Kapitel 34 - Mahan
Die kleinen Quellen lagen verstreut im kühlen Sandstein. Sie seufzte leise. Es war spät, im Labor war es still bis auf das gleichmäßige Summen der Maschinen, die den Raum überwachten. Adaja hatte sich vorgenommen, noch etwas zu arbeiten, bevor sie nach Hause ging, aber ihre Gedanken schweiften ab. Was bist du nur? Sie stützte den Kopf in die Hand, während ihr Blick weiter auf dem Kristall ruhte. Er war ungewöhnlich, selbst für Pretorius Tech. Das Material war nicht nur unglaublich widerstandsfähig, es schien auch eine Art Energie auszustrahlen, die keiner ihrer Sensoren bisher eindeutig hatte messen können. Eine solche Entdeckung war selten, vielleicht sogar einmalig. Sie spürte die Aufregung in ihrem Bauch kribbeln. Wenn ich es schaffe, deine Geheimnisse zu lüften ...
„Du sitzt immer noch hier?“ Sayfs ruhige Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Leise betrat er das Beobachtungszimmer und stellte eine dampfende Tasse Tee auf den Tisch neben ihr. „Es ist schon nach Mitternacht, Adaja. Du solltest nach Hause gehen.“
„Ich weiß, aber ...“ Sie machte eine ausladende Geste in Richtung des Kristalls. „Sieh ihn dir an, Sayf. Hast du so etwas schon einmal gesehen? Er ist ... lebendig.“
„Lebendig?“ Sayf hob eine Augenbraue und trat näher an die Scheibe heran. „Das ist ein gewagter Gedanke für jemanden, der rational arbeiten sollte. Aber ich gebe zu, er ist faszinierend.“ Adaja lächelte schief. „Du nennst mich irrational, aber ich sehe, wie du jeden Tag Stunden mit deinen Pflanzen verbringst und mit ihnen sprichst.“
Sayf rollte spielerisch mit den Augen. „Die Pflanzen reagieren tatsächlich auf Zuneigung. Dieser Kristall hier ... nun, vielleicht hat er mehr mit dir gemeinsam, als ich dachte.“ Er lächelte. „Eigensinnig, undurchschaubar und manchmal zu viel für normale Sensoren.“
„Sehr witzig“, erwiderte sie trocken, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Gespräche mit Sayf waren oft so ein Hin und Her, das sie sowohl herausforderte als auch beruhigte.
„Ich frage mich“, fuhr sie nach einer Pause fort, „ob er gefährlich ist. Der Raum ist hermetisch abgeriegelt, weil wir nicht wissen, wie er bei längerem Kontakt mit der Umwelt reagiert. Und wenn wir ihn aus Versehen aktivieren?“
„Das Risiko besteht immer, wenn wir mit Unbekanntem arbeiten.“ Sayfs Stimme wurde ernst. „Aber genau deshalb sind wir hier, Adaja. Pretorius Tech vertraut darauf, dass wir Antworten finden. Und ich bin mir sicher, dass du den Schlüssel dazu finden wirst.“
Adaja nickte langsam, doch ein Gedanke nagte weiter an ihr. Was, wenn er mehr als nur ein Kristall war?
Plötzlich begann der Kristall in einem sanften Rhythmus zu pulsieren. Ein Lichtschein durchflutete den Raum, so leise, dass man es fast für eine Augentäuschung halten konnte. Adaja und Sayf hielten gleichzeitig den Atem an.
„Das ... hat er noch nie gemacht.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Vielleicht lebt er wirklich.“ Sayf sprach es aus, bevor er sich zurückhalten konnte. Und obwohl er versuchte, die Situation nüchtern zu betrachten, konnte Adaja das Funkeln der Neugier in seinen Augen sehen.
Am nächsten Morgen trafen sich Adaja, Sayf und Sinan im Hauptlabor. Der Kristall lag noch immer sicher in seiner luftdichten Hülle, aber die Spannung im Raum war fast greifbar. Sinan, wie immer ernst und voller Tatendrang, hatte ein neues Gerät mitgebracht, eine Art Bohrer, aber viel filigraner als alles, was Adaja bisher gesehen hatte. Seine Oberfläche glänzte wie poliertes Silber, und an der Spitze funkelte ein winziger, präzise geschliffener Diamant.
„Das hier“, begann Sinan und nahm das Gerät in die Hand, „ist mein neuester Prototyp. Ein Hochfrequenz-Plasma-Resonanz-Bohrer. Ich habe die letzten Nächte damit verbracht, ihn zu perfektionieren.“
Adaja verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihren Bruder skeptisch. „Und du glaubst, dass dieses Ding den Kristall durchdringen kann? Wir wissen doch nicht einmal, woraus er besteht.“
Sinan zog eine Augenbraue hoch. „Genau aus diesem Grund habe ich es entwickelt. Mit der Plasmaresonanz kann ich die molekulare Struktur durchdringen, ohne den Kern des Kristalls zu beschädigen. Sobald ich eine kleine Probe genommen habe, können wir die Struktur direkt auf den Holos analysieren.“
Sayf, der bisher nur zugehört hatte, kam näher. „Ich verstehe den wissenschaftlichen Ansatz, aber Sinan, das könnte gefährlich werden. Wir wissen nicht, wie der Kristall reagiert. Was ist, wenn er instabil wird?“ Sinan richtete seinen Blick auf Sayf, sein Gesichtsausdruck blieb ruhig. „Die Gefahr gehört immer dazu, wenn wir unerschlossenes Gebiet betreten. Nur so können wir Antworten finden. Wir können ihn nicht ewig in diesem luftdichten Raum lassen und hoffen, dass die Erkenntnisse von alleine zu uns kommen.“
Adaja spürte, wie ihre Nervosität stieg. Sie wollte Sinan nicht in Gefahr bringen, aber sie kannte seinen Dickkopf. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er kaum aufzuhalten. „Und du willst da rein?“, fragte sie schließlich.
Sinan nickte. „Natürlich. Wer denn sonst? Ich habe den Bohrer entworfen, ich kenne ihn in- und auswendig. Außerdem ist der Kristall bisher stabil geblieben. Es spricht nichts dagegen, es zu versuchen.“
„Es spricht nichts dagegen, es nicht zu versuchen, meinst du wohl“, murmelte Sayf. „Adaja hat recht, es ist ein Risiko, das du nicht alleine eingehen solltest.“
Sinan seufzte, in seiner Stimme schwang Ungeduld mit. „Hör zu, ich weiß, dass es Unsicherheiten gibt. Aber wir sind Wissenschaftler. Fortschritt erfordert Mut, und ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Wenn ich die Struktur des Kristalls analysieren kann, werden wir einen großen Schritt nach vorne machen.“
Adaja schüttelte langsam den Kopf, aber sie wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Stattdessen fragte sie: „Und wenn der Kristall Energie freisetzt? Hast du irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen getroffen?“
Sinan deutete auf einen kleinen Generator, den er neben den Bohrer gestellt hatte. „Ich habe ein Energiefeld vorbereitet, das bei einem unkontrollierten Ausbruch aktiviert wird. Außerdem überwachen unsere Scanner den Raum. Sollten wir irgendeine Instabilität feststellen, werde ich sofort abbrechen.“ Sayf wirkte immer noch nicht überzeugt, aber Adaja spürte, dass auch er wusste, dass Sinan sich nicht umstimmen lassen würde. Sie seufzte leise und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn du das wirklich durchziehst, bin ich wenigstens hier, um die Holos zu überwachen. Wenn etwas schief geht, schlage ich Alarm.“
Sinan nickte knapp. „Danke, Adaja. Das bedeutet mir sehr viel.“ Dann wandte er sich an Sayf. „Und was ist mit dir? Willst du auch mitmachen oder nur skeptisch in der Ecke stehen?“
Sayf verzog das Gesicht, zuckte dann aber mit den Schultern. „Ich werde skeptisch in der Ecke stehen und am Ende dafür sorgen, dass du keine Dummheiten machst. Ich bin dabei.“
Adaja war sich immer noch nicht sicher, ob sie sich mit Sinans Plan abfinden konnte, aber sie wusste, dass sie ihm vertrauen musste. Der Kristall schien ein Rätsel zu sein, und wenn ihn jemand entschlüsseln konnte, dann war es Sinan. Trotzdem verspürte sie ein flaues Gefühl im Magen, als sie den Raum verließen, um die Vorbereitungen zu treffen. Sinan betrachtete die Daten.
Der Kristall blieb ruhig in seinem luftdicht verschlossenen Raum, während die Vorbereitungen für Sinans Experiment abgeschlossen wurden. Adaja und Sayf beobachteten, wie er den Plasmaresonanzbohrer überprüfte und jedes Detail sorgfältig justierte. Seine Konzentration war beeindruckend, fast beängstigend.
„Lumpanid“, murmelte Adaja leise, während sie die Daten auf dem Holosystem überprüfte. Der Name war spontan entstanden, ein flüchtiger Gedanke, den Sayf geäußert hatte, als sie den Kristall zum ersten Mal aus der Höhle geborgen hatten. Seitdem hatte er sich eingebürgert. „Irgendwie scheint er einen eigenen Willen zu haben.“
„Oder eine eigene Persönlichkeit“, fügte Sayf hinzu und warf einen Blick auf die pulsierenden Lichtwellen, die gelegentlich von dem Kristall ausgingen. „Vielleicht sollten wir aufpassen, dass wir ihn nicht kränken.“
Sinan schnaubte, ohne aufzublicken. „Ihr seid viel zu abergläubisch. Es ist ein Kristall, keine denkende Lebensform.“ Doch in seinem Ton lag ein Hauch von Unsicherheit, den Adaja sofort bemerkte.
„Sicher? Er hat letzte Nacht zu pulsieren begonnen, als hätte er dich gehört, Sinan“, entgegnete sie herausfordernd. „Und wenn er doch mehr ist, als wir denken?“
„Dann finden wir es heraus.“ Sinan hob den Bohrer und ging zur Eingangstür des Labors. „Und das geht nur, wenn wir reingehen.“
Adaja atmete tief durch, ihre Finger krampften sich um die Holokonsole. Bitte, lass nichts schief gehen, dachte sie, während ihr Bruder den Raum betrat und die Luftschleuse hinter sich schloss.
Sinan zog den Schutzanzug mit routinierten Bewegungen an, sein Gesicht war ernst, aber entschlossen. Der Anzug war eine Spezialanfertigung aus hitzebeständigem Material, das auch Energieentladungen bis zu einem gewissen Grad standhalten konnte. Adaja beobachtete ihn durch die dicke Glasscheibe, ihr Herz schlug schneller als sonst.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte sie, während sie die Holokonsole überwachte. Ihre Finger zitterten leicht, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sinan hob die Hand, ein stummes Signal, dass er bereit war. Er überprüfte noch einmal die Stromversorgung des Bohrers und trat dann in die Schleuse. Mit einem leisen Zischen schloss sich die Tür und für einen Moment herrschte absolute Stille.
Sayf stand neben Adaja und blickte skeptisch auf die Monitore. Ihr Blick war auf Sinan gerichtet, der nun den hermetisch abgeriegelten Raum betrat. Der Kristall Lumpanid lag vor ihm auf dem massiven Metalltisch. Sinan ließ sich nicht beirren. Er war ganz der Ingenieur, methodisch, präzise, fast unerschütterlich.
Langsam hob er den Plasmaresonanzbohrer an. Das Gerät begann leise zu summen, als er es aktivierte. Blaue Energie floss durch die filigranen Leitungen des Bohrers, der Diamantaufsatz begann zu glühen. Sinan hielt inne, überprüfte die Position und setzte die Spitze des Bohrers vorsichtig auf die Oberfläche des Lumpanids.
„Ich beginne jetzt mit dem Eingriff“, sagte er mit ruhiger, aber fester Stimme. Der Ton wurde über das Kommunikationssystem direkt in den Kontrollraum übertragen.
Adaja hielt unbewusst den Atem an, als der Bohrer die Oberfläche des Kristalls berührte. Ein winziger Funke sprang über und ein leises, fast musikalisches Geräusch erklang, als würde der Lumpanid darauf reagieren.
„Das war ... ungewöhnlich“, murmelte Sayf und beugte sich näher zu den Monitoren. „Seht ihr das? Die Energieabstrahlung des Kristalls nimmt zu.“
„Sinan, sei vorsichtig“, warnte Adaja über das Kommunikationssystem. Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte. „Irgendetwas passiert mit ihm.“
"Ich habe alles unter Kontrolle", antwortete Sinan, ohne den Blick von seiner Arbeit zu wenden. Der Bohrer begann, sich langsam in die Oberfläche des Kristalls zu bohren. Das Summen wurde lauter und die pulsierenden Lichtwellen des Lumpanids wurden intensiver.
Plötzlich gab es einen grellen Lichtblitz und die Monitore flackerten. Adaja zuckte zusammen, während Sayf hektisch an den Holosystemen arbeitete.
„Was war das?“, rief Adaja mit panischer Stimme.
„Der Lumpanid hat seine Energiemuster verändert!“ rief Sayf. „Sinan, abbrechen! Sofort!“
Doch Sinan blieb ruhig. „Nein. Noch nicht. Ich bin fast fertig. Gib mir noch einen Moment.“ Adaja biss sich auf die Lippe und sah hilflos zu. Die Spannung im Raum war unerträglich und sie konnte nur hoffen, dass Sinan wusste, was er tat.
Ein gleißendes Licht drang aus dem Lumpanid, so hell, dass Adaja und Sayf instinktiv die Augen schlossen und die Köpfe wegdrehten. Ein Dröhnen durchbrach die Stille, tief und vibrierend, als hätte der Kristall selbst eine Stimme. Als Adaja wieder hinsehen konnte, erstarrte ihr das Blut in den Adern. Sinan stand regungslos vor dem Lumpanid, die Hände noch immer um den Bohrer geklammert. Doch sein Körper, seine ganze Gestalt war zu einem steinernen Glas erstarrt. Eine glatte, harte Schicht umhüllte ihn, als wäre er Teil eines bizarren Kunstwerks geworden.
„Sinan!“, schrie Adaja, ihre Stimme überschlug sich vor Panik. Sie hämmerte gegen die Scheibe, aber es gab keine Reaktion. Der Kristall hatte aufgehört zu pulsieren, aber sein Leuchten blieb, fast trügerisch ruhig.
„Verdammt!“ fluchte Sayf und riss die Schutzanzüge von der Wand. „Wir müssen da rein. Jetzt!“ Adaja nickte stumm und zog sich hastig den Anzug über. Ihre Hände zitterten, als sie den Verschluss des Helms sicherte. „Egal, was passiert ist, wir holen ihn da raus.“ Mit schnellen Bewegungen öffnete Sayf die Luftschleuse und beide traten in den Raum. Die Luft war schwer, eine seltsame, fast elektrische Energie schien die Atmosphäre zu erfüllen. Der Lumpanid strahlte ein mattes Licht aus, und Sinan stand regungslos davor wie eine lebende Statue.
Adaja rannte zu ihrem Bruder. „Sinan! Hörst du mich?“ Vorsichtig berührte sie die steinerne Oberfläche seiner Schulter, doch sie war kalt und unnachgiebig.
Plötzlich begann die Glasschicht zu bröckeln. Feiner Staub rieselte zu Boden und winzige Risse zogen sich über die harte Oberfläche. Mit lautem Knacken fiel ein größerer Brocken herab, dann noch einer. Adaja wich zurück, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. „Sayf, hilf mir! Er zerbricht!“
„Nein, es kommt zurück“, sagte Sayf und sah genauer hin. „Das ist keine Zerstörung. Es ... löst sich.“ Tatsächlich begann der Stein schneller zu fallen, bis Sinans Körper wieder sichtbar wurde. Seine Knie gaben nach und er sank bewusstlos zu Boden. Adaja und Sayf reagierten sofort, griffen unter seine Arme und zogen ihn hoch.
„Raus hier“, keuchte Sayf. „Wir wissen nicht, was der Lumpanid noch auslösen kann.“
Gemeinsam schleppten sie Sinan aus dem Raum und legten ihn behutsam auf eine Trage im Sanitätsraum. Adaja riss sich den Helm vom Kopf, ihr Gesicht glänzte vor Schweiß und Angst. „Er lebt“, flüsterte sie, während Sayf den Scanner aktivierte.
Der Monitor zeigte schwache Lebenszeichen. Sinan atmete, aber sein Zustand war instabil. „Er lebt“, bestätigte Sayf mit einem leisen Seufzer der Erleichterung. „Aber was auch immer es war, es hat seinen Körper schwer in Mitleidenschaft gezogen.“
Adaja nahm Sayfs Hand in ihre, während sie auf die Monitore starrte. „Was hast du dir dabei gedacht?“, flüsterte sie. „Wir hätten dich verlieren können.“
Der Lumpanid lag in seiner Kammer, als wäre nichts geschehen, sein Licht pulsierte ruhig weiter.
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