Wenige Tage später war es endlich soweit. Der zwanzigste Jahrestag des Friedens stand vor der Tür. Lichterketten spannten sich zwischen den Gebäuden, Fahnen in den Farben der Republik flatterten im eisigen Wind, und der frische Schnee, der sich auf den Straßen angesammelt hatte, reflektierte das warme Licht der Straßenlaternen. Fröhliches Stimmengewirr, Musik und der verführerische Duft von frisch gebackenem Gebäck erfüllten die Luft.
Nathaniel und Caleb schlenderten durch die überfüllten Straßen, der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln.
„Jack und Tasha sind schon da“, bemerkte Caleb, als er an einer kleinen Gruppe von Straßenkünstlern vorbeiging. „Jack hat beim Aufbau geholfen, und Tasha darf einen Bericht darüber schreiben. Sie ist total aufgeregt.“
Nathaniel grinste. „Natürlich ist sie hochmotiviert.“
Caleb lachte, blieb dann aber abrupt stehen und griff in seine Jackentasche. „Moment mal.“
Verwirrt sah Nathaniel zu, wie Caleb eine einfache, provisorische Heldenmaske hervorholte. Sie war aus orangefarbenem Baumwollstoff selbst genäht.
„Hier, nur für den Fall.“ Calebs Augen blitzten schelmisch auf. „Man weiß ja nie, ob wir heute Abend einen Superhelden brauchen.“
Nathaniel schüttelte amüsiert den Kopf, nahm die Maske und drehte sie zwischen den Fingern. „Wirklich, Caleb?“
„Was? Ich glaube einfach, dass es das Richtige ist.“ Caleb klopfte ihm auf die Schulter: "Ich habe Orange wegen deiner Lichtfähigkeiten gewählt." Caleb fügte noch hinzu und sie gingen weiter. Ein unbekanntes Gefühl machte sich in Nathaniel breit, eine Art von Stolz, die er nicht kannte.
Der große Festplatz lag nun vor ihnen, bereits gefüllt mit Hunderten von Menschen. In der Mitte erhob sich eine große Bühne, umrahmt von holografischen Bannern, die den Verlauf der letzten zwanzig Jahre Frieden zeigten.
Jack entdeckte sie als Erster und winkte ihnen zu. „Hey, Jungs! Hier drüben!“
Nathaniel und Caleb bahnten sich einen Weg durch die Menge.
„Alles in Ordnung?“, fragte Nathaniel, als sie Jack erreicht hatten.
Jack nickte. „Alles läuft wie am Schnürchen.“
Bevor sie weiterreden konnten, sprang Tasha plötzlich auf Calebs Rücken. „Endlich seid ihr da!“
„Das wollten wir uns nicht entgehen lassen“, lachte Caleb und deutete auf die beeindruckende Umgebung.
„Ich bin so froh, dass ich darüber berichten darf“, sagte Tasha mit leuchtenden Augen.
Ein gut gebauter blonder Mann mit einer Kamera trat neben sie. „Doug“, stellte er sich kurz vor, hob die Kamera und fügte hinzu: „Ich bin für die Fotos zuständig.“
Nathaniel warf ihm einen kurzen, abschätzenden Blick zu. Er wirkte leicht überfordert, kein Wunder, wenn man mit Tasha zusammenarbeitete.
Während die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt erreichten, lauschten sie den Reden auf der Bühne und genossen die ausgelassene Stimmung. Doch plötzlich bemerkte Nathaniel, dass Jack sich versuchte unbemerkt von der Gruppe zu entfernten.
Jack war nicht der Typ, der sich ohne Grund zurückzog, schon gar nicht bei einer so großen Veranstaltung. Ein ungutes Gefühl machte sich in Nathaniel breit. Er ließ die anderen zurück und folgte Jack durch die Menge.
Die Lichter wurden spärlicher, als Jack in eine schmale Seitengasse einbog. Der Trubel des Festes schien plötzlich weit entfernt. Nebelschwaden zogen über das nasse Kopfsteinpflaster, das im fahlen Licht der Straßenlaternen schimmerte. Feine Eiskristalle glitzerten an den Ranken des Efeus, der sich an den dunklen Backsteinmauern emporrankte. Die Kälte schnitt Nathaniel ins Gesicht, als er sich vorsichtig näherte.
Jack blieb stehen. Vor ihm stand ein Mann in einem langen violetten Gewand, das sich im schwachen Licht kaum vom Nebel abhob.
„Alsahva!“, sprach der Fremde mit hallender Stimme. „Du musst deine Bestimmung finden. Es ist Zeit, den Planeten vorzubereiten.“
Die Worte schienen Jack zu durchbohren. Seine Haltung versteifte sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Wer bist du?“ Jacks Stimme war leise, aber angespannt.
Der Fremde kam näher, seine Gestalt seltsam verschwommen. Er hob eine Hand, legte sie auf Jacks Brust und dann geschah es.
Ein violettes Leuchten breitete sich unter Jacks Haut aus, pulsierend wie lebendige Energie. Nathaniel hielt den Atem an, unfähig, sich zu bewegen. Die Luft knisterte, als verzerre sich die Wirklichkeit selbst.
Jack zitterte, als würde ihn eine unsichtbare Kraft durchströmen. Seine Augen leuchteten für einen Moment in demselben unheimlichen Violett. Dann begann auch der Fremde zu leuchten, sein Körper wurde von einem intensiven Licht umhüllt. Ohne Vorwarnung hob er sich vom Boden ab und schwebte langsam in die Höhe.
„Apex, ich höre. Apex, ich sehe. Apex, ich fühle“, murmelte Jack. Seine Stimme klang fremd.
Nathaniel konnte nur fassungslos zusehen, wie sich der geheimnisvolle Mann in den Himmel erhob und schließlich in der Dunkelheit verschwand.
Dann legte sich wieder Stille über die Gasse.
Jack blieb mit leerem Blick stehen. Das violette Leuchten war verschwunden - aber etwas an ihm hatte sich verändert.
Nathaniel trat vorsichtig näher. „Jack? Alles in Ordnung?“
Jack drehte sich um. Sein Gesichtsausdruck war kalt, sein Blick fremd. Keine Spur von der väterlichen Wärme, die Nathaniel kannte.
Dann, ohne ein weiteres Wort, wandte Jack sich ab und ging davon. Seine Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster, bis ihn die Dunkelheit verschluckte.
Nathaniel stand reglos da. Plötzlich trat Jack auf ihn zu. Jack starrte Nathaniel mit einem Blick an, der nichts Vertrautes mehr hatte. Keine Spur von Anerkennung oder Zuneigung lag in seinen Zügen. Nathaniel spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Das war sein Mentor, sein Gefährte, sein Adoptivvater, sein Vater. Und doch erkannte Jack ihn nicht.
„Was willst du?“ Jacks Stimme klang rau, fremd, als hätte sich etwas Grundlegendes in ihm verändert.
Nathaniel hob beschwichtigend die Hände. „Jack, ich bin’s. Nate. Erinnerst du dich nicht an mich?“
Jack sah ihn lange an, als suche er nach einer Erinnerung, die ihm entgangen war. Das düstere Schweigen zwischen ihnen lastete schwer. Um sie herum ließ die verschneite Gasse den Raum noch enger erscheinen.
„Du solltest nicht hier sein.“ Jacks Stimme war sanft, aber eindringlich. Sein Blick war undurchdringlich, als hätte sich eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen aufgetan.
Nathaniel wollte antworten, doch plötzlich flackerte violettes Licht um Jack auf. Die Aura war intensiver als zuvor, ein unheimliches Glühen, das die Luft um ihn herum zum Vibrieren brachte. Jack sog die Luft ein. Seine Augen brannten vor Aufregung.
„Umbra... muss... aufwachen“, murmelte er und ging auf Nathaniel zu.
Nathaniel wich zurück. „Jack, wir sind für dich da! Kämpfe dagegen an!“
Doch Jack hörte nicht zu. Mit einem kräftigen Satz stieß er sich vom Boden ab und flog auf die Party zu. Noch in der Luft schleuderte er einen violetten Energiestrahl in die Menge. Panik brach aus. Menschen schrien, rannten in alle Richtungen. Umgeworfene Tische, zerfetzte Dekorationen, verletzte Körper auf dem Boden - Chaos pur. Undeutliche Gefäße fielen vom Himmel, zerbarsten auf dem Boden, eine violette, undefinierbare Masse ergoss sich.
Nathaniel wusste, er musste handeln. Hastig zog er sich in eine dunkle Ecke zurück und setzte die provisorische Maske auf, die Caleb ihm gegeben hatte. „Scheiß drauf, das muss reichen.“ Er atmete tief durch und trat wieder ins Licht.
Jack stand inmitten der Verwüstung, seine Hände noch immer von der dunklen Energie umhüllt. Ein Imbissstand kippte krachend um, als er seine Kraft unkontrolliert freisetzte.
„Jack!“, rief Nathaniel entschlossen. „Hör auf! Das bist nicht du!“
Einen Moment lang schien Jack ihn zu erkennen. Doch dann verschwand der Anflug von Klarheit und sein Gesicht verwandelte sich wieder in eine Maske des Zorns.
„Umbra... muss... aufwachen.“
Dann stürzte er sich auf Nathaniel.
Nathaniel konnte im letzten Moment ausweichen. Calebs warnender Schrei hallte durch den Lärm: „Nate, pass auf!“
Tasha stand wie erstarrt da. „Nate?“
Doug, der weiter vorne fotografiert hatte, drehte sich verwirrt um und schien nichts zu verstehen.
Jack griff erneut an, doch diesmal konnte Nathaniel den Schlag mit seinen leuchtenden Händen abwehren. Die Energie pulsierte heiß durch seinen Körper, als reagiere sie auf das dunkle Licht in Jack.
„Jack, du kannst das kontrollieren!“, rief Nathaniel, während er gegen die überwältigende Kraft ankämpfte.
Aber Jack war nicht mehr derselbe. Er kämpfte mit unbändiger Wut, als wäre eine fremde Macht in ihn eingedrungen und hätte ihn seiner selbst beraubt. Nathaniel wehrte die Schläge ab, wich aus, aber er wusste, dass er nicht ewig standhalten konnte.
Ein violetter Strahl aus Jacks Hand traf Nathaniel mit voller Wucht. Die Energie schleuderte ihn gegen eine Ziegelwand. Schmerz durchfuhr seinen Körper, als er auf dem kalten Boden aufschlug.
Jack landete direkt vor ihm und sah ihn an.
Für einen Moment lag etwas in seinem Blick. Reue? Angst?
Dann flüsterte Jack: „Es... tut mir leid.“
Mit einem ohrenbetäubenden Knall löste sich die violette Energie von ihm und schoss in die Nacht hinaus.
Keuchend blieb Nathaniel liegen. Alles tat weh. Sein Kopf dröhnte.
„Nate!“
Er blickte auf und sah Caleb, der ihm Zeichen gab, sich zu beeilen. Nathaniel rappelte sich mühsam auf und folgte ihm um die nächste Ecke.
„Was zum Teufel war das?!“ Calebs Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
Zitternd hob Nathaniel die Hände. Sie waren verbrannt, nicht von Jacks Angriff, sondern von seiner eigenen Energie. „Ich ... Ich weiß nicht ...“
„Nate ...“ Tasha stand plötzlich vor ihm und blickte auf seine verkohlte Haut. „Was ist mit dir passiert?“
Nathaniel schüttelte den Kopf. „Mein Körper hat einfach reagiert. Aber es tut weh ... und ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.“
Tasha kniete sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Was auch immer es ist, du hast uns gerettet.“ Sie sah Caleb an. "Wusstest du das vorher?" Caleb nickte und Tasha boxte seinen Arm. "Ernsthaft?" Tasha drehte sich zu Nathaniel um. Caleb stand daneben und betrachtete den Arm, den seine Schwester geschlagen hatte.
Nathaniel nickte matt. „Bitte sag es niemandem.“
Sie nickten, aber bevor sie weiterreden konnten, surrten die Stromleitungen über ihnen. Ein schwarzes Skidcar glitt lautlos über die Straße.
„Verdammt“, murmelte Caleb. „Sind das Regierungsleute? Holen die uns jetzt ab?“
Eine Tür öffnete sich.
Ein hochgewachsener, grauhaariger Mann mit kantigem Gesicht trat heraus. Sein Blick war kalt.
„Nathaniel Reed?“ Seine Stimme klang fest, unmissverständlich.
Nathaniel straffte sich, obwohl sein Körper schmerzte. „Ja. Wer sind Sie?“
Der Mann kam näher und streckte die Hand aus. „Robert Ward. Ich bin wahrscheinlich eure einzige Chance, Jack lebend zurückzubringen.“
Sein Blick wanderte von Nathaniel zu Caleb und Tasha. „Ich weiß, dass ihr Angst habt. Dass ihr nicht wisst, wem ihr trauen könnt.“
Dann senkte er die Stimme.
„Aber glaubt mir, Jack ist nicht der Erste, der sich in letzter Zeit seltsam benommen hat. Und wenn wir nichts unternehmen, wird es auch nicht der letzte sein.“
Nathaniel spürte Calebs und Tashas Blicke auf sich, als Ward einen Schritt näher kam.
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Ward ruhig, aber bestimmt. „Section Shield ist schon auf dem Weg hierher. Wenn ihr bleibt, werdet ihr Fragen beantworten müssen, auf die ihr keine Antworten habt.“
Caleb verschränkte die Arme. „Und was schlägst du vor? Sollen wir einfach abhauen?“
Ward nickte. „Genau das. Ich nehme Nathaniel mit. Er braucht Training. Sicherheit. Antworten.“
Hinter ihnen schrillten bereits die Sirenen in der Ferne durch die Straßen. Section Shield war nah. Es gab kein Zurück mehr.
Nathaniel sah zu Caleb und Tasha. Ihre Blicke waren besorgt, aber auch verständnisvoll.
Ward verschränkte die Arme. „Nur Nathaniel kommt mit mir.“
„Was?“, fuhr Caleb auf. „Auf keinen Fall! Wenn er geht, gehen wir alle!“
Ward schüttelte den Kopf. „Ihr würdet ihn nur in Gefahr bringen. Ihr bleibt hier und sorgt dafür, dass ihr unter dem Radar bleibt. Section Shield ist nicht zimperlich, wenn es um mögliche Bedrohungen geht.“
„Dann bleibe ich auch“, sagte Nathaniel entschlossen.
Ward seufzte. „Du hast keine andere Wahl.“
Plötzlich stieg ein weiterer Mann in einer dunklen Jacke mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Skidcar, die Hand auf einer Pistole am Gürtel. Es war Takashi Ito.
Caleb runzelte die Stirn. „Warte mal, Taka?“
Takashi sah ihn mit einem schiefen Grinsen an. „Ja ... und nein.“ Dann wandte er sich Nathaniel zu. „Ich arbeite für Globe Preservation. Und ich arbeite für Ward.“
Ward nickte Takashi kurz zu. „Danke, dein Tipp war vielversprechend.“
Takashi zuckte die Schultern. „Ich hatte das richtige Gefühl.“
Nathaniels Gedanken überschlugen sich. Jack war außer Kontrolle. Er selbst verfügte über Kräfte, die er nicht verstand. Und jetzt stand ein Polizist, nein, ein Agent, nein, ein Freund vor ihm und bot ihm eine völlig neue Wahrheit an.
„Komm mit uns“, sagte Ward ruhig. „Ich kann dir helfen, das zu verstehen. Ich kann dich auf das vorbereiten, was kommt.“
Nathaniel blickte ein letztes Mal zu Caleb und Tasha. Sie waren sein Zuhause. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er Antworten brauchte.
Mit einem letzten schweren Atemzug nickte er. „Okay.“
Ward öffnete die Tür des Skidcars. „Dann lass uns gehen.“
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