Kapitel 45 - Harter Knochen
Caleb stand vor der imposanten Eingangstür des modernen Gebäudes und umklammerte den Trageriemen seines alten, abgenutzten Rucksacks. Der Stoff fühlte sich rau in seiner Hand an, fast wie ein Talisman aus einer vertrauten Welt, die er nun hinter sich ließ. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus, nicht unangenehm, eher ein nervöses Kribbeln, wie damals am ersten Schultag. Nur dass es heute nicht um Mathebücher oder Stundenpläne ging, sondern um etwas Größeres. Etwas, das sein Leben verändern würde.
Zögernd ging er auf die Tür zu, die sich lautlos zur Seite schob, als hätte sie ihn schon lange erwartet. Die Eingangshalle offenbarte sich ihm als architektonisches Kunstwerk, kühl, hell und bis ins kleinste Detail durchdacht. Die Wände waren makellos weiß, mit weichen, glatten Oberflächen, in denen sich das Licht spiegelte. Entlang der Gänge standen Pflanzen, sorgfältig in geometrischen Töpfen arrangiert. Aber es waren keine gewöhnlichen Pflanzen, ihre Blätter hatten bizarre Formen, manche schimmerten leicht grünlich, andere bewegten sich langsam, als würden sie atmen.
Während Caleb noch überlegte, ob sie echt oder künstlich waren, ertönte eine Stimme hinter einer der Trennwände.
„Bist du Caleb Johnson?“
Er zuckte leicht zusammen und drehte sich zur Quelle der Stimme um. Für einen Moment war er verwirrt, der Name klang fremd, obwohl es sein eigener war. Doch dann nickte er, als müsse er sich selbst daran erinnern.
„Ja. Ich bin Caleb.“
Vor ihm stand plötzlich eine junge Frau mit leuchtend rotem Haar, das sie zu einem strengen Zopf gebunden hatte. Ihre Augen wirkten wach und aufmerksam, wie Scanner, die alles registrierten. In der einen Hand hielt sie ein smaragdgrünes Holopad, mit der anderen streckte sie ihm freundlich die Hand entgegen.
„Ich bin Edith Sutter. Assistentin von Chris Croft.“ Sie lächelte, als wäre sie stolz auf diesen Titel. „Ich bringe dich zu ihm. Herzlich willkommen!“
Caleb erwiderte das Lächeln etwas zögerlich, streckte ihr die Hand entgegen und nickte. Bevor er etwas sagen konnte, war Edith schon auf dem Weg.
„Du bist übrigens pünktlich. Das ist gut. Chris mag es, wenn man pünktlich ist. Komm mit.“
Sie ging zügig los, und Caleb beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. Während sie durch das Gebäude gingen, erzählte Edith immer wieder von den Arbeitsabläufen, der Geschichte des Gebäudes und den Visionen von Croft Industries. Ihr Enthusiasmus war spürbar, fast ansteckend, aber Caleb war zu überwältigt, um viel aufzunehmen.
Sie durchquerten einen offenen Büroraum mit transparenten Wänden, in denen holografische Bildschirme schwebten, und gelangten schließlich in eine geräumige Werkstatt. Diese war das Herzstück des Gebäudes, ein Ort, an dem Hightech lebte und atmete. Auf den Werkbänken lagen Metallteile, Kabelstränge und holografische Pläne, die in der Luft schwebten und sich bei Berührung veränderten.
In der Mitte des Raumes stand ein hochgewachsener, silbrig glänzender Android mit einer menschenähnlichen Silhouette. Direkt daneben ein Werbeplakat mit einem markanten Logo: „Custodians - Mit Sicherheit unterstützen“.
Caleb blieb stehen und betrachtete das Plakat mit offenem Mund. Ein Custodian. Ein funktionstüchtiger Android, wie er ihn bisher nur aus Dokumentationen kannte.
„Wirklich beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Edith. Aber Caleb hörte sie kaum.
Plötzlich spürte er einen leichten Druck im Rücken. Er fuhr herum und erschrak.
Vor ihm stand der Androide höchstpersönlich. Der Custodian. Die metallische Oberfläche reflektierte das Licht, seine Augen leuchteten in einem sanften Blau.
„Hallo. Mein Name ist X01. Ich bin hier, um dir zu helfen.“
Caleb brachte keinen Ton heraus. Die Stimme des Androiden war ruhig, fast sanft, und doch durchdrungen von mechanischer Präzision.
„Er wird dir in der Werkstatt helfen“, sagte Edith und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. „Keine Sorge, du wirst dich daran gewöhnen.“
Bevor Caleb etwas dazu sagen konnte, zog sie ihn leicht mit sich. Während Caleb sich noch einige Male umdrehte, war X01 schon wieder in die Aufgaben vertieft, für die er offenbar programmiert worden war.
Edith blieb vor einer schweren Tür stehen, neben der im Türrahmen ein leuchtender Knopf angebracht war.
„Chris wartet auf dich“, sagte sie freundlich, aber bestimmt und drückte auf den Knopf.
Die Tür glitt auf.
Ein leichter Luftzug wehte Caleb entgegen und er trat ein. Die Tür glitt geräuschlos hinter ihm zu, und ein leises Zischen begleitete den Moment, in dem die Welt draußen verschwand. Auf dem Weg hierher hatte er zwei gegensätzliche Szenarien durchgespielt: Entweder würde er ein hochmodernes, aber spartanisch eingerichtetes, fast steriles Büro betreten oder ein kontrolliertes Chaos aus Technik, Experimenten und halb zerlegten Maschinen. Die Realität überraschte ihn.
Der Raum war ... leer. Nicht klinisch leer, aber auf eine seltsam leblose Weise. Glatte, matte Wände, grauer Boden, keine persönlichen Gegenstände, kein Chaos. Nur ein paar Bücherregale, gefüllt mit Fachliteratur, die ihm aus seiner Studienzeit an der Universität bekannt vorkamen. Technische Handbücher, KI-Theorie, autonome Systeme, sogar eine Dissertation, aus der er selbst einmal zitiert hatte.
In einer Ecke war eine kleine Sitzecke vorbereitet, fast deplatziert in dieser Umgebung: ein weißer Glastisch, darauf eine schlichte Kanne Tee, zwei Tassen, und ein Teller mit Gebäck, das überraschend traditionell wirkte: Butterkekse, ein paar Madeleines. Fast rührend. Eine Einladung zur Höflichkeit inmitten funktionaler Kälte.
„Komm her, Caleb“, ertönte eine Stimme aus dem Raum. Ruhig, aber mit einem gewissen Druck.
Caleb drehte sich zu dem Mann um, der auf einem der Sessel saß. Chris Croft. Blondes Haar, sorgfältig zurückgekämmt, die Stirn glatt, aber nicht natürlich. Er sah aus wie jemand, der nicht mit Würde alterte, sondern mit Widerstand gegen das Altern kämpfte. Die Kleidung war geschmackvoll und teuer, aber so zusammengestellt, dass Caleb das Gefühl hatte, Croft trage Mode aus technischer Notwendigkeit, nicht aus Vergnügen. Er war ein Mann, der sich in Zahlen wohler fühlte als in Farben.
Caleb setzte sich. Croft reichte ihm die Hand. Der Händedruck war schwach, irgendwie unentschlossen. Ein seltsamer Widerspruch zu der Autorität, die ihn hierher eingeladen hatte.
„Ich hoffe, du fühlst dich willkommen“, sagte Croft mit gespielter Wärme in der Stimme.
„Ja ... Edith war super nett und so“, antwortete Caleb etwas zögerlich, während sein Blick wieder durch den Raum wanderte.
„Ja, gut, oder? Sie ist eine der Besten, nicht nur was die Organisation angeht. Aber kommen wir zur Sache. Du bist jetzt beim größten Technologiekonzern auf Terra gelandet, das ist kein Zufall. Und du darfst an unserem Vorzeigeprojekt mitarbeiten: den Custodians.“
Caleb richtete sich unmerklich auf. Er kannte die Custodians, teilautonome Sicherheitseinheiten, die für komplexe Aufgaben in unübersichtlichen Gebieten konzipiert waren. Ihre Entwicklung war streng unter Verschluss gehalten worden. Dass er nun ein Teil davon sein sollte, ließ sein Herz schneller schlagen.
„Deine Studienarbeit über adaptive Drohnentechnik hat Eindruck hinterlassen“, fuhr Croft fort, jetzt mit echter Begeisterung in der Stimme. „Diese Idee mit der halbautonomen Navigation im Slave-Modus ist genial. Und genau so etwas brauchen wir.“
Caleb lächelte ein wenig verlegen. „Danke.“
„Edith wird dir gleich deinen Arbeitsplatz zeigen“, sagte Croft und beugte sich leicht vor. „Deine Aufgabe ist es, eine neue modulare, andockbare Drohne zu entwickeln, die speziell für die Rückenplattform der Custodians konzipiert ist. Sie soll dort nicht nur aufgeladen, sondern auch flexibel je nach Einsatz beladen werden können. Wärmebildtechnik wird obligatorisch. Später vielleicht chemische Sensoren oder sogar KI-gesteuerte Verhaltensanalyse.“
Calebs Gedanken überschlugen sich. Das war mehr, als er erwartet hatte. Nicht nur Anpassung, Neuentwicklung. Und die damit verbundene Zuversicht schmeichelte ihm.
„Wie werden die Arbeitszeiten sein?“, fragte er vorsichtig. Das Thema war bisher erstaunlich konsequent ausgeklammert worden.
Croft nickte, als hätte er die Frage erwartet, und lehnte sich zurück. „Das ist nicht genau definiert“, sagte er und legte seine Fingerspitzen aneinander. „Wir beurteilen nach Leistung, nicht nach Stechuhr. Viele unserer besten Mitarbeiter arbeiten lange Tage. Sie tun das nicht, weil sie müssen, sondern weil sie verstehen, was wir wollen. Weil sie daran glauben.“
Caleb schwieg. Eine elegante Umschreibung für grenzenlose Arbeitszeiten. Aber vielleicht war es das wert. Zumindest für eine Weile.
Croft stand auf und deutete zur Tür. „Edith wartet draußen auf dich. Sie wird dich in dein Labor bringen.“
Ein paar Stunden später ...
Caleb hatte sich an seinem neuen Arbeitsplatz halbwegs eingerichtet. Die Werkbank war einfach, zweckmäßig – kein Luxus, aber ausreichend. Die Luft roch nach Metall, Öl und Kaffee, und über allem lag das Surren der Maschinen und das gedämpfte Klicken der Tastaturen. Er hatte bereits sein Synect angeschlossen und die Möglichkeiten waren fantastisch. Er war begeistert. Nach und nach lernte er einige der anderen Mitarbeiter kennen, doch die Gespräche blieben oberflächlich. Jeder schien in seine Arbeit vertieft zu sein, als wäre zu viel Nähe störend oder gar gefährlich. Es war eine Atmosphäre der Professionalität, fast steril, als wolle niemand Zeit oder Energie für zwischenmenschliche Bindungen verschwenden.
Caleb ignorierte die kühle Atmosphäre und konzentrierte sich auf sein Projekt: die erste Version der neuen Drohne. Auf dem holografischen Display seines dreidimensionalen CAD-Systems schwebte ein Basismodell, das er gerade konstruierte: aerodynamisch, modular, wartungsfreundlich. Seine Finger glitten zielsicher über die Eingabefläche, Linien und Flächen fügten sich zu einem komplexen Ganzen. Technik war seine Sprache, sein Refugium.
Plötzlich öffnete sich mit einem leisen Zischen die Haupttür und Schritte hallten durch den Raum. Chris, der Projektleiter, betrat das Labor diesmal nicht allein.
„Alle mal herhören“, rief er ungewohnt ernst in die Runde.
Langsam stellten die Mitarbeiter ihre Arbeit ein. Die Hologramme wurden kleiner, die Gespräche verstummten. Neben Chris stand ein großer, breitschultriger Mann mit kahlgeschorenem Schädel und durchdringendem Blick. Seine Haltung war gerade, seine Bewegungen kontrolliert, fast bedrohlich ruhig.
„Das ist John Warren“, sagte Chris und nickte leicht. „Er ist der Leiter von Section Shield und damit verantwortlich für den Einsatz unserer Custodians.“
Ein Raunen ging durch die Gruppe. Der Name hatte Gewicht.
„Section Shield“, fuhr Chris fort, „ist keine gewöhnliche Sicherheitsfirma. Es ist das Ergebnis einer Vision. Einer Überzeugung. Und eines Mannes, der zu viel Leid gesehen hat, um noch an Zufälle zu glauben.“Warren trat vor. Die Temperatur im Raum schien schlagartig zu sinken.
„Nach dem Dritten Weltkrieg“, begann er mit tiefer, markanter Stimme, „wurden ganze Städte ausgelöscht. Regierungen gab es nur noch auf dem Papier. Was blieb, waren Angst, Verwirrung und Gewalt. Ich kam zurück in eine Welt, die nicht wusste, wie sie wieder aufstehen sollte.“
Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen, sein Blick schien jede Fassade zu durchdringen.
„Die Vereinigte Republik hat Polizei, aber sie ist überfordert, unterfinanziert und vor allem... politisch gelähmt. Während Gesetzlose das Vakuum füllen, wird in den Parlamenten über Kompetenzen diskutiert.“
Seine Stimme wurde schärfer.
„Wir diskutieren nicht. Section Shield handelt. Wir schützen Zivilisten, bevor sie zu Opfern werden. Wir betreiben Gefängnisse, stellen militärisch ausgebildete Spezialeinheiten und greifen ein, wenn andere versagen.“
Caleb spürte, wie sich etwas in seinem Magen zusammenzog. Das klang nicht nach einem Sicherheitsdienst, das klang nach einer paramilitärischen Organisation.
„Wir dulden keine selbsternannten Helden, keine maskierten Rächer, die glauben, über dem Gesetz zu stehen“, sagte Warren mit Nachdruck. „Chaos entsteht, wenn sich Einzelne über die Ordnung erheben. Wenn Emotionen wichtiger werden als Präzision.“
Nathaniel, dachte Caleb. Erinnerungen an seinen besten Freund schossen ihm durch den Kopf, an seine Ideale, seinen Mut. Und jetzt saß er hier und hörte, wie jemand von „Ordnung statt Debatten“ sprach. Es fühlte sich falsch an.
„Diese Stadt braucht Sicherheit, keine Diskussionen“, sagte Warren und wandte sich nun direkt an die Gruppe. „Ihr arbeitet an Technologien, die Leben retten können, aber nur, wenn sie richtig eingesetzt werden. Unsere Wächter werden diese Technologien tragen. Und sie werden bereit sein. Sie werden nicht zögern.“
Er ließ die Worte einen Moment auf sich wirken.
„Wir bilden geben Veteranen einen neuen Job und fördern diese, Männer und Frauen, die gelernt haben zu überleben. Sie wissen, was Loyalität bedeutet. Bei uns gibt es keine Folter. Keinen Rassismus. Keine Korruption. Nur Klarheit. Kontrolle. Und Effizienz.“
Die Kollegen wirkten verunsichert, einige senkten den Blick, andere hielten den Atem an. Caleb beobachtete sie und sah in ihren Gesichtern dieselbe Unsicherheit, die er selbst spürte.
„Ihr müsst keine Soldaten werden“, beendete Warren seinen Vortrag. „Aber ihr werdet mit ihnen zusammenarbeiten. Unsere Leute retten Leben, und mit eurer Technik werden sie mehr Leben retten als je zuvor.“
Stille. Dann ein Nicken von Chris. „Danke, John.“
Warren nickte knapp, drehte sich um und verschwand so leise aus dem Raum, wie er gekommen war.
Caleb atmete erst durch, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Ein harter Knochen, dachte er. Einer, der keine Zweifel kannte. Und genau das machte ihn so gefährlich.
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