Kapitel 54 - Pub
Theresa lief mit schnellen, aber leisen Schritten den Flur entlang. Das matte Licht der Deckenleuchten warf lange Schatten an die Wände, während ihre Fingerspitzen im Vorübergehen das kühle Holz der Wandvertäfelung berührten. Kurz vor der Küchentür blieb sie stehen, atmete tief durch und drückte dann den Türgriff nach unten. Die Tür öffnete sich mit einem kaum hörbaren Knarren.
In der Küche roch es nach Kaffee und etwas Verbranntem. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter wieder versucht, die alten Brötchen aufzubacken. Am Tisch saß Karin, in ihren Morgenmantel gehüllt, leicht nach vorne gebeugt, mit dem Synect an ihrem Arm. Ihre Stirn war in Falten gelegt und ihr Blick starr auf das schwebende Hologramm über dem Gerät gerichtet.
„Hey, Mum!“, sagte Theresa in lockerem Tonfall, doch mit einem leisen Anflug von Erwartung in der Stimme.
Karin zuckte erschrocken zusammen, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht. Ihr Blick flackerte für einen Moment orientierungslos durch den Raum, ehe er sich auf Theresa richtete. Dann lachte sie kurz auf, nicht gespielt, aber ein wenig gehetzt.
„Da hast du mich auf dem falschen Fuß erwischt“, sagte sie, legte das Synect schnell zur Seite und sah dabei aus, als wolle sie verhindern, dass Theresa einen Blick darauf werfen konnte.
Theresa schmunzelte und trat näher. „Scheint so. Du warst aber auch ganz schön versunken.“
Sie ließ sich gegenüber ihrer Mutter auf die gepolsterte Bank nieder, lehnte sich zurück und musterte sie aus halb zusammengekniffenen Augen. Karin wich dem Blick kurz aus und begann, scheinbar plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspürend, mit schnellen Bewegungen Kaffeetassen vom Tisch zu nehmen. Sie stellte sie ins Spülbecken, griff nach einem Tuch und wischte ohne rechten Sinn über die Arbeitsplatte.
„Ach, ich habe nur meine Post gelesen“, sagte sie beiläufig, während sie mit dem Rücken zu ihrer Tochter stand.
Theresas Blick blieb wachsam. Ihre Mutter hatte eine Art, Dinge herunterzuspielen, die sie beschäftigten. Das war nichts Neues.
„War was Interessantes dabei?“, fragte Theresa, bemüht, ihren Ton beiläufig wirken zu lassen. Dabei beobachtete sie genau, wie sich der Nacken ihrer Mutter leicht versteifte.
Es kam keine Antwort.
„Mum?“ Ihre Stimme wurde nun ein wenig fester, beinah herausfordernd. Das Lächeln auf ihren Lippen war geblieben, aber es hatte etwas Unnachgiebiges bekommen.
Ihre Mutter drehte sich langsam um. Sie hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und lehnte sich mit einem leisen Seufzen gegen die Küchenzeile, als müsse sie sich zu etwas durchringen.
„Ich habe mich für einen Job beworben“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang ruhig, aber man hörte ein kaum merkliches Zittern darin.
Theresa richtete sich ein Stück auf, ihr Blick hellwach. „Und?“, fragte sie erwartungsvoll.
Karin schluckte, sah für einen Moment zu Boden und blickte dann wieder auf. „Ich habe gerade die Zusage bekommen.“
Theresa sprang förmlich aus ihrer Sitzposition hoch. Ein breites Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ohne zu zögern trat sie zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie.
„Oh wow, Mum! Ich finde das richtig gut! Endlich wieder was Neues für dich!“
Karin erwiderte die Umarmung, aber ihre Schultern blieben leicht angespannt. Als sie sich voneinander lösten, lag ein zögerndes Lächeln auf ihrem Gesicht, das nicht ganz bis zu den Augen reichte.
„Ich weiß nicht … Ich bin mir noch nicht zu hundert Prozent sicher, ob das die richtige Entscheidung ist“, sagte sie leise und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus, wo vereinzelte Regentropfen an der Scheibe herunterliefen. „Es wird einiges verändern. Dann werdet ihr alle auch mehr nach Tim schauen müssen. Und dein Vater … der weiß noch gar nichts davon.“
Theresa ließ sich auf den Küchenstuhl zurückfallen, schob das Kissen zurecht und winkte entspannt ab. „Ach, easy, das bekommen wir schon hin. Tim ist ja nicht mehr drei und ich kann mich auch mal nachmittags kümmern, wenn es darauf ankommt.“ Sie grinste aufmunternd. „Du machst dir immer viel zu viele Gedanken.“
Karin atmete tief durch, als müsste sie ihre Zweifel fortblasen. Sie strich sich über die Unterarme, als wäre ihr plötzlich kalt. „Vielleicht hast du recht“, murmelte sie. „Ich bin es nur nicht mehr gewohnt, dass mein Leben wieder so … fremdbestimmt ist. Feste Zeiten, Erwartungen. Verantwortung draußen – nicht nur hier.“
„Du hast so lange alles hier geschmissen, das war auch Verantwortung“, entgegnete Theresa ernsthafter. „Jetzt ist es halt ein anderer Rahmen. Du darfst dich auch mal wieder wichtig fühlen. Nicht nur gebraucht.“
Karin lächelte, diesmal ein wenig wärmer. „Danke, Tess. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
Theresa beugte sich leicht vor. „Und? Wo fängst du an? Erzähl!“
„Der Job ist beim neuen Standort von Section Shield“, erklärte Tess mit einem leichten Heben des Kinns. Ihre Stimme klang jetzt klarer und kontrollierter. „Sie bauen eine eigene Retraction-Abteilung auf, ein ganz neues Konzept innerhalb der Organisation. Und genau dafür suchen sie gezielt nach erfahrenen Psychologen wie mir.“
Theresa hob überrascht die Augenbrauen. „Section Shield? Wow, das ist ziemlich groß.“
Karin nickte knapp. „Sie haben meine Kontaktdaten erhalten, nachdem sie sich die Abschlusslisten der Psychologie-Absolventen der Saint-Veronika-Universität angesehen haben. Offenbar ist mein Name dabei besonders aufgefallen, vielleicht auch wegen meiner früheren Arbeit in der forensischen Betreuung. Jedenfalls haben sie sich bei mir gemeldet und wollten, dass ich mich bei ihnen bewerbe.“
Ein Hauch von Stolz durchzog ihre Miene, auch wenn sie ihn hinter sachlicher Ruhe zu verbergen versuchte.„Sie wollen ihren Hauptsitz an die Ostküste verlegen, um näher an Madison Town und dem Pentagon zu sein. Die Nähe zur Regierung spielt dabei offenbar eine große Rolle, vor allem, was sensible Operationen und deren Nachbereitung angeht.“
Sie trat zu ihrer Mutter und umarmte sie, diesmal mit mehr Bewunderung als bloßer Freude. „Das hört sich wirklich gut an. Ich meine, Organisationen wie Section Shield setzen sich ständig Gefahren aus. Einsatzkräfte und Spezialeinheiten brauchen gute psychologische Betreuung. Mehr denn je.“
Karin erwiderte die Umarmung fester als zuvor. In ihren Augen lag ein Funken Entschlossenheit, als sie sagte: „Ja, und ich werde nicht nur mit den eigenen Teams arbeiten. Ich werde mich vor allem um Menschen kümmern, die psychisch destabilisiert sind, oft durch Gewalterfahrungen oder traumatische Einsätze. Viele davon haben sich in den letzten Jahren als sogenannte Vigilanten ausgegeben, selbsternannte Straßenwächter, die völlig entgleist sind. Sie glauben, sie seien Helden, dabei verursachen sie Chaos.“
„Und du wirst helfen, sie zu retten?“, fragte Theresa leise.
„So gut es geht“, sagte Karin. „In der Retraction-Einheit wird auch eine geschlossene Klinik aufgebaut. Hoch gesichert. Für genau solche Fälle. Manche dieser Leute sind nicht nur gefährlich, sie sind komplett verloren. Aber ich glaube daran, dass man einige von ihnen zurückholen kann. Nicht alle. Aber einige.“
Dieser Satz traf Theresa unerwartet hart. Ihre Mutter hatte keine Ahnung. Keine Ahnung, was wirklich draußen auf den Straßen geschah, was sich veränderte.
Theresa sah kurz zur Seite, ihre Gedanken wirbelten. Sie versteht es nicht. Sie sieht nur Chaos, wo andere einen letzten Versuch sehen, gehört zu werden. Sie atmete durch, zwang sich zur Ruhe, bevor sie sprach.
„Das hört sich doch großartig an“, sagte sie mit einem nur schwer zu kontrollierenden höflichen Lächeln. Leiser, aber mit fester Stimme fügte sie hinzu: „Aber ich glaube, dass diese sogenannten Vigilanten eine Chance sein könnten, das System aufzubrechen oder zumindest infrage zu stellen. Vielleicht ist es ja gerade das, was nötig ist. Und vielleicht sind es nicht die Schwachen, die sich fürchten, sondern die, die sich für sicher halten.“
Karin seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Du bist zu idealistisch mit deinen progressiven Ideen, Theresa. Die Welt ist nicht so einfach zu retten, wie du denkst.“
Theresa richtete sich auf. Es war keine Wut in ihr, sondern eine stille Enttäuschung wie ein vertrauter Regen, den man kommen sieht, aber nicht mehr aufhalten kann. „Ich muss los“, sagte sie knapp. Ihre Stimme klang nüchtern. „Ich treffe mich mit den anderen.“
„Mit den anderen“ – das war ihr Codewort für ihre Trainingsfreunde vom Turnen. Ihre Mutter wusste Bescheid, stellte aber keine Fragen. Vielleicht, weil sie ahnte, dass es nicht nur um Sport ging.
Theresa blieb einen Moment stehen und drehte sich noch einmal zu ihrer Mutter um. Ihre Stimme wurde weich, trug aber einen Hauch von Trotz. „Und, Mama, wir leiden auch unter diesem System. Nicht nur die Kranken. Nicht nur die, die du therapieren willst.“
Ihre Mutter sah sie an, und in ihren Augen lag etwas, das Theresa unwillkürlich langsamer werden ließ: nicht nur Traurigkeit, sondern auch eine Art inneres Aufgeben. Vielleicht war es Ohnmacht. Vielleicht war es Angst.
Theresa sagte nichts mehr. Stattdessen verließ sie die Küche und ging in den Flur. Ihre Schritte klangen leiser, als sie sich ihre Jacke von der Garderobe nahm.
Im selben Augenblick kamen Elias und Lisa aus dem Hausflur herein. Lisa warf Theresa nur einen flüchtigen Blick zu, sagte tonlos „Hey“ und ging dann wortlos an ihr vorbei. Ihre Schultern waren leicht angespannt und ihr Blick war irgendwo zwischen Wand und Boden verloren.
Elias hingegen hielt kurz inne. Seine Augen suchten Theresas Blick, als wollte er etwas sagen, doch es kam ihm kein Wort über die Lippen. Stattdessen trat er zu ihr, legte die Arme um sie und hielt sie fest. Es war eine dieser stillen Umarmungen, in denen mehr lag als in jedem Gespräch.
Theresa schloss für einen Moment die Augen und ließ die Umarmung zu. Dann löste sie sich sanft, warf ihm ein schwaches Lächeln zu und zog ihre Jacke an. Ohne noch etwas zu sagen, öffnete sie die Tür und trat hinaus in den grauen Nachmittag.
Sie verließ das Haus, zog die Tür sanft hinter sich zu und atmete tief die frische Frühabendluft ein. Es war dieser Moment zwischen Tag und Nacht, in dem das Licht noch nicht ganz verschwunden war, die Straßenlaternen aber schon zaghaft ihren Dienst antraten. Der Himmel spannte sich in kühlen Blautönen über die Dächer.
Sie musste nicht weit gehen. Wie so oft war ihr Ziel der Irish Pub an der Ecke – ein rustikales Lokal mit dunklem Holz, schummeriger Beleuchtung und dem beständigen Geruch von Malz, Leder und alten Geschichten. Es war einer dieser Orte, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hatten. In einer Welt voller Synects, Holoanzeigen und Energieleitungen war das fast schon rebellisch. Und genau das mochte Theresa daran.
Sie und ihre Freunde liebten das dunkle Bier und das Darts-Spielen. Es war befreiend, inmitten der schnelllebigen Welt an einem Ort zu sitzen, der sich dem Wandel bewusst entzogen hatte. Zwischen den schweren Eichentischen, den vergilbten Landkarten an den Wänden und der leise brummenden Musik konnte man für ein paar Stunden das Toben draußen vergessen.
Schon von weitem sah Theresa das markante grüne Licht der großen Kleeblattlampe über dem Eingang. Es verströmte ein flackerndes, beruhigendes Leuchten, das in dieser Straße wie ein Leuchtturm wirkte. Und genau darunter stand bereits Lena, die wie immer ein wenig zu früh da war. Sie trug ihre typische schwarze Lederjacke, in der sie aussah wie eine Mischung aus Rockband-Managerin und Aktivistin.
"Hi, King", rief Theresa ihr zu und reckte kurz die Hand zum Hallo.
Lena grinste breit. Der Spitzname „King“ war eine Anspielung auf ihren Nachnamen König, der seine Wurzeln tief in der germanischen Region des alten Kingdoms hatte, aber auch auf ihren Podcast „Kings Speech“, mit dem sie in der linken Szene Kultstatus erlangt hatte. Darin sprach sie über soziale Gerechtigkeit, Machtstrukturen und das Leben in der Vereinigten Republik – klug, bissig und oft mit einem trockenen Humor, der unter die Haut ging.
„Die Königin erscheint selbst“, sagte Lena und machte eine kleine Verbeugung. „Was hat Ihre Hoheit heute zu berichten?“
Theresa lachte. „Nur, dass ich den ganzen Tag versucht habe, mit meiner Mutter nicht in ideologische Grundsatzdiskussionen zu geraten, und wie du siehst, habe ich nur halb gewonnen.“
Lena zog eine Braue hoch. „Nur halb? Das ist immerhin mehr als sonst.“
„Wahre Worte“, sagte Theresa und trat näher. Während sie die Kneipentür aufstießen, dachte Theresa einen Moment an das, was Karin ihr über Section Shield, die Klinik und die Retraction-Abteilung erzählt hatte. Die Welt draußen wurde härter. Aber hier, inmitten des warmen Pubs, roch es noch immer nach Hoffnung und Bier.
Sie redeten über dies und das, über Alltägliches, kleine Witze und die typischen Neckereien. Wie so oft waren Theresa und Lena die Ersten. Pünktlichkeit war ihnen beiden fast schon heilig, während der Rest der Truppe das eher locker sah.
Theresa ließ ihren Blick durch das Pub schweifen. Die Luft war schwer von Bier, gebratenen Zwiebeln und altem Holz. Am Nebentisch lachte ein älteres Ehepaar, während aus der Ecke ein Dartpfeil mit einem dumpfen Plock auf die Scheibe traf. Es war einer dieser gemütlichen, fast träge dahinfließenden Abende, an denen man gar nicht merkte, wie spät es wurde.
Schließlich öffnete sich die Tür erneut und Maximilian trat ein, wie immer mit der lässigen Selbstsicherheit eines Menschen, der wusste, dass er überall willkommen war. Neben ihm stand Alexander, ihr Trainer, der mit seiner ruhigen Art sofort eine angenehme Präsenz in den Raum brachte. Sie begrüßten sich alle herzlich: ein paar Schulterklopfer, ein kurzes Anstoßen mit den Gläsern, ein verschmitztes Lächeln von Lena.
„Wo ist eigentlich Sebastian?“, fragte Lena irgendwann mit hochgezogener Braue, kaum dass sie ihr Bier abgesetzt hatte. Sie hatte nie Geduld für lange Anläufe.
Maximilian winkte ab. „Ach, der wollte heute nicht kommen. Bestimmt ist ihm der Unfall von neulich noch peinlich.“
Theresa runzelte die Stirn. „Das ist schade“, murmelte sie mehr zu sich selbst als in die Runde.
Maximilian grinste. „Er ist doch dein ärgster Konkurrent. Das gibt ihm sicher gerade den Rest.“
„So denkt man nicht“, warf Alexander ruhig ein, ohne zu urteilen. „Sie spornen sich einfach gegenseitig an. Das ist etwas anderes.“
Theresa sah ihn einen Moment lang an. Denn sie hatte oft gespürt, dass Sebastian an ihr nagte, nicht nur der Wettkampf selbst, sondern auch das Gefühl des Gleichstands.
Aber bei Sebastian … bei ihm schien es manchmal mehr zu sein. Als hätte er das Gefühl, er müsse sich gegen sie behaupten, gegen etwas Unsichtbares, das ständig an seinem Selbstwert kratzte.
„Er hätte trotzdem kommen können“, sagte Lena leise. „Hier geht es ja nicht nur um den Sport.“
Alexander nickte. „Manche Kämpfe trägt man eben innerlich aus. Und manchmal braucht man dazu Ruhe.“
Theresa trank einen Schluck, stellte ihr Glas ab und sah in die Runde. Ihre Gedanken wanderten weiter, aber sie sagte nichts. Manchmal war das Schweigen die ehrlichste Form des Mitgefühls.
Sie holten sich ihr nächstes Bier, das übliche dunkle Stout für Lena und ein leichtes Pale Ale für Theresa, und stellten sich wie immer an die Dartscheibe, die hinten links im Pub hing. Die Pfeile lagen wie vertraute Werkzeuge in ihren Händen und das Spiel begann, ohne dass viele Worte nötig waren. Der Rhythmus von Werfen, Trinken und Lachen war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Es war dieses unkomplizierte Miteinander, das Theresa so mochte. Solche Abende taten ihr gut. Sie waren wie ein inneres Reset.
Später am Abend saßen Lena und Theresa zusammen auf der alten, abgewetzten Ledercouch in der hinteren Ecke des Pubs. Die Jungs waren noch immer bei der Dartscheibe und diskutierten hitzig über Punktstände und Technik. Das Licht flackerte träge über ihre Gesichter, während im Hintergrund jemand auf der Jukebox einen alten Song von Radiohead laufen ließ.
Lena war schon eine Weile still, hatte Theresa nur beobachtet, als würde sie auf den richtigen Moment warten.
„Dich beschäftigt das mit Sebastian, oder?“, fragte sie schließlich, wie sie nun mal war: direkt. Kein Drumherum.
Theresa sah sie kurz überrascht an, dann nickte sie zögernd. „Ja … ich weiß einfach nicht, was ich falsch gemacht habe.“
Lena drehte ihr Bierglas zwischen den Fingern und sah ihr dann tief in die Augen. Ihr Blick war ernst.
„Fuck, Mann. Gar nichts“, sagte sie mit Nachdruck. „Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Er ist einfach davon überzeugt, immer der Beste sein zu müssen. Und dann kommst du mit weniger Training und weniger verbissener Konzentration und bist ihm trotzdem mindestens ebenbürtig.“
Theresa schaute nach unten. Ihre Finger spielten nervös am Etikett ihrer Bierflasche.
„Aber ich will ihm doch nichts wegnehmen“, flüsterte sie. „Ich will doch nicht, dass er sich schlecht fühlt, nur weil ich … weil ich genauso gut bin.“
Lena schnaubte leise. „Es geht nicht darum, was du willst. Es geht darum, was er sich selbst auferlegt hat. Sein Problem ist nicht dein Erfolg. Sein Problem ist, dass er seinen Wert an seinem Vorsprung misst, und du bist der Beweis, dass es auch anders geht. Dass Talent nicht laut sein muss. Dass Stärke nicht mit Härte einhergeht.“
Theresa atmete tief ein, hob ihr Glas und stieß an.
„Aber ich mache das doch nicht extra“, sagte Theresa leise und beinahe trotzig. Sie senkte den Blick und starrte auf eine kleine Wasserlache auf dem Tisch. Ihre Finger zogen gedankenverloren Kreise darin, als könnte sie die unangenehmen Gedanken einfach wegwischen.
Lena nahm einen Schluck von ihrem Bier, lehnte sich zurück und ließ eine kurze Pause verstreichen. „Wie läuft es eigentlich bei dir?“, fragte Theresa schließlich dankbar, das Thema wechseln zu können.
Lena verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Jo, na ja … Der Podcast läuft gerade nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Hörerzahlen stagnieren und mir fehlen spannende Themen. Es fühlt sich alles so … repetitiv an.“
Theresa runzelte die Stirn. „Aber du sprichst doch über gesellschaftliche Fragen, oder? Polarisierung, mediale Macht, Wertewandel und so weiter? Wieso nicht Superhelden thematisieren? Oder, wie die Kritiker sie nennen: Vigilanten.“
Lena schnaubte trocken. „Ja, ich weiß, was du meinst. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Aber ganz ehrlich? Dieser Nitechore zum Beispiel, der Typ ist erschreckend langweilig. Über ihn ist nichts bekannt, und er gibt kaum Interviews. Keine Emotionen, kein Drama, keine greifbare Geschichte. Er taucht auf, rettet irgendjemanden und verschwindet wieder. Das war's.“
Theresa grinste. „Hast du denn nichts von Barnowl gehört?“
Lena hob eine Augenbraue, war aber offensichtlich interessiert. Theresa legte nach, ihre Stimme klang nun etwas lebhafter: „Sie ist noch nicht lange aktiv. Sie trägt so eine violette Ausrüstung, angeblich selbst geschneidert. Und kein Witz: Sie hat wirklich eine Eule dabei. Eine richtige. Kein Drohnentier, kein Hologramm. Eine lebendige Eule.“
Lena lehnte sich vor. Jetzt hatte Theresa sie.
„Social Media ist voll davon“, fuhr Theresa fort. „Worldplace, Bytecast, sogar im Arthub gibt es Fan-Art. Du könntest ein ganzes Format daraus machen. Keine tiefen Analysen, sondern eher News-Bits, Reaktionen und ein bisschen knackige Meinung, aktuell. Nenn es ‚Veronikas Masken‘ oder so. Die Vereinigte Republik liebt Helden. Und noch mehr liebt sie es, sie auseinanderzunehmen.“
Lena lachte leise. „‚Veronikas Masken‘ … das klingt echt nicht schlecht. Vielleicht mache ich wirklich etwas daraus. Wenn ich Glück habe, kriege ich sogar ein Interview mit Barnowl. Oder wenigstens mit einem dieser Hobby-Ermittler, die online alles über sie wissen wollen.“
Man konnte förmlich sehen, wie in Lenas Kopf die Zahnräder anliefen. Ihr Blick wurde wacher, ihre Schultern richteten sich auf. Ihr Ehrgeiz war zurück, jener funkelnde Glanz in ihren Augen, den Theresa kannte und liebte.
„Weißt du was? Lena hob ihr Glas, grinste und prostete Theresa zu. „Ich mach das. Ein Pilotformat einfach mal rausballern. Wenn’s ankommt, hab ich einen neuen thematischen Anker. Danke, Tess.“
Theresa stieß mit ihr an und lachte. „Kein Ding.“
Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel
Kommentare
Kommentar veröffentlichen