Kapitel 47 - Geplante Pläne
Schwerfällig rumpelte der Wagen über die trockene, aufgerissene Erde, während die sengende Wüstensonne erbarmungslos auf das rostige Blech brannte. Jeder Schlag ließ das klapprige Fahrgestell ächzen, als würde es unter der Last seiner eigenen Vergangenheit zusammenbrechen. In der Ferne, flimmernd im Hitzeschleier, zeichnete sich allmählich die Silhouette von San Arenisca ab, ein gespenstisches Relikt vergangener Größe. Therion starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Umrisse. Er konnte sein Ziel schon erahnen.
Direkt vor ihm spannte sich das Gerippe der Oakland Bay Bridge über die staubige Weite. Zur Linken erhob sich der Mount Diablo, einst mächtig und beeindruckend. Therion würdigte ihn keines weiteren Blickes.
Er wusste genau: Sobald er die Brücke überquert hatte, würde er direkt auf die massiven Stadtmauern von San Arenisca zusteuern. Oder vielmehr auf das, was von der einst pulsierenden Metropole nach dem Dritten Weltkrieg übrig geblieben war. Die einstige Ikone der Westküste war zusammengefallen, wie ein in sich gekehrter Organismus. Nur ein Fragment hatte sich hinter der Bucht erhalten. Heute heißt es San Arenisca, der Sandbogen.
Die mächtige Mauer aus Beton und Metall zog sich quer über den Fuß der Brücke und trennte das neue Innere von der staubigen Außenwelt. Sie wirkte weniger als Schutz denn als Mahnmal verlorener Ideale.
Als er sich der Mauer näherte, verlangsamte Therion den Wagen und hielt an der rostigen Schleuse an. Staub wirbelte auf, der Motor brummte ein letztes Mal und verstummte.
Therion stieg aus, blinzelte gegen die gleißende Sonne und roch die salzige, warme Brise des Südpazifiks. Der Wind strich durch sein Haar und hinterließ einen Hauch von Salz und Rost in seiner Nase. Es war ein seltsamer Moment, fremd und doch vertraut.
Ein kleiner Mann kam auf ihn zu, kaum größer als ein Teenager, mit glatter Haut und wachen, dunklen Augen. Seine Bewegungen waren flink, fast wie die eines nervösen Tieres.
„Hallo, Sir?“ fragte der Fremde mit leichtem Akzent und blieb höflich ein paar Meter entfernt stehen.
„Jo?“ antwortete Therion, ohne sich von der Stelle zu rühren, und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Sind Sie... Therion Vesperi?“
Er nickte langsam, seine Augen suchten automatisch die Umgebung ab.
„Darf ich mich vorstellen: Gabriel Rodriguez, aber die meisten nennen mich Corto. Ich bin von der Globe Preservation. Man hat mich geschickt, um Sie hier abzuholen.“
„Corto, hm“, wiederholte Therion und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „In Ordnung. Gehen Sie vor.“
Corto nickte dankbar, drehte sich um und führte ihn zu einem Fahrzeug, das im Vergleich zu Therions klapprigem Gefährt wie ein Traum aus der Vergangenheit wirkte, glatt, unversehrt, fast glänzend.
Kaum hatte Therion Platz genommen, stieg ihm ein intensiver Geruch in die Nase.
„Vanille?“, murmelte er verächtlich.
Corto lächelte entschuldigend. „Ja. Standardausstattung. Soll beruhigend wirken.“
„Beruhigend? Ich könnte kotzen.“
Aber er sagte nichts mehr. Die Schleuse öffnete sich nach einer kurzen Kontrolle, als wäre es nur eine Formalität. Doch die Wachen von Section Shield warfen ihm misstrauische Blicke zu, zu durchdringend, um sie zu ignorieren.
„Ich werde mich wohl nie mit diesem Section Shield anfreunden können“, kommentierte Therion leise, mehr zu sich selbst.
Corto zuckte die Schultern. „Die Leute akzeptieren es. Die Polizei ist schwach, von innen zersetzt. Section Shield ist das Einzige, was noch funktioniert. Und offiziell ... gibt es sonst niemanden mehr, der für Sicherheit sorgt.“
„Und Globe Preservation?“, fragte Therion.
„Niemand kennt uns. Noch nicht. Und das ist auch gut so.“
Therion nickte langsam, seine Gedanken schweiften ab.
„Die Menschen ...“, begann er, mehr eine Feststellung als ein Urteil, „... sind dumm. Und sie beweisen es immer wieder.“
Corto warf ihm einen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Der Wagen rollte gemächlich über den ausgedörrten Asphalt in eine neue Welt.
San Arenisca war erstaunlich gut erhalten, ein Ort, der fast wie ein vergessenes Juwel in der Sonne funkelte. Die Stadt strahlte in warmen Farben, ockerfarbene Fassaden, bemalte Fensterläden und üppig blühende Pflanzen auf den Balkonen gaben ihr einen fast mediterranen Charme. Freundlichkeit lag in der Luft, eine Gelassenheit, die sich auch auf Fremde übertrug. Kinder spielten lachend zwischen den Marktständen, Händler riefen sich über die Straße zu, als wären sie Teil eines großen Familiengesprächs.
Zwischen dem geschäftigen Treiben rollten gelegentlich schwarze Geländewagen von Grendel Automotive mit dem Wappen von Section Shield langsam durch die Straßen. Ihre Präsenz erinnerte daran, dass nicht alles so friedlich war, wie es schien. Die Sicherheitskräfte hielten stets Ausschau, aufmerksam, aber ohne bedrohlich zu wirken.
Einer der Wagen glitt nun lautlos an den Menschen vorbei und hielt schließlich vor einem kleinen, schattigen Straßencafé von Moonbeans. Rodriguez warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und drehte sich dann halb um. „Warten wir hier“, schlug er leise vor. Therion brummte zustimmend, die Stirn leicht gerunzelt, wie immer, wenn er nachdachte.
Sie stiegen aus, und wenige Minuten später saßen sie an einem Tisch im Freien, halb verborgen unter einem ausladenden Sonnenschirm. Gabriel kramte in seiner Jackentasche und zog einen kleinen silbernen Datenchip hervor. Mit einer beiläufigen Bewegung legte er ihn vor Therion auf den Tisch.
„Hier. Lade das in deinen Synect. Das sollte dein Kleidungsproblem für immer lösen.“
Therion nahm den Chip kommentarlos entgegen, tippte auf sein Handgelenkgerät und legte den Chip auf die leuchtende Fläche. Ein leises Piepen ertönte und schon verschwand die Datei im Inneren seines Synect. Kurz darauf flackerte ein Hologramm auf, dann bildete sich langsam eine neue Kleidungsschicht über seinem Körper. Die veralteten, teilweise beschädigten Überreste verschwanden in Sekundenschnelle und wurden durch frische, funktionale Straßenkleidung ersetzt, schlicht, aber gut geschnitten. Sie erinnerte ihn an das, was er früher in Saint Veronika getragen hatte.
„Jetzt geht nichts mehr kaputt“, murmelte Gabriel zufrieden.
Therion blickte ihn schief an. „Weißt du das wirklich?“
Corto grinste breit und klappte ebenfalls sein Synect auf. Mit einem Wisch holte er einen aktuellen Bericht von WNN hervor, der als Hologramm über der Tischplatte schwebte. Er zeigte Therion inmitten eines explosiven Kampfes mit einem riesigen außerirdischen Wesen, eine Szene voller Chaos, Lichtblitze und Schreie.
„Natürlich wissen wir das. Sieh dir das an.“ Corto tippte auf das Bild. „Du bist überall. Held der Stunde.“
Therion stöhnte verärgert und wandte sich ab. „Großartig. Genau das habe ich gebraucht.“
„Hey, keine Sorge“, sagte Corto und schloss das Hologramm wieder. „Sie feiern dich. Niemand sagt etwas Schlechtes über dich. Du bist ein verdammter Superheld. Genieß es wenigstens ein bisschen.“
Therion schnaubte leise, seine Stimme klang heiser. „Ich habe schon ganz andere Dinge erlebt, als gefeiert zu werden. Das geht auch vorbei.“
In diesem Moment brachte der Kellner dampfenden Kaffee und ein Kännchen Hafermilch. Der Duft war einladend, fast beruhigend. Therion griff nach seiner Tasse, nahm einen Schluck und schloss für einen Moment die Augen, als wolle er den kurzen Moment der Ruhe genießen.
„Wann treffen wir Orion?“, fragte er schließlich und setzte die Tasse langsam ab.
Corto blickte auf seine Synect-Anzeige. „In genau dreißig Minuten.“
„Und wo ist er jetzt?“
Corto deutete mit dem Kopf auf die andere Straßenseite. „Da drüben.“
Therion folgte seinem Blick und entdeckte ein schlichtes, sandfarbenes Gebäude mit hohen Fenstern und einem metallenen Schriftzug über dem Eingang: Escuela de Ciencia Integrada. Durch die Fenster drangen Stimmen und Gelächter.
„In der Schule?“ „Genau. Er ist der Physiklehrer.“ Corto grinste. „Glaub mir, du wirst überrascht sein.“
Dreißig Minuten später gingen Corto und Therion durch die langen, leicht abgenutzten Flure des alten Schulgebäudes. Obwohl es sich um eine gewöhnliche Schule handelte, kam Therion alles seltsam geschrumpft vor, wie eine Puppenwelt, die einst riesig gewesen war, nun aber in seiner Erinnerung zusammengeschrumpft war. Die Decken wirkten niedriger, die Türen schmaler, und die vertrauten Spinde links und rechts wirkten wie Überbleibsel aus einem anderen Leben.
Vor einem der Physiklabore blieben sie stehen. Ohne ein Wort zu sagen, drückte Corto die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich quietschend. Der Raum war leer und kühl, es roch nach Staub, alten Holzplatten und vergilbtem Papier. Weiße Holztische reihten sich ordentlich aneinander, aber sie waren mit Kritzeleien, Formeln und Karikaturen übersät, ein kreatives Chaos, das von den unruhigen Köpfen unzähliger Schüler erzählte. Die Drehhocker standen verstreut.
An der Wand hinter dem ausladenden Lehrerpult hing tatsächlich noch eine klassische grüne Tafel. Sie war von einer feinen Staubschicht bedeckt, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit.
"Eine Tafel? Wirklich?" Therion zog skeptisch eine Augenbraue hoch und setzte sich auf einen Hocker, der unter seinem Gewicht bedrohlich ächzte. "Sind wir aus Versehen in eine Zeitmaschine geraten?"
Corto lächelte nicht. Stattdessen starrte er stumm auf die Tür, als warte er auf etwas. Minuten vergingen in einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Langeweile. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein älterer Mann trat ein.
Er war kein gewöhnlicher Lehrer, sein schütteres graues Haar stand ihm trotzig zu Berge. Aber sein Körper war erstaunlich fit, fast drahtig. Keine Spur von Bierbauch, keine gebückte Haltung. In seinem Blick lag etwas Strenges, etwas, das man nicht mit Alter verwechseln durfte.
Er hielt inne, ließ den Blick schweifen und sagte schließlich trocken: "Sie sehen nicht aus wie meine Schüler."
Therion zuckte die Schultern. "Dann sind Sie wohl einer von den Schlauen."
Ein kurzer Moment des Schweigens. Der Lehrer trat langsam hinter das massive Pult, seine Bewegungen fließend und kontrolliert. Dann lächelte er, es war kein freundliches Lächeln.
"Gehören Sie zu Kessler?" Seine Stimme war leiser geworden, aber es lag eine Schärfe in ihr, die Aufmerksamkeit forderte.
Therion runzelte die Stirn. Die Frage hatte ihn unvorbereitet getroffen. Er reagierte einen Augenblick zu spät.
Plötzlich griff der Lehrer unter das Pult und zog eine schwarze Maschinenpistole hervor, kühl, elegant, tödlich. Die Situation änderte sich schlagartig.
"Ich glaube, Sie gehen jetzt besser", sagte er ruhig.
"Einen Moment", wandte sich Therion mit leicht geweiteten Augen an Corto. "Meint er das ernst?" Er deutete auf die Waffe und sprach mit der Stimme eines Mannes, der glaubte, im falschen Film zu sein.
Corto antwortete nicht mit Worten, nur mit einem langsamen, ernsten Nicken.
Therion atmete tief durch, trat einen Schritt vor und hob leicht die Hände, als wolle er gleichzeitig beschwichtigen und aufklären. Der Lehrer beobachtete ihn aufmerksam, die Finger ruhig auf dem Abzug.
"Mein Name ist Therion Vesperi", sagte er mit fast provozierender Monotonie. "Ich bin im Auftrag von Globe Preservation hier. Ich suche Orion. Ich soll ihn rekrutieren."
Corto lachte trocken. "Bravo. So überzeugend."
Der Professor verzog keine Miene und musterte Therion einen langen Augenblick.
"Orion also." Er legte die Waffe nicht aus der Hand. "Dieser Rächer der Nacht, den die Presse zu einer Legende stilisiert. In den Schlagzeilen ist er sicher erfolgreicher als in der Realität. Zumindest schreiben sie ständig über ihn."
Therion blieb ernst. „Das reicht für unsere Zwecke.“
„Sie sind Adam Austin“, begann Corto mit fester Stimme und musterte den Mann vor ihm aufmerksam. „Oder besser gesagt, man kennt Sie heute auch unter einem anderen Namen, Orion.“
Austin runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
„Sie haben in der Armee gedient, wurden im Dritten Weltkrieg nach Südamerika geschickt, Spezialeinheit, hochriskante Einsätze im Regenwald. Sie haben dort gekämpft wie ein Schatten, lautlos, tödlich, mit Pfeil und Bogen. Im Südkorps waren sie gefürchtet. Eine lebende Legende.“
Therion stand leicht schräg neben Corto und beobachtete Austin aufmerksam. Keine Bewegung, nur ein kaum merkliches Atmen.
Corto sprach weiter. „Dort, inmitten dieses Chaos, haben Sie Leana getroffen. Sie war mehr als nur ein kurzer Lichtblick in einem schmutzigen Krieg, sie wurde die Mutter Ihrer Tochter Alexandra. Vor vier Jahren wurde Leana bei einem Angriff erschossen. Die Kugel kam aus einem Gewehr von Kessler Industries.“
Austin blinzelte, ganz leicht. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
„Seit diesem Tag bist du Orion geworden, der Rächer, der Geist, der die Straßen unsicher macht für die, die im Schatten gedeihen.“
Ein Moment der Stille trat ein. Austin ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, als suchte er nach Fluchtwegen, Ausgängen, Möglichkeiten. Es war das Verhalten eines erfahrenen Kämpfers, eines Mannes, der nie nur zuhörte, sondern immer schon rechnete.
„Sie brauchen nicht zu fliehen“, sagte Corto ruhig. „Wir sind nicht hier, um Ihnen etwas anzutun.“
Austin blieb stumm.
„Gut“, fuhr Corto fort. „Dann kommen wir zur Sache. Haben Sie in letzter Zeit von den Vorfällen in Blackchester oder Kansas City gehört? Unsere Gegner werden immer organisierter, besser bewaffnet, schneller, skrupelloser. Und wir ... wir brauchen Leute wie Sie.“
Therion verschränkte die Arme. „Unser Boss will ein Team zusammenstellen. Keinen Haufen Söldner, sondern Leute mit einer Geschichte, mit Erfahrung, mit einer Motivation.“
„Eine Mission“, fügte Corto hinzu. „Der Plan ist, Redcoat aus der Gefangenschaft von Section Shield zu befreien und dann gemeinsam zu Globe Preservation zu stoßen. Dann wären Sie und Ihre Tochter unter unserem Schutz. Die Regierung könnte Ihnen nichts mehr anhaben.“
Austin schwieg einen Moment. Dann hob er den Kopf und fragte knapp: „Wie sieht der Plan aus?“
Corto begann zu erklären, skizzierte die Route, die Positionen, die vermeintlichen Sicherheitsprotokolle. Austin hörte aufmerksam zu, ließ sich nichts anmerken, bis er plötzlich leise lachte.
„Ich hoffe wirklich, dass ihr in anderen Bereichen besser vorbereitet seid“, sagte er und trat langsam hinter dem alten Schreibtisch hervor. Seine Schritte waren ruhig, aber jeder Muskel war angespannt.
„Es wird immer besser“, murmelte Therion mit einem schiefen Grinsen. „Hat jemand Popcorn?“
Austin ignorierte die Bemerkung. „Redcoat wurde gestern in die Muir Woods gebracht“, erklärte er. „Dort gibt es ein altes Forschungsgebäude, das offiziell stillgelegt ist. Sie benutzen es immer wieder für besondere Gefangene. Niemand weiß genau, was dort vor sich geht. Aber irgendetwas stimmt dort nicht.“
Er griff in seine Jackentasche und zog eine völlig zerkratzte, halb zerfallene Münze hervor, ein Stück Metall, das einmal ein Symbol gewesen sein musste. Er schob sie Corto zu.
„Kleiner Mann?“, fragte Austin beiläufig.
„Nennen Sie mich Corto“, antwortete dieser ernst.
Austin nickte. „Wie auch immer. Geh in meine Wohnung und hol Alex. Zeig ihr die Münze. Sie weiß, was sie bedeutet. Ich werde mit Therion direkt in die Muir Woods fahren. Ich will sehen, was dein Kumpel wirklich kann.“
Therion grinste. „Schmeckt mir. Endlich mal einer, der nicht so viel redet.“
Austin trat an die Tür. „Ich kann jede Verstärkung gebrauchen, die ich kriegen kann. Und Redcoat ... er ist wirklich gut.“
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