Kapitel 50 - Immer
Es war früh am Morgen und ein leichter Nebel lag über dem feuchten Waldboden. Das erste Tageslicht drang zaghaft durch das dichte Blätterdach, das sich wie eine natürliche Kuppel über sie spannte. Die Luft roch nach Moos, nassem Holz und einem Hauch von Abenteuer. Der Plan, den sie jetzt verfolgten, war nicht neu. Schon vor Tagen hatten Therion und Orion beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Nacht für Nacht durchkämmten sie die immer gleiche Route durch das unwegsame Gelände, immer in der Hoffnung, das verborgene Ziel zu entdecken, das sich irgendwo tief im Wald verbergen musste.
Sie arbeiteten akribisch. Orion durchkämmte das Gelände mit seinem Metalldetektor, der bei jedem metallischen Widerstand piepte, während Therion sich auf seine ungewöhnlich scharfen Sinne verließ, die ihm oft mehr Hinweise lieferten als jedes Gerät. Gemeinsam tasteten sie sich Stück für Stück voran, zeichneten ihre Bewegungen auf und verglichen Abweichungen. Beide waren überzeugt: Irgendwo in diesem uralten Wald musste sich die verborgene Anlage befinden, in der Redcoat gefangen gehalten wurde - ein Ort, der auf keiner Karte verzeichnet war, geschützt durch Isolation und Heimlichkeit.
Orion hatte Therion in einem der ersten Gespräche anvertraut, dass es keinen triftigen Grund gäbe, Redcoat länger als gesetzlich erlaubt festzuhalten. Die Behörden von Section Shield konnten nichts Belastbares gegen ihn vorweisen, also blieb er nur die maximal erlaubten achtundvierzig Stunden in Haft. Orion hatte sich als Undercover-Beobachter als vermeintlicher Kollaborateur ausgegeben, um Zugang zum Gefängnis auf der Insel Alcatraz zu erhalten. Dort hatte er aus nächster Nähe erlebt, wie die Gefangenen mit einer Härte behandelt wurden, die ihn selbst erschütterte. Es war kein Ort für Fehler oder Gnade.
„Es war roh... kalt... wie eine Maschine, die Menschen frisst“, hatte Orion gesagt, während er in der Abenddämmerung eine Zigarette ausdrückte. Einige der Gefangenen kannte er aus früheren Kämpfen, darunter auch jenen Ratchetclaw, dessen Bild einst die Titelseiten der Medien beherrscht hatte. Jetzt saß er in einer Zelle, gebrochen, vergessen, kaum wiederzuerkennen.
Therion hatte dann etwas überraschend erwähnt, dass er Nitechore sogar persönlich kannte, ein Name, der sofort Orions Interesse weckte.
Um ihre Spurensuche effizient zu gestalten, nutzten sie die Share-Funktion ihres Synect. Damit konnten sie eine gemeinsame Karte erstellen, auf der jeder Weg, jedes auffällige Geräusch, jedes interessante Detail markiert wurde. Oft notierten sie auch skurrile Beobachtungen wie ein altes Fahrrad mitten im Nirgendwo.
Auch an diesem Tag standen sie früh auf, noch vor Sonnenaufgang. Sie fuhren mit Orions altmodischem Auto zum bekannten Waldparkplatz. Der Wagen rollte leise aus, sie schulterten ihre Ausrüstung und ein kalter Wind wehte ihnen entgegen. Über ihnen kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach und warfen flackernde Schatten auf den Boden, als wollten sie mitspielen bei diesem Suchspiel.
Zum Glück hatte Orion noch Ferien, die Schule ruhte, und er musste seinen Beruf als Lehrer für ein paar Tage nicht ausüben. Und so drang er mit Therion tiefer in das Dickicht ein, entschlossen, dem Geheimnis näher zu kommen.
Sie hatten sich wieder getrennt, durchkämmten schweigend das unwegsame Gelände, jeder in seinem Rhythmus, mit geschärften Sinnen. Therion bewegte sich vorsichtig durch das Dickicht, während der Morgennebel langsam aufstieg. Das taufeuchte Laub gab unter seinen Schritten schmierig nach, glitschig wie Seifenhaut. Immer wieder knackte ein Zweig unter seinen Stiefeln, ein warnender Laut in der unnatürlichen Stille des Waldes.
Die Stunden vergingen zäh wie Harz. Der Himmel wurde heller, das Laub trocknete im diffusen Licht der Morgensonne, wurde staubiger und raschelte nun bei jeder Bewegung. Therion hielt inne, atmete tief ein. Etwas war anders. Ein leises Geräusch, kaum mehr als ein Flüstern, drang an sein Ohr. Gleichzeitig stieg ihm ein fremder Geruch in die Nase: verbranntes Öl? Metall? Es war undeutlich, aber genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Ohne zu zögern änderte er die Richtung, verließ die geplante Route. Seine Sinne hatten ihn noch nie getäuscht. Doch in seinem Innern hallte eine vertraute Stimme wider, bissig und voller Skepsis: „Der Instinkt wird dich umbringen.“ Judith. Therion schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken verdrängen. Jetzt war nicht die Zeit für Zweifel.
Seine Schritte wurden schneller, konzentrierter. Dann spürte er einen dumpfen, harten Widerstand unter seinen Schuhen. Metall. Er blieb stehen, kniete nieder und wischte mit der Hand über die feuchte, mit Blättern bedeckte Oberfläche. Eine Tür. Aus massivem Metall. In den Waldboden eingelassen, kaum sichtbar, wenn man nicht direkt darauf trat.
„Orion!“, rief er und spürte, wie die Aufregung in ihm aufflammte. „Ich habe etwas gefunden!“
Wenige Augenblicke später tauchte Orion mit schnellem Atem und angespanntem Gesicht zwischen den Bäumen auf.
„Was ist das?“, fragte er, trat neben Therion und beugte sich über den Fund.
„Ich glaube, das ist ein Eingang. Vielleicht genau der, den wir suchen.“
Orion betrachtete die metallene Luke mit prüfendem Blick. „Sieht alt aus. Und versteckt. Könnte sein.“
Ohne weiter zu zögern, tastete er nach einem Griff, einem Schloss, einem Riegel, irgendetwas, das ihm verraten würde, wie er diese Tür öffnen konnte. Aber sie war glatt, fast nahtlos, als hätte sie nie geöffnet werden sollen. Nach Minuten vergeblichen Suchens ließ sich Orion seufzend auf das feuchte Laub neben der Tür sinken.
„Nichts“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Therion. Seine Stirn war gerunzelt, der Blick leer auf die widerspenstige Platte gerichtet. Verzweiflung lag in seiner Stimme.
Therion atmete schwer, seine Schultern hoben und senkten sich unter der Anstrengung, die in der Luft lag. „Lass mich das machen“, sagte er mit tiefer, kehliger Stimme. Orion zögerte, musterte seinen Gefährten einen Augenblick, bevor er langsam zurückwich und ihm den Vortritt ließ. Schweigend trat er zur Seite, die Augen wachsam auf Therion gerichtet.
Dann begann es. Therions Arme zuckten, als sich seine Muskeln unter der Haut wölbten, verdickten, anspannten. Ein Knurren drang aus seiner Kehle, animalisch und unheilvoll. Haare wuchsen in rasender Geschwindigkeit auf seinem Körper, sein Gesicht verzerrte sich, wurde länger, kantiger. Zähne wie Dolche blitzten unter geschwollenen Lippen hervor. Innerhalb weniger Sekunden war er nicht mehr ganz Mensch, sondern ein Mischwesen, halb Wolf, halb Krieger, in einem massiven, Respekt einflößenden Körper.
Mit einem tiefen, raubtierhaften Knurren näherte er sich der versiegelten Stahltür. Seine Pranken, mit Krallen wie scharfe Haken, klammerten sich an den Türrahmen. Scheinbar mühelos bog er das Metall auseinander, als wäre es weiches Blei. Das Quietschen der sich biegenden Tür hallte durch den Gang, dann öffnete sich die Tür und gab den Blick auf eine steinerne Treppe frei, die hinab in die Dunkelheit führte.
Ohne zu zögern, stürmte Therion die Stufen hinunter. Seine Bewegungen waren fließend und zielgerichtet, geleitet von einem inneren Kompass. Er hatte Blut gerochen. Der metallische Geruch lag wie ein unsichtbarer Pfad vor ihm, der sich durch das unterirdische Labyrinth zog. Sein Blick wurde bedeutungslos, denn in dieser Tiefe waren andere Sinne gefragt: Geruch, Gehör, Instinkt.
Nach mehreren engen Gängen öffnete sich plötzlich der Raum. Therion stand in einer alten U-Bahn-Station, seit langem stillgelegt, aber erstaunlich sauber. Der Boden aus glattem, hellgrauem Beton, die Wände komplett mit gebürsteten Metallplatten verkleidet, die das spärliche Licht diffus reflektierten. Kein Graffiti, kein Schmutz, ein seltsam steriler Ort für einen verlassenen Untergrund.
Orion war ihm gefolgt und betrat nun ebenfalls die Halle. Skeptisch tasteten seine Augen die Umgebung ab. „Hm... sieht so aus, als ob sie hier regelmäßig Leute von außerhalb herbringen“, murmelte er nachdenklich.Therion antwortete nur mit einem kurzen Nicken. Er verlor keine Zeit und ging weiter. Der Blutgeruch war schwächer geworden, aber immer noch wahrnehmbar. Zielstrebig setzte er seinen Weg durch den Tunnel fort. Die Lichtquellen blieben hinter ihm zurück, und bald war er nur noch ein Schatten in der Dunkelheit, geleitet von dem, was andere nicht wahrnehmen konnten.
Der Tunnel zog sich in die Länge, monoton, bedrückend, als würde er nie enden. Das Echo ihrer Schritte vermischte sich mit dem dumpfen Grollen in Therions Brust. Endlich öffnete sich der Weg zu einer Halle, größer als alles, was sie bisher gesehen hatten. Sie betraten einen erhöhten Sims, eine Art Balkon mit breitem Ausgang, der den Blick auf die Ebene darunter freigab.
Therion blieb stehen. Sein Blick schweifte über die Szenerie. Vor ihnen lag eine Zellenlandschaft, akribisch angeordnet, unheimlich systematisch. Reihen über Reihen von Zellen, in unnatürlich symmetrischer Anordnung. Und das Erschreckendste: Viele von ihnen waren beleuchtet. In vielen Zellen bewegten sich Schatten, Silhouetten, Leben.
Orion trat neben ihn, sein Gesichtsausdruck war fassungslos. „Was ist das hier?“, flüsterte er. Doch Therion sagte nichts. Seine Pranken ballten sich zu Fäusten, und in seinem Blick lag etwas Unnachgiebiges.
Orion hatte ihn wieder eingeholt. Mit festen Schritten bewegte er sich weiter den dunklen Gang entlang, das schummrige Licht flackerte über den abgenutzten Bodenfliesen. Die Wände wirkten feucht, als fürchte sich das Gebäude selbst. Therion folgte ihm wortlos, sein Blick wanderte durch die Halle, die sich vor ihnen öffnete. Er blieb stehen, drehte sich langsam um die eigene Achse und musterte die Umgebung mit einem Blick, der mehr sah als nur Mauern.
Orion dagegen ließ sich nicht aufhalten. Zielstrebig betrat er einen Raum zu seiner Rechten, ein mit Schaltpulten, Monitoren und flackernden Kontrollleuchten überladenes Kontrollzentrum. Kabel schlängelten sich über den Boden, der muffige Geruch alter Maschinen lag in der Luft. Hastig ließ er seinen Blick über die Armaturen schweifen, bis er einen rot leuchtenden Notfallknopf entdeckte. Ohne zu zögern drückte er ihn.
Ein dumpfer, metallischer Schlag ging durch das Gebäude. Ein Sirenengeheul setzte ein, schrill und durchdringend. Gleichzeitig ertönte das Klicken und Knarren schwerer Metalltüren, die Zellen sprangen auf. Orion zuckte zusammen, als plötzlich Dutzende, vielleicht Hunderte von Menschen in Häftlingskleidung aus den dunklen Gängen stürmten. Das Dröhnen ihrer Schritte, das Schreien und Keuchen erzeugte ein chaotisches Echo.
„Scheiße!“ brüllte Orion und kämpfte gegen den Strom an. Die entfesselte Menge drängte sich an ihm vorbei, als wäre ein Damm gebrochen. Und dann, mitten in dem Tumult, sah er ihn.
Redcoat. In seiner ikonischen roten Rüstung mit dem pantherartigen Helm ragte er wie ein Monolith aus der Menge. Orion hob die Hand und rannte auf ihn zu.
„Wir holen dich hier raus“, rief er.
Redcoat nickte knapp. Kein Wort. Kein Zögern. Therion trat an seine Seite, und zusammen mit Orion reihten sie sich ein in den Strom der Befreiten, der sich wie ein Fluss durch das Gefängnis wälzte. Der Ausgang war nur eines von vielen Zielen, doch als sie ins Freie traten, schien sich der Alptraum zu wiederholen.
Draußen wartete nicht die Freiheit.
Stattdessen schwebten Graveships über dem Boden, ihre metallenen Rümpfe glänzten im Licht der untergehenden Sonne, wie Raubtiere auf der Lauer. Dahinter ein halbes Dutzend gepanzerter Geländewagen mit aufgesetzten Geschütztürmen. Und davor Reihen von Soldaten in schwarzer Rüstung mit den Insignien von Section Shield. Die Waffen sind bereits erhoben, die Zielsysteme auf die fliehende Menge eingestellt.
Orion, Redcoat und Therion hielten inne.
Therion trat einen Schritt vor und murmelte mit tiefer, fast animalischer Stimme: „Sie wollen...“
„Ich höre den Puls des Generals...“ Er deutete auf einen Mann in dunkler Uniform mit silbernem Abzeichen und kalten Augen, der in der Mitte der Formation stand.
Der Mann hob das Kinn und sprach laut und klar: „Sie sind in eine gesicherte Einrichtung eingedrungen, haben Eigentum von Section Shield zerstört und Informationen entwendet. Das ist ein Angriff auf die Republik.“
Redcoat trat vor, sein Blick ruhig, aber durchdringend. Mit seinem markanten südamerikanischen Akzent sagte er. „Was glauben Sie, wer die sind?“
Barton runzelte die Stirn. Redcoat hob das Kinn. „Ich bin Ronald Barton.“
Ein Murmeln ging durch die Soldaten.
Auch Therion trat vor, die Schultern angespannt wie ein lauerndes Tier. „Erinnerst du dich an mich, Flagman?“
Barton blinzelte. „Nein. Ich erinnere mich nicht an Abschaum.“
Ein Knurren vibrierte in Therions Brust. „Abschaum hat dir im Dritten Weltkrieg den Arsch gerettet.“
Barton lachte kalt. „Mag sein. Aber heute wirst du ohne Ruhm sterben.“
„Mir reicht's“, zischte Orion. Seine Hand schnellte nach hinten und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Mit geübter Präzision spannte er den Hightech-Bogen, zielte auf zwei der dicht nebeneinander stehenden Geländewagen und ließ los.
Der Pfeil traf.
Ein Höllenknall erschütterte die Luft. Die Fahrzeuge explodierten in einer Feuerwolke, die Druckwelle schleuderte mehrere Soldaten zu Boden.
Der Krieg hatte begonnen.
Der Kampf eskalierte in einem Mahlstrom aus Chaos und Gewalt. Orion bewegte sich mit tödlicher, fast übermenschlicher Präzision. Pfeil um Pfeil schoss aus seinem Bogen, und kaum war die Sehne zurückgezogen, spannte er schon den nächsten. Seine Bewegungen waren fließend, fast tänzerisch, während er sich von Baum zu Baum hangelte, immer auf der Suche nach Deckung, immer in Bewegung. Der Wald um ihn herum vibrierte vor Lärm: das Kreischen der Waffen, das Brüllen der Kämpfer, das Knacken der Äste unter den eiligen Schritten.
Therion und Redcoat waren wie wildgewordene Bestien. Mit einer Wildheit, die Furcht einflößte, stürzten sie sich auf ihre Feinde. Redcoat pflügte wie eine lebende Maschine durch die gegnerischen Reihen. Seine kugelsichere Rüstung war von Einschusslöchern übersät, doch kein Schuss durchdrang sie. Mit metallisch glänzenden, ausfahrbaren Klauen riss er seine Gegner in Stücke, zerfetzte Fleisch und Metall gleichermaßen. Blut und Funken sprühten durch die Luft, während sein mechanischer Körper unaufhaltsam vorrückte.
Therion dagegen war ein Sturm aus Zähnen, Klauen und Wahnsinn. Er brüllte, schlug und biss, schleuderte seine Gegner zu Boden, als wären sie aus Papier. Seine Werwolf-Kräfte hatten von ihm Besitz ergriffen. Doch mit der Macht kamen auch die Schatten seiner Vergangenheit. Mitten im Kampf verschwamm die Wirklichkeit. Die Bäume von San Arenisca flackerten in seinem Blickfeld und wurden immer wieder von den dunklen Silhouetten des Schwarzwaldes seiner Vergangenheit abgelöst. Sein Verstand konnte die Grenzen nicht mehr erkennen. Für jeden Soldaten von Section Shield, der auf ihn schoss, sah er plötzlich einen Mann aus dem Dorf, bewaffnet mit einem selbstgebauten Bogen und mit panischer Entschlossenheit in den Augen. Gegenwart und Vergangenheit verschmolzen zu einem alptraumhaften Wahn.
Sein Brüllen wurde schriller, wilder, durchdrungen von Schmerz, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Er taumelte, riss sich zusammen, nur um im nächsten Moment von einer neuen Vision heimgesucht zu werden.
Flagman beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung. Sein Blick glitt über das Schlachtfeld, über den tobenden Therion, über den mordenden Redcoat, über Orion, der aus der Ferne immer noch präzise Pfeile schickte. Es war offensichtlich. Diese Schlacht war nicht mehr zu gewinnen, nicht heute, nicht mit diesen Gegnern. Ohne ein weiteres Wort, ohne ein Zeichen des Bedauerns wandte er sich ab. Er stieg in das wartende Flugzeug, ließ den Frachtraum schließen und hob ab. Die Motoren heulten auf, als er dem Inferno unter ihm entglitt, das am Horizont immer kleiner wurde.
Wenige Minuten später senkte sich lautlos ein Graveship in die dämmernde Abendluft. Es war sofort klar, dass es keine Bedrohung darstellte, die weißen Navigationslichter blinkten ruhig, und die geschwungene Silhouette der Maschine wirkte eher elegant als aggressiv. Sanft setzte das Schiff zwischen den hohen Bäumen eines angrenzenden Wäldchens auf, die Triebwerke wirbelten nur leichten Staub auf. Durch das Cockpitfenster konnte man Corto sehen, der ihnen mit erhobener Hand zuwinkte.
„Da ist er! Los!“, rief Orion mit fester Stimme, während ein Anflug von Erleichterung über sein Gesicht huschte. Ohne zu zögern stürmte er voran, die anderen dicht hinter sich. Sie hetzten zwischen den verbliebenen, erschöpften Soldaten von Section Shield hindurch, die sich am Rand des Waldes postiert hatten - viele mit staubbedeckten Gesichtern und müden Augen. Die angespannte Stille wich für einen Moment der Hoffnung, als das Team auf das Grab zustürmte und die geöffnete Rampe hinaufkletterte.
Kaum hatten sie das Innere des Schiffes betreten, wurden sie von einer jungen, strahlenden Stimme begrüßt. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen stürmte auf Orion zu und warf sich ihm mit leuchtenden Augen in die Arme. „Papa! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Ihre Umarmung war fest und voller Gefühl, ein kurzer Moment, der alles um sie herum vergessen ließ. Orion hielt sie ebenso fest, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte.
Worte waren kaum nötig. Die Erschöpfung lag wie ein Schleier über allen, doch in diesem Moment reichte der Blick auf das, was kommen sollte. Sie setzten sich in Bewegung, während die Graveship mit einem tiefen Brummen abhob und sich dem Horizont zuwandte. Ihr Ziel war eindeutig Madison Town. Und vielleicht, so hofften sie insgeheim, ein Neuanfang.
Robert Ward wartete schweigend am Rande der Landebahn. Der Wind trug das leise Dröhnen der Triebwerke davon, als das Transportflugzeug zum Stillstand kam. Nach und nach stiegen die Passagiere aus. Orion, Alex und Redcoat wurden von Ward mit einem warmen Lächeln und einer kurzen Umarmung begrüßt. Sie wechselten ein paar Worte, flüchtige Sätze, die mehr Vertrautheit als Inhalt trugen. Dann gingen sie gemeinsam auf das Pentagon zu, ihre Schritte hallten auf dem Betonboden wider, als sich die schweren Türen öffneten und sie im Inneren verschwanden.
Therion stieg als letzter aus. Er blieb einen Moment stehen, die kühle Luft auf seiner Haut, den Blick auf Robert gerichtet. Ihre Augen trafen sich. Langsam kam Therion näher, seine Schritte bedächtig, fast zögernd. Schließlich blieb er vor Ward stehen. „Ich gehe“, sagte er leise, fast wie ein Geständnis. „Ich werde Hajar suchen.“
Ward sah ihn lange an. Schließlich nickte er langsam.
„Ich verstehe dich. Mehr als du vielleicht denkst“, sagte er ruhig. „Aber ich muss dich etwas fragen, bevor du gehst.“ Er machte eine kurze Pause. „Wirst du da sein, wenn ich dich rufe? Wenn wir dich brauchen?“
Therion hielt seinem Blick stand. Er atmete tief durch.
„Ja“, sagte er. „Immer.“
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