Kapitel 36 - Jetzt war alles egal
Der Motor des Wagens brummte tief und monoton, während sie die Straße entlangfuhren. Der dichte Wald, der sie anfangs umgab, lichtete sich allmählich, bis nur noch einzelne knorrige Bäume zwischen trockenen Grasbüscheln standen. Die Luft wurde merklich wärmer, und die Sonne spiegelte sich gleißend auf der staubigen Windschutzscheibe. Therion saß auf dem Beifahrersitz, den Ellbogen auf die Tür gestützt, und blickte mürrisch durch das schmutzige Fenster nach draußen. Die endlose Weite der Landschaft wirkte eintönig und verlassen.
Plötzlich durchbrach seine Stimme die Stille. "Wie lange bist du schon bei Globe Preservation?", fragte er unvermittelt, ohne Jonah direkt anzusehen.
Jonah, der konzentriert am Steuer saß, zuckte leicht zusammen, als hätte er die Frage nicht erwartet. Er drehte den Kopf leicht zu Therion und musterte ihn mit einem Anflug von Verwunderung, bevor er schließlich antwortete. „Eigentlich schon mein ganzes Leben. Ich wurde schon in der Schule entdeckt und gefördert.“
Während er sprach, zog ein verwittertes Schild am Straßenrand vorbei. Die verblasste Inschrift verkündete: Kansas City.
Therion ließ den Blick auf dem Namen der Stadt ruhen und dachte einen Moment nach. Eine der wenigen Städte, die es geschafft hatten, die Zeit zu überdauern. Sie hatte überlebt - und sogar ihren Namen behalten dürfen, während so viele andere entweder ausgelöscht oder umbenannt worden waren.
„Warum arbeitest du eigentlich für Globe Preservation?“, fragte Therion schließlich skeptisch. „Eine solche Organisation hat doch sicher auch ihre Schattenseiten.“
Jonah holte tief Luft, bevor er antwortete. „Ich glaube, wenn ich nicht für Globe Preservation arbeiten würde, würde ich nur zuschauen, wie die Dinge schlimmer werden. Ich will nicht nur zusehen. Ich will etwas verändern, ich will Menschen helfen.“
Therion verzog das Gesicht und schnaubte leise. „Ein Held also.“
Die Umrisse von Kansas City zeichneten sich jetzt deutlicher am Horizont ab. Die Stadtmauer ragte wuchtig in den Himmel, eine mächtige Barriere aus Metall und Beton, die sie vor den Gefahren der Außenwelt schützen sollte.
„Warum wollt ihr sie überhaupt rekrutieren?“, fragte Therion weiter, ohne den Blick von der Stadt zu wenden.
Jonah ließ sich mit seiner Antwort einen Moment Zeit, als wolle er die richtigen Worte finden. „Wir haben eine Vision. Wir wollen Spezialeinheiten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten aufbauen. Sie sollen gegen Bedrohungen kämpfen, die weder die normale Polizei noch Section Shield bewältigen kann.“
Therion nickte langsam. „Redcoat verstehe ich. Sein Anzug ist optimiert und er hat sich einen Namen als Rächer gemacht. Man könnte fast meinen, er hätte übernatürliche Fähigkeiten. Aber warum Orion?“
Jonah lächelte leicht, als hätte er genau mit dieser Frage gerechnet. „Orion hat Erfahrung mit extremen Situationen. Wenn er einem übernatürlichen Gegner gegenübersteht, wird er nicht einfach vor Angst erstarren. Er ist es gewohnt, mit dem Unerwarteten umzugehen. Hinzu kommt sein technisches Geschick: Er arbeitet mit hochspezialisierten Geräten, die in der Lage sind, komplexe Systeme zu manipulieren oder auszuschalten. Seine Fähigkeiten gehen weit über die eines normalen Soldaten oder Polizisten hinaus“.
Therion ließ die Erklärung auf sich wirken. Sie ergab Sinn. „Robert hält also große Stücke auf sie. Er will sie unbedingt in seinem Team haben“, murmelte er schließlich.
Jonah nickte. „Genau. Er ist überzeugt, dass sie den entscheidenden Unterschied machen können.“
Therion lehnte sich tiefer in seinen Sitz zurück. „Ich bin alles andere als ein Teamplayer“, sagte er schließlich. „Aber Robert hat mir etwas angeboten, also helfe ich euch, die beiden zu rekrutieren. Danach bin ich raus. Dann werde ich wieder das, was ich am besten kann, Söldner oder Schatzjäger.“
Danach herrschte Schweigen. Der Wagen rollte in gemächlichem Tempo weiter, während die Stadtmauern von Kansas City immer näher kamen. Endlich erreichten sie den Eingang.
Ein bewaffneter Wächter stand an der Kontrollstation von Section Shield, musterte den Wagen und richtete dann seinen Blick auf Jonah. Ohne ein weiteres Wort hob er die Hand und winkte sie durch. Offenbar war Jonah hier kein Unbekannter.
Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, ein gleißender Feuerball, der die engen Straßen mit brütender Hitze durchtränkte. Schwüle Luft hing wie ein unsichtbarer Vorhang zwischen den verfallenen Gebäuden, während der Wind nur staubige Rinnsale aus zermahlenem Beton und Dreck aufwirbelte. Müll türmte sich im Schatten hoher Fassaden, Plastikfetzen klebten an zerborstenen Fenstern, verlassene Fahrzeuge standen wie rostige Mahnmale einer vergangenen Zeit.
Therion ging vorsichtig voran, sein Blick glitt über die trostlose Szenerie, die kaum noch an eine einst pulsierende Stadt erinnerte. „Was ist hier passiert?“, fragte er schließlich, seine Stimme rau von der trockenen Luft.
Jonah wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Die Städte, die ihren Namen geändert haben, verdanken das meistens einem bestimmten Konzern, der sich dort niedergelassen hat. Sie haben ihre alte Identität abgestreift wie eine zu enge Haut.“
Therion schwieg, während er sich umsah. Wie tote Kolosse ragten die Gebäude um ihn herum auf, die Fenster entweder eingeschlagen oder notdürftig mit Brettern und Schrott vernagelt. Alte Reklametafeln hingen schief an den Fassaden, einst leuchtende Farben verblasst und von Einschusslöchern und Rost überzogen. Eine Welt, die sich selbst in den Ruin gestürzt hatte und nun versuchte, sich aus den eigenen Trümmern wieder aufzubauen.
Die Sonne warf lange Schatten, und die Hitze flimmerte zwischen den Ruinen wie das Echo einer Vergangenheit, die sich nicht abschütteln ließ.
Die Luft war eine beißende Mischung aus verbranntem Gummi, abgestandenem Wasser und der dumpfen Verzweiflung derer, die in diesem trostlosen Viertel ums Überleben kämpften. Jeder Atemzug schmeckte nach Rost und Öl, nach einer Stadt, die sich längst selbst aufgegeben hatte. Das Summen der wenigen verbliebenen Generatoren vibrierte in der kalten Nachtluft, ein unregelmäßiges Dröhnen aus den engen Hinterhöfen, wo sich dunkle Gestalten um wackelige Holztische drängten. Hier wechselten Waffen, Lebensmittel und synthetische Drogen in hastigen, misstrauischen Transaktionen den Besitzer. Ein falsches Wort, ein falscher Blick, und der Abend konnte der letzte sein.
Wasser war teurer als Benzin, Benzin kostbarer als ein Menschenleben. Die Straßenlaternen waren längst erloschen oder geplündert, nur der matte Schein der wenigen brennenden Reklametafeln warf ein gespenstisches Licht auf die bröckelnden Fassaden.
Jonah lenkte den Wagen über eine verlassene Straße an den Stadtrand, wo eine alte Tankstelle wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten stand. Globe Preservation hatte sie übernommen oder vielleicht nur davor bewahrt, von Plünderern dem Erdboden gleichgemacht zu werden. Die Zapfsäulen waren verrostet, die Schläuche sahen aus, als hätten sie seit Jahren kein Benzin mehr gesehen. Die einzigen Geräusche waren der Wind, der durch die zerbrochenen Fenster pfiff, und das leise Summen eines Stromkastens, der offenbar noch nicht ganz den Geist aufgegeben hatte. Jonah stellte den Wagen ab, öffnete mit einem müden Seufzer die Tür und streckte die Beine aus.
Ein Mechaniker mit ölverschmierten Händen trat aus dem Schatten eines halb verfallenen Schuppens. Sein Gesicht war von Narben gezeichnet, sein Blick abwartend. Jonah nickte ihm kurz zu, Worte waren hier nicht nötig.
Therion ließ den Blick noch einmal über das Auto schweifen, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht doch noch weiterfahren mussten, dann folgte er Jonah in das Diner.
Das Gebäude sah aus wie aus einem Geschichtsbuch des zwanzigsten Jahrhunderts, nur dass es die Zeit nicht unbeschadet überstanden hatte. Die Neonreklame über dem Eingang flackerte müde, als hätte sie selbst längst aufgegeben, Licht in diese Welt zu bringen. "Billy’s Diner" prangte in verblasstem Blau über der Tür, die Buchstaben halb vom Rost zerfressen, halb von den Sandstürmen der letzten Jahrzehnte verwischt.
Die Chromleisten an den Fenstern waren stumpf, zerkratzt, stellenweise verbogen, als hätten Plünderer versucht, sie mit bloßen Händen aus der Verankerung zu reißen. Durch die großen, fettverschmierten Scheiben sah man ins Innere: rote Ledersitze, die Polster aufgerissen und an einigen Stellen mit altem Klebeband notdürftig zusammengehalten. Der Tresen, einst sicher ein Ort, an dem man bei Kaffee und Apfelkuchen Neuigkeiten austauschte, war jetzt fleckig und von Rissen durchzogen, aber er stand noch wie ein Überlebenskünstler, der sich weigerte, umzufallen.
Auf einem der Tische lag ein Stapel vergilbter Zeitungen, die Schlagzeilen längst von Staub und Zeit verwischt. Der schwarz-weiß geflieste Boden war übersät mit Schmutz und Sand, der durch die kleinsten Ritzen ins Innere geweht war.
Sie traten ein.
Die Türglocke über ihnen läutete, ein müder, verzerrter Ton, als wüsste sie nicht mehr, wie oft sie in den letzten Jahren benutzt worden war. Im Hintergrund summte eine alte Jukebox, die verbissen versuchte, ein Lied aus längst vergessenen Zeiten abzuspielen. Doch die Schallplatte sprang immer wieder, als sei auch die Musik des Überlebens müde.
Ein verblichenes Poster an der Wand zeigte ein Paar in makelloser Kleidung, das sich lächelnd einen Burger teilte. "American Dream" stand darunter, ein zynischer Witz inmitten dieses sterbenden Ortes.
In der Luft des kleinen Restaurants lag der kräftige Duft von frisch gebrühtem Kaffee, vermischt mit dem dezenten Geruch von warmem Brot und geschmolzenem Käse. Eine angenehme, fast trügerische Atmosphäre hing über dem Raum, als Jonah und Therion sich an einen der hinteren Tische setzten. Die Einrichtung war schlicht, aber sauber und gepflegt, die Theke aus dunklem Holz, dahinter schimmerten Maschinen, die dampfend neue Kannen Kaffee zubereiteten.
Als die beiden Männer Platz genommen hatten, brachte eine Kellnerin mit geübten Handgriffen zwei Tassen dampfenden schwarzen Kaffee. Dazu bestellten sie belegte Brote, während Jonah mit einer schnellen Bewegung sein Synect aktivierte. Das kleine Gerät projizierte ein holografisches Modell der Festung Alcatraz direkt vor ihnen in die Luft. Dank der Privacy-Einstellung konnte niemand außer ihnen das Bild sehen. Außerdem schalteten sie die Stummschaltung des Restaurants ein, so dass ihre Worte für Außenstehende nur ein leises Murmeln waren.
„Das ist unser Ziel“, begann Jonah leise und tippte mit dem Finger auf das holografische Bild. Die ehemalige Gefängnisinsel war längst keine historische Ruine im Wasser mehr, sondern ein hochmoderner Hochsicherheitskomplex. Tief unter den Wellen erstreckte sich die unterirdische Festung, geschützt von Wänden aus selbstheilendem Nanomaterial, das selbst Explosionen in Sekundenschnelle reparieren konnte. An der Oberfläche ragten dunkle Wachtürme in die Höhe, ihre autonomen Geschütze stets einsatzbereit. Schwärme von Überwachungsdrohnen patrouillierten unablässig über dem Wasser, ihre rotierenden Sensoren registrierten jede noch so kleine Bewegung.
Therion lehnte sich näher an das Hologramm, seine Augen funkelten vor Konzentration. „Zwei Eingänge“, murmelte er, während er über die Karte fuhr. „Der offizielle Transferhafen ... völlig ausgeschlossen. Scanner, Sicherheitsprotokolle, biometrische Erkennung. Keine Chance, da lebend reinzukommen. Bleiben nur die Wartungstunnel.“
Jonah nickte und zoomte auf einen Abschnitt nahe der Ostseite der Insel. „Hier“, sagte er und deutete auf einen schmalen Kanal. „Dieser Abfluss hat früher Regenwasser abgeleitet. Jetzt leitet er die überschüssige Energie der Generatoren nach draußen. Und das bedeutet: extreme Hitze.“
Therion runzelte die Stirn. „Also brauchen wir hitzebeständige Schutzanzüge. Aber was ist mit den Sensoren? Die registrieren doch jeden Eindringling.“
Jonah ließ seine Finger über das Hologramm gleiten, zoomte einen Bereich der internen Sicherheitssysteme heran. „Orion kann sie für drei Minuten ausschalten. Mehr nicht. Danach starten sie ein automatisches Neustartprotokoll. Wir müssen also verdammt schnell sein.“
Therion seufzte. „Drei Minuten sind verdammt wenig Zeit.“
„Genug, um uns in den unteren Sektor zu bringen.“ Jonah deutete auf ein komplexes Netz aus schmalen Wartungsschächten. „Die Wartungsschächte der Drohnen sind eng, aber sie führen in die untere Ebene.“
Therion grinste schief. „Gut, dass du ein halbes Hemd bist.“
Jonah erwiderte das Grinsen, wurde dann aber wieder ernst. „Die Zellen befinden sich zwei Stockwerke tiefer. Und das Schlüsselsystem? Ein geschlossener Kreislauf. Kein Zugang von außen. Wir müssen es physisch öffnen.“
Therion zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Du meinst aufbrechen?“
Jonah schüttelte den Kopf. „Viel zu laut. Die Türen lassen sich nur mit einer Kombination aus Handabdruck und Netzhautscan der Wachen öffnen. Wir brauchen also einen Fingerabdruck.“
Therion lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Dann müssen wir eine Wache isolieren.“
„Genau. Aber nicht irgendeine Wache. Ein normaler Soldat hat keinen vollen Zugang. Wir brauchen einen Techniker. Die haben weniger Sicherheitsvorkehrungen und können sich freier im Komplex bewegen.“
Therion rieb sich nachdenklich am Kinn. „Also: Rein durch den Abfluss, durch die Wartungsschächte auf die untere Ebene, eine Wache abfangen, den Bioprint holen und dann ...?“
Jonah zoomte das Hologramm auf die Westseite der Festung. „Und dann wird es kompliziert. Der offizielle Hafen ist zu stark bewacht. Aber hier im Fluchttunnel gibt es eine alte Wartungsschleuse. Wenn wir das Türsystem überbrücken, könnten wir hier entkommen.“
Therion beugte sich näher. „Und wo ist der Haken?“
Jonah ließ die Tafel rot aufleuchten. „Der Tunnel führt direkt ins offene Wasser. Ohne Taucherausrüstung oder Boot sind wir erledigt.“
Therion presste die Lippen zusammen. „Dann brauchen wir einen Fluchtweg.“
Jonah nickte langsam. „Wir haben einen lautlosen Jetski vorbereitet, der für Einsätze wie diesen entwickelt wurde. Er wird mit Wasserstoffbrennstoffzellen betrieben, ist Synect-fähig und erzeugt kein Radarsignal. Außerdem haben wir hitzebeständige Anzüge, die wie Taucheranzüge funktionieren.“
Therion grinste. „Dann haben wir unser Ticket in den Tod.“
Jonah trank einen Schluck Kaffee. „Das werden wir ja sehen.“
Plötzlich bebte der Boden, ein tiefes Grollen ließ das Diner erzittern, und die Fensterscheiben zerbarsten in einem Regen aus glitzernden Splittern. Teller und Tassen rutschten von den Tischen, als die Gäste erschrocken aufsprangen. Therion und Jonah reagierten instinktiv, rissen die Tür auf und stürmten hinaus. Was sich ihnen bot, war eine Szene wie aus einem Albtraum. Ein riesiges, violettes Wesen, ein Golem aus unheilvoller Energie, marschierte durch die Straßen, seine gewaltigen Fäuste zerschmetterten alles, was sich ihm in den Weg stellte.
Sirenen heulten auf, als die Einheiten von Section Shield in Formation vorrückten. Sturmgewehre klickten, Schilde wurden aktiviert. Doch mit einer einzigen Bewegung seines gewaltigen Arms fegte der Golem einen Trupp beiseite. Therion betrachtete das Chaos mit einem verwegenen Grinsen, dann drehte er sich zu Jonah um. "Hey, Jonah, was hältst du davon, wenn wir eine Truppe von Spezialisten zusammenstellen, um solche Monster zur Strecke zu bringen?" Er lachte, drehte sich motiviert mit gezogenem Revolver um die eigene Achse und sprintete auf die Kreatur zu.
Jonah verschanzte sich hinter einem umgestürzten Fahrzeug und aktivierte sein Synect. "Robert, das ist die Hölle auf Erden!"
Robert Ward saß in einem Skidcar, das mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt raste. Am Steuer saß Takashi Ito, sein persönlicher Fahrer und Bodyguard. "Ja, nicht nur bei euch! Aber Verstärkung ist unterwegs. Die Graveships sind weltweit unterwegs, wir haben diverse Energieausstöße registriert."
Jonah beobachtete, wie weitere Soldaten von Section Shield versuchten, das Monster unter Beschuss zu nehmen, aber ihre Kugeln verpufften wirkungslos an dessen dunkler Haut. "Gut. Dann weiß ich Bescheid."
Robert wurde eindringlicher. "Jonah, du musst sofort mit einem Graveship nach Blackchester kommen. Therion muss allein weiterziehen."
Jonah zögerte kurz, dann nickte er. "Verstanden."
Das Gespräch endete abrupt. Da fiel sein Blick auf eine junge Frau, die verzweifelt vor einem zerstörten Auto kauerte. Ihr Fuß war unter einem Trümmerteil eingeklemmt. Die Schatten des Golems fielen bereits auf sie, während er weiter durch die Straße wütete und einen Soldaten von Section Shield nach dem anderen niederstreckte.
Jonah rannte los. "Bleib ruhig, ich hole dich hier raus!"
"Jonah! Was zum Teufel machst du da?", rief Therion ihm hinterher, aber Jonah war schon neben der jungen Frau. Er stemmte sich gegen die Trümmer und versuchte, ihren Fuß zu befreien. Sie keuchte, ihr Gesicht verzerrte sich vor Angst.
Plötzlich erstarrte sie. Ihre Augen weiteten sich, als eine unheilvolle Stimme vibrierend durch die Luft hallte. "Sie ist perfekt für einen Argon."
Jonahs Herz schlug schneller, als ein Schwall schwarzen Schleims auf ihn und die junge Frau niederprasselte. Der Gestank von verbranntem Metall und verfaultem Fleisch stieg ihm in die Nase. Er hob sie auf, seine Arme waren bereits von der zähen Masse bedeckt. Der Golem hob eine massive Hand und schlug zu.
"Wie kannst du ohne mich ein Schlammbad nehmen?", rief Therion und lud mit flinken Bewegungen seinen Revolver nach. Mehrere präzise Energiekugeln rasten durch die Luft und schlugen im Gesicht des Golems ein. Dunkle Materie spritzte über den Asphalt.
Dann geschah es. Ein durchdringender, herzzerreißender Schrei entfuhr der jungen Frau. Sie zuckte zusammen, ihre Augen verdrehten sich und ein weißer Augapfel wurde sichtbar.
Therion wich zurück. "Jonah, was ist das?!"
Jonah hielt die junge Frau fest und sah Therion an. "Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum. Ich werde sie beschützen. Ich werde abgeholt, du musst leider alleine weitergehen." Dann setzte er sich in Bewegung, rannte mit dem Mädchen auf dem Arm durch die Trümmerlandschaft.
Genau in diesem Moment durchbrachen drei Graveships die Wolkendecke und näherten sich in Formation. Die dunklen Maschinen setzten zur Landung an, während schwere Sprungtruppen in mechanisierten Rüstungen herabsprangen. Angeführt wurden sie von einer finsteren Gestalt.
Captain Cross.
Therion kniff die Augen zusammen. Er kannte diesen Mann nur zu gut. Ein weltweit operierender Söldner, gefürchtet und begehrt wie kein anderer. Er trug einen schwarzen Kampfanzug mit goldenen Applikationen, eine Totenkopfmaske verbarg sein Gesicht. Cross entschied erst, nachdem er bezahlt hatte, doch diesmal stand er eindeutig auf Therions Seite.
Ein paar Meter vor Therion blieb Cross stehen. "Ich hoffe, du machst dir keine Sorgen, Kumpel. Dein kleiner Zirkus hier ist gleich vorbei."
Mit einer schnellen Bewegung aktivierte er sein Waffenarsenal. Mechanische Drohnen schwebten um ihn herum, schwere Plasmawaffen schossen aus seinen gepanzerten Armen.
"Therion, bleib zurück. Ich kümmere mich darum."
Ohne weitere Vorwarnung riss Cross eine riesige Klinge aus seinem Rücken und stürmte auf den Golem zu. Mit einer gezielten Bewegung durchtrennte er dessen Arm, dunkles Plasma spritzte in die Luft. Der Golem schrie auf, aber Cross blieb eiskalt.
Therion musste grinsen. "Na dann, Captain, zeig mal, was du drauf hast."
Ein brennender, alles verzehrender Schmerz durchzuckte Therions Körper, als der massige Golem ihn mit eisenhartem Griff packte. Jeder Knochen in seinem Körper schien unter dem Gewicht zu bersten.
"Verdammt, was bist du?" Der Golem hielt inne, als hätte ihn eine plötzliche Erkenntnis ergriffen.
Therions Lippen zuckten. "Bera. Ein Xakis. Ein General der Shenth."
Warum fragte er überhaupt? Die Wucht der Angriffe dieser Golemeinheiten hatte offensichtlich zugenommen. Captain Cross, der erfahrene Veteran, trat mit finsterer Miene vor und setzte einen Granatwerfer an. Die Luft vibrierte vor unterdrückter Gewalt.
Therion, dessen Kraft die Proportionen des Möglichen sprengte, breitete die Arme aus. Jonah, der das Geschehen mit beunruhigtem Blick verfolgte, zögerte nur einen Moment, bevor er mit der jungen Frau in einem der Graveships verschwand. Dann geschah das Unerwartete: Die vom Licht verdunkelte Gestalt in Beras Hand biss zu. Ein instinktiver Reflex, roh und primitiv. Der Geschmack war widerlich. Metallisch, fremdartig, von einer Konsistenz, die Therion noch nie auf der Zunge gespürt hatte.
Plötzlich ein Aufprall. Ein gewaltiger Ruck katapultierte ihn quer über die Straße. Asphalt und Geröll schrammten an seiner Haut entlang, als er sich überschlug, abfing und schließlich auf allen vieren zum Stehen kam. Dutzende Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt.
Jetzt war alles egal.
Eine Stimme aus der Vergangenheit drang in seinen Kopf. "Therion, was hast du getan?"
Er erinnerte sich an den Moment, als die Liebe seines Lebens ihn zu hassen begann.
"Du hast meinen Vater umgebracht. Du bist ein Monster!" Judiths Stimme durchschnitt die Nacht wie eine Klinge.
"Aber Judith, ich wollte das nicht!" Ihre eigene Stimme, heiser, verzweifelt. "Er wollte mich töten. Er hat meine Instinkte geweckt. Ich habe sie unter Kontrolle."
Judith schüttelte den Kopf, Tränen standen ihr in den Augen. "Deine Instinkte werden dich töten." Sie nahm das Gewehr ihres Vaters.
Therion zögerte nicht. Er sprang aus dem Fenster, rannte an Stall und Kutsche vorbei in den dichten, dunklen Schwarzwald.
Zurück in der Gegenwart spürte er, wie sich sein Körper wieder veränderte. Die Verwandlung war nicht aufzuhalten. Sein Fell wurde dichter, seine Muskeln spannten sich, er rannte, seine Krallen krümmten sich, bereit für den nächsten Angriff. Seine unglaubliche Geschwindigkeit verlieh ihm eine kinetische Kraft, mit der er Beras Gesicht mit einem einzigen Schlag zerfetzte. Der Xakis wurde durch die Luft geschleudert und krachte in die Fensterscheibe eines Restaurants.
Es war ein schönes Restaurant. Das Essen war gut. Ein absurdes Detail mitten auf dem Schlachtfeld.
Aber Bera war noch nicht geschlagen. Er erhob sich, formte eine violette, kristalline Lanze und rammte sie mit gewaltiger Präzision in den Boden. Die Erde bebte. Risse zuckten wie Blitze durch den Asphalt. Doch bevor Therion erneut zuschlagen konnte, öffnete sich hinter Bera ein Portal. Mit einem Wimpernschlag war er verschwunden.
Sekunden später stand Cross mit erhobener Pistole vor Therion.
"Brauche ich die?", fragte er trocken.
Therion schüttelte den Kopf. "Nein. Cross, sag deinem Boss, dass ich gehe."
Ohne ein weiteres Wort ging er an Cross vorbei. Mit jedem Schritt wurde sein Körper menschlicher, aber seine Kleidung war nur noch ein zerrissenes Wrack. Er betrat das Diner, ignorierte die verwirrten Blicke der Gäste, öffnete einen der Spinde der Angestellten und fand ein Outfit, das ihm passte: Jeans, weißes T-Shirt, schwarze Turnschuhe. Er zog sich an, trat hinaus in die kühle Nacht, stieg in ein Auto und startete den Motor.
Ohne zu zögern fuhr er los.
Therion lenkte den Geländewagen durch die endlose Weite der Wüste, ein Schatten in der Nacht. Die Motoren brummten tief und gleichmäßig, ihr Klang vermischte sich mit dem leisen Heulen des Windes, der feinen Sand über die zerklüfteten Dünen trug. Über ihm spannte sich der Himmel in endloser Schwärze, durchsetzt von einem Meer unzähliger Sterne, deren eisige Lichtpunkte ihn beobachteten, stumme Zeugen einer Reise, die kein Ziel kannte.
Er saß reglos hinter dem Lenkrad, seine Finger umklammerten das Leder des Lenkrads, als wolle er sich daran festhalten, um nicht von der Flut der Erinnerungen mitgerissen zu werden. Die Vergangenheit lauerte in ihm wie ein Raubtier, bereit zuzubeißen. Der Schwarzwald. Die alte Heimat. Der Ort, wo alles begann, wo alles endete.
Er sah sich im Schatten uralter Bäume, gehetzt wie ein Tier. Der Boden war feucht, das Laub knisterte unter seinen Schritten, und jeder Atemzug war mit Angst getränkt. Die Stimmen hinter ihm kamen immer näher. "Ungeheuer!" schrien sie. "Teufelswerk!" Ihre Fackeln tauchten die Nacht in ein unheimliches Flackern, Geisterlichter, die zwischen den Stämmen tanzten. Rauch stieg in die Luft, vermischte sich mit dem Geruch von Moos und Verwesung. Die Jagd war in vollem Gange. Sie wollten ihn jagen, vernichten. Kein Versteck war sicher genug.
Noch immer spürte er den brennenden Schmerz der Wunden, die sie ihm geschlagen hatten. Nicht nur die körperlichen, sondern auch die, die tiefer gingen, die sich wie Dornen in seine Seele gebohrt hatten. Die Verwünschungen, die Gebete gegen ihn, sie waren mehr als Worte gewesen. Sie hatten ihn gefesselt, gequält, in eine Ecke der Welt gedrängt, wo er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Er war ein Ausgestoßener, ein Verdammter, gejagt in einer modernen Hexenjagd, in der Gnade ein Fremdwort war.
Sein Atem wurde schwerer, seine Brust hob und senkte sich, während seine Gedanken in der Vergangenheit verharrten. Sein Griff um das Lenkrad verkrampfte sich, seine Knöchel traten weiß hervor. Es war nicht vorbei. Es würde nie vorbei sein.
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