte Xhi-Tun beeindruckt.

„Ich nenn’s Knicklicht“, sagte Nathaniel grinsend.

Xhi-Tun schnaubte. „Lustig.“

Zwei Exhes traten langsam aus dem Gebüsch. Ihre orangroten Augen glühten im Dunkeln. Die Wesen erinnerten an Hyänen, hatten aber die faltige Haut eines Elefanten. Aus ihren Mäulern ragten lange, ungleichmäßige Zähne, und aus ihrer Haut wuchsen orange Punkte und abstehende Wucherungen.

Zwei gegen zwei.

„Haben die Viecher eine Schwäche?“, fragte Nathaniel leise.

„Nicht, dass ich wüsste“, flüsterte Xhi-Tun und unterdrückte ein Lachen.

In diesem Moment sprang einer der Exhes auf Nathaniel zu. Er aktivierte im letzten Moment seine Rüstung und konterte mit einem Energieschub, der das Biest wegsprengte. Xhi-Tun war bereits in Bewegung, nahm Anlauf und schleuderte das zweite Wesen mit einem gewaltigen Sprung fort. Doch beide Kreaturen kehrten zurück. Schneller als zuvor. Diesmal gingen sie gemeinsam auf Nathaniel los.

Er konnte nicht rechtzeitig ausweichen. Eines der Wesen verbiss sich in seinen Arm, das andere erwischte seine Hüfte. Der Schmerz war schneidend, als würde man eine Dose Sardinen aufreißen – nur dass er die Dose war.

Xhi-Tun riss eines der Biester zur Seite, um Nathaniel zu befreien.

Nathaniel keuchte. Der Druck an den Bissstellen war unerträglich. Er fokussierte sich, sammelte all seine Kraft und schickte einen konzentrierten Energieschub durch die Hand, die noch immer im Maul der Kreatur steckte.

Ein greller, gezielter, vernichtender Lichtstrahl löste sich.

Die Kreatur sackte mit einem rauen Laut zusammen, ein brennendes Loch klaffte in ihrer Seite. Das zweite Monster zögerte und floh in die Dunkelheit.

Nathaniel deaktivierte seine Rüstung und sank erschöpft zu Boden. Keuchend hielt er sich den linken Arm.

Xhi-Tun trat langsam näher. „Alles okay?“

„Geht so“, antwortete Nathaniel und deutete auf seinen Arm, der von Brandspuren überzogen war.


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