Kapitel 48 - Wellenkratzer

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Nott bewegte sich mit ruhigen, festen Schritten durch den Central Park von Saint Veronika, ein weitläufiges grünes Areal, das seinen einstigen Glanz längst verloren hatte. Früher, als die Stadt noch New York hieß, war dieser Ort ein lebendiger Treffpunkt für Freiheitsdenker, Träumer und Revolutionäre gewesen. Heute jedoch herrschte hier eine fast gespenstische Leere. Die Bäume wirkten kahl und zerzaust, der Boden war an vielen Stellen aufgebrochen, als hätte die Erde selbst die Hoffnung aufgegeben. Graffiti bedeckten alte Denkmäler, verrostete Lampen warfen trübes Licht auf die rissigen Wege. In der Ferne war nur das leise Rauschen des Windes zu hören, der durch die zerfallenen Baumkronen strich.

Der Park hatte sich weit nach Süden ausgedehnt, wo er nun an den breiten Hudson River grenzte, zumindest an das, was von ihm übrig geblieben war. Seit das große Erdbeben, ausgelöst durch tektonische Verschiebungen infolge des beschleunigten Klimawandels, Lower Manhattan buchstäblich verschluckt hatte, stand ein Teil der Stadt unter Wasser. Die Straßen und Viertel, einst voller Leben, waren versunken und erinnerten nur noch in Umrissen unter der Wasseroberfläche an vergangene Zeiten.

Am südlichen Ende des Parks war nach der Katastrophe eine improvisierte Anlegestelle entstanden, eine Mischung aus maritimem Busbahnhof und Wassertaxi-Station. Von hier aus fuhren kleine Boote mit Passagieren über die neu entstandenen Wasserwege.


Nott ging mit leicht geneigtem Kopf zur Anlegestelle, den Blick aufmerksam über die wartenden Boote schweifend. Ein alter Seemann, dessen wettergegerbtes Gesicht die Geschichten eines langen Lebens auf See zu erzählen schien, nickte ihm freundlich zu. Sein linker Arm bestand aus einer groben Metallprothese, die matt in der Morgensonne glänzte. „Guten Morgen, Junge“, murmelte er mit rauer Stimme. Nott erwiderte den Gruß mit einem kurzen Nicken und bestieg eines der Boote, ein altersschwaches, quietschendes Gefährt, das sich langsam vom Steg löste.

Das Boot setzte sich in Bewegung und zog eine kleine Welle hinter sich her. Nott lehnte sich an das kalte Metallgeländer und blickte hinaus auf das dunkle Wasser, das sich wie ein verträumtes Tuch vor dem grauen Himmel spannte. Dort, im Schatten der Zeit, ragten die Spitzen alter Gebäude aus der Flut, die letzten stummen Zeugen eines versunkenen Manhattan. Nur noch wenige der alten Wolkenkratzer ragten aus dem Wasser. Man nannte sie jetzt „Wellenkratzer“, weil ihre unteren Stockwerke komplett vom Fluss verschluckt worden waren.

Der Himmel war bleigrau, aber ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Es war, als würde sich der Winter widerwillig zurückziehen und in der Wärme der kommenden Jahreszeit dahinschmelzen.

Nach wenigen Minuten erreichte das Boot den Brooklyn Navy Yard. Die Anlegestelle war klein, improvisiert aus Betonplatten, zwischen denen Moos und Unkraut wucherten. Nott bezahlte schnell über sein Synect, eine kurze Geste mit dem rechten Handgelenk, ein leises Summen bestätigte die Transaktion und er verließ das Schiff.


Er ging in Richtung Clinton Hill. Die Straßen waren ruhig, gesäumt von alten Backsteinhäusern und verlassenen Läden, deren Schaufenster mit Folien verhängt waren. Schließlich blieb er vor einem unscheinbaren Haus stehen. Die Fassade war grau und rissig, die Fensterrahmen abgeblättert. An der Wand neben der Eingangstür hing ein leicht schiefes Schild: „Hanley & Partner - Rechtsanwälte“.


Nott trat ein. Im Flur roch es nach altem Holz, Papier und Staub. Er stieg die knarrende Treppe hinauf, deren Geländer unter seiner Hand vibrierte. Oben angekommen, stand er vor einer halb verglasten Tür, durch die man nur verschwommene Umrisse erkennen konnte. Er klopfte zweimal, wartete einen Moment, öffnete dann die Tür und trat ein.

Der Empfangsbereich war schlicht und spärlich möbliert. In der Mitte stand ein kleiner Holztisch, darauf ein veraltetes, ausgeschaltetes Terminal. Kein Empfangspersonal weit und breit. Links und rechts gingen zwei Türen ab. Die linke stand offen, offenbar ein leeres Büro, in dem nur ein einzelner Stuhl unter einer Staubschicht stand. So viel zum Partner. Die rechte Tür war verschlossen, aus massivem Holz, mit einem Namensschild, dessen Buchstaben leicht abgegriffen waren.

Der ganze Raum strahlte eine Atmosphäre aus, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Die Einrichtung erinnerte an Detektivbüros aus alten Schwarzweißfilmen: abgenutzte Schreibtische, ein metallener Aktenschrank in der Ecke, vergilbte Vorhänge vor den Fenstern. Funktional, aber auch leblos, Kulisse für eine Geschichte, die schon lange niemand mehr erzählen wollte.

Wieder klopfte Nott, diesmal an die geschlossene Tür. Ein leises „Herein“ war kaum zu hören. Er drückte die Klinke und trat ein.


An einem schmalen, von Akten überquellenden Schreibtisch saß der Mann, den Kain "Nott" Downs suchte, Scott Hanley. Ein Name, der durch sämtliche Nachrichtensendungen geflimmert war, nachdem direkt neben ihm der Bürgermeister von Saint Veronika, Alfred Watergilb, bei einer öffentlichen Veranstaltung erschossen worden war. Die WNN hatte tagelang über die Tat berichtet, Hanleys Foto war weltweit auf den Titelseiten. Doch heute wirkte der gefeierte Anwalt wie ein Schatten seiner selbst. Blass, mit müden Augen und zerknittertem Anzug saß er über einen Stapel digitaler Fallakten gebeugt und tippte mechanisch in sein Terminal.

Als Nott den Raum betrat, regte sich Hanley kaum. Nur die feinen Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an.

„Was wollen Sie?“, fragte er tonlos, ohne aufzusehen.

„Ich suche Antworten“, antwortete Nott mit fester Stimme.

Endlich blickte Hanley auf, sein Gesicht eine Maske aus Skepsis und Müdigkeit. „Hm. Antworten. Ich spreche nicht mit der Presse.“

„Das weiß ich zu schätzen“, erwiderte Nott ruhig und setzte sich auf die gegenüberliegende Tischkante. „Mein Name ist Kain Downs, aber die meisten Leute nennen mich Nott. Ich bin kein Journalist. Ich habe unter meinem Vater gearbeitet, dem Sicherheitschef von Alfred Watergilb.“

Hanley blinzelte, Interesse erwachte in seinen Augen.

„Wir sind angegriffen worden“, fuhr Nott fort. „Nicht von Kriminellen, nicht von Aufständischen. Von ausgebildeten Einheiten. Mein Vater, Watergilbs Frau und seine Tochter Ava wurden entführt. Ihre ältere Schwester Maila konnte ich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Und jetzt ... frage ich mich, warum? Warum dieser Angriff? Was hat Watergilb Ihnen erzählt?“

Hanley sagte eine Weile nichts. Dann stand er langsam auf, ging hinaus auf den Flur und schloss die Tür mit einem antiken Schlüssel zweimal ab. Als er zurückkam, führte er Nott in ein kleineres Büro, das viel aufgeräumter war. Ohne ein Wort zu sagen, schloss er auch hier die Tür und verriegelte sie. „Nott, darf ich Nott sagen?“

Nott nickte nur.

Hanley seufzte, fuhr sich durchs Haar und begann: „John Warren war hier. Er hat mich stundenlang verhört. Nicht wie ein Beamter, sondern wie einer, der zu viel gesehen hat und niemandem mehr traut. Er wollte jedes Detail wissen, was ich für Alfred getan habe, welche Papiere ich habe, wo Maila ist. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, dass wir nicht einmal eine Spur haben. Dass alles, was wir wissen, im Nichts endet. Und wissen Sie, was er gesagt hat? Dass ich unter Beobachtung stehe. Dass mir im Zweifelsfall die Zulassung entzogen wird.“

Nott verzog das Gesicht. „Section Shield ... das ergibt Sinn. Warren ist eine Legende - aber keine angenehme. In der Armee war er berüchtigt für seine unorthodoxen Methoden.“

„Dann wissen Sie, dass er keine halben Sachen macht. Er wird wiederkommen. Und dieses Mal ... wird er keine Fragen mitbringen.“

„Er wird auch nach mir suchen“, sagte Nott leise.

Hanley nickte. „Ja. Du musst dich verstecken.“

„Oder ...“, Nott beugte sich leicht vor, „du besorgst dir einen neuen Ausweis. Ich kenne da jemanden. Ich schlage vor, dass du mich offiziell als Ermittler einsetzt. Ich kann Dinge tun, die du nicht kannst. Zusammen finden wir vielleicht die Wahrheit heraus.“

Hanley sah ihn einen Moment an. Dann, mit einem schwachen Lächeln: „Sie waren also bei der Militärpolizei?“

„International. Ich habe gegen Leute ermittelt, von denen du nicht einmal willst, dass sie deinen Namen kennen. Wenn ich eines gelernt habe: Niemand ist so gut darin, Informationen zu verbergen, wie Männer in Anzügen mit Macht.“

„Dann“, sagte Hanley und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, „haben wir wohl eine Abmachung.“

„Dann sind wir wohl im Geschäft“, sagte Nott. Seine Stimme klang ruhig, aber innerlich spannte sich alles an. Endlich, ein erster Schritt.


Hanley aktivierte einen Holoprojektor auf dem Schreibtisch. Das bläuliche Licht flackerte kurz, dann stabilisierte sich das Bild.

„Martin? Ich brauche dich hier. Mein Staubsauger ist kaputt.“

Stille. Dann eine tiefe Stimme am anderen Ende: „Dann muss wohl der Lieberman-Reparaturdienst kommen.“ Die Verbindung brach ab.

Hanley grinste schief. „Das war unser Code. Er wird in einer halben Stunde hier sein. Und er bringt alles mit, was wir brauchen.“


Nott und Scott nahmen schweigend auf dem abgewetzten Ledersofa Platz, das in Hanleys schummrig beleuchtetem Büro stand. Die Nachmittagssonne drang nur schwach durch die halb geschlossenen Jalousien, und das Summen des alten Ventilators über ihnen war das einzige Geräusch im Raum.

„Du machst dir Sorgen um Ava“, sagte Scott schließlich leise und warf Nott einen durchdringenden Blick zu. „Du hast ihren Namen erwähnt. Sie stand im Mittelpunkt deiner Erklärung“ Nott zögerte kurz, dann nickte er langsam. „Ja. Wir sind zusammen aufgewachsen, weißt du? Unser ganzes Leben lang haben wir in dieser Villa gelebt. Unsere Kindheit war ... kompliziert, aber sie war immer da. Sie ist wie eine Schwester für mich.“

Scott lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah Nott aufmerksam an. „Und jetzt glaubst du, dass mit ihr etwas nicht stimmt?“

Bevor Nott antworten konnte, trat Hanley hinter seinem Schreibtisch hervor. Er stellte sich ans Fenster, blickte nachdenklich hinaus und sagte mit rauer Stimme: „Gefühle sind immer schwierig.“

Nott wollte widersprechen, den Satz korrigieren, aber Hanley hob ruhig die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Gefühle sind immer schwierig, und du kannst sie nicht verstecken. Sie kommen zum Vorschein. Früher oder später. Aber wir haben das gleiche Ziel.“


Ein dumpfes Klopfen an der Haustür durchbrach die Stille wie ein Donnerschlag. Hanley drehte sich um, warf ihnen einen kurzen Blick zu und verließ wortlos den Raum.

Sekunden später kam er zurück, gefolgt von einem stämmigen, leicht keuchenden Mann mit rundem Gesicht und einem Koffer in der Hand. Er trug einen beigefarbenen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte, und lächelte pflichtbewusst.

„Guten Tag, Martin Lieberman“, sagte Hanley und nickte ihm kurz zu. Dann wandte er sich an Nott. „Oder sollte ich sagen: Jack Cross. Ja, das ist jetzt Ihr offizieller Name.“

Nott runzelte überrascht und ein wenig irritiert die Stirn. „Jack Cross?“

Hanley lächelte kaum merklich. „Ein neuer Name für ein neues Leben.“

Lieberman stellte seinen Koffer auf den Tisch, öffnete ihn mit einem leisen Klicken und zog ein dünnes Kabel mit einem kleinen silbernen Gerät heraus. „Bitte legen Sie Ihren Arm auf den Tisch“, sagte er mit routinierter Stimme.

Nott gehorchte, wenn auch widerwillig. Er legte den linken Arm ab, und Lieberman verband das Kabel mit einem unscheinbaren Anschluss an seinem Synect.

Ein kurzes Summen erfüllte den Raum, begleitet von einem grünen Lichtsignal am Gerät. Lieberman blickte kurz auf ein Display und nickte zufrieden. „Die Installation ist abgeschlossen. Wir warten jetzt etwa zehn Minuten, bis sich die Identifizierung stabilisiert hat. Dann kann Hanley Sie offiziell unter Ihrem neuen Namen einstellen.“

Nott atmete tief durch, sein Blick wanderte wieder zum Fenster. Gedanken an Ava schossen ihm durch den Kopf.


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