Kapitel 25 - Arthur

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Theresa hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan. Mit einem flauen Gefühl im Magen zog sie sich an und machte sich auf den Weg. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die Ereignisse des Abends. Immer wieder sah sie das Bild des maskierten Mannes vor sich. Die Straßen von Saint Veronika waren in das beruhigende Licht eines kühlen Wintermorgens getaucht. Der Raureif glitzerte auf den Dächern und in den Ästen der Bäume, und die Luft war frisch, fast belebend. 

Die Adresse, die der Fremde ihr gegeben hatte, führte sie aus der Stadt hinaus, weg von den belebten Straßen, in eine abgelegene Gegend am Rande von Saint Veronika. Sie musste eine Weile laufen, vorbei an Feldern und vereinzelten Bäumen, bis sie ein verlassenes Industriegebiet erreichte. Dieses wurde im Jahr 2130 errichtet, nachdem ausgewählte Städte mit hohen Mauern umgeben worden waren. Die Erderwärmung hatte drei Grad erreicht, weite Landstriche waren unbewohnbar geworden und der Meeresspiegel war massiv angestiegen. Auch um Saint Veronika wurde eine riesige Mauer gebaut und man musste sich überlegen, wie man an die Bodenschätze herankommt und hat in diesem Industriegebiet ein Bergwerk gebaut. Über allem stand der Förderturm. Sie wusste, dass es innerhalb der Stadtmauern von Saint Veronika ländliche und verlassene Gebiete gab, aber sie wusste nicht, dass es eine verlassene Zeche gab.

Die Anlage selbst wirkte alt und heruntergekommen. Die Farbe blätterte von den Betonwänden, die Dächer waren mit Moos bewachsen. Sie ging auf eines der Häuser zu, das der Adresse entsprach. Es war offensichtlich das Haus eines der Aufseher. Sie schaut durch die Fenster in das Haus hinein. Ein paar Vögel flogen aufgeregt hin und her, ihre flatternden Flügel und leisen Rufe waren die einzigen Geräusche in dieser stillen Umgebung. Ein kalter Windhauch strich durch die zerbrochenen Fenster und für einen Moment fragte sie sich, ob sie am richtigen Ort war. Entschlossen legte sie die Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig nach unten. Knarrend öffnete sich die Tür und ein schwacher Geruch von altem Holz und Staub schlug ihr entgegen. Drinnen war es dunkel und spärlich möbliert. Ein paar alte Stühle standen um einen runden Tisch, auf dem ein paar Papiere verstreut lagen. Ein Holzofen in der Ecke spendete noch etwas Restwärme, als wäre hier vor nicht allzu langer Zeit jemand gewesen. 

Theresa trat ein, ihre Schritte hallten leise auf dem Holzboden wider. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, bis sie eine kleine, verwitterte Kiste auf einem Regal entdeckte. Neugierig trat sie näher und öffnete sie vorsichtig. Nur ein vergilbter Zettel und ein kleiner Schlüssel lagen darin. Theresa nahm den Zettel heraus und erkannte, dass es sich um eine Art Notiz handelte, die in aller Eile geschrieben worden war. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie plötzlich ein leises Kratzen an der Tür. Sie drehte sich um und sah einen kleinen grauen Vogel, der auf dem Türrahmen saß und sie mit schief gelegtem Kopf anstarrte. 



Der Vogel schien sie zu beobachten, als wolle er ihr etwas sagen. Theresa war sich sicher, dass dies kein Zufall war. Sie ging langsam auf den Vogel zu, aber er flatterte leicht auf und flog durch den Raum. Er drehte sich noch einmal zu ihr um, als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen.

Theresa zögerte einen Moment, dann trat sie aus dem Haus in den Garten und ging auf das Vogelhaus zu. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass die Tür des Vogelhäuschens leicht angelehnt war. Vorsichtig öffnete sie sie und entdeckte ein kleines, gut verstecktes Fach. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem kleinen Schlüssel, den sie in der Schachtel gefunden hatte, und steckte ihn in das Schloss des Fachs.

Das Schloss klickte leise und die Truhe sprang auf. Darin lag eine kleine, alte Schatulle, die viel schwerer war, als sie aussah. Vorsichtig nahm Theresa sie heraus und öffnete sie. Ein einziger Gegenstand lag darin, ein kleiner silberner Anhänger in Form einer Eule, genau wie die Maske des Mannes. 

Arthur...“, murmelte Theresa leise, als die Erkenntnis in ihr aufstieg. Das musste der Arthur sein, den der Maskierte ihr anvertraut hatte.

Die Eule saß ruhig auf einem Ast neben dem Vogelhäuschen und schien keine Angst vor ihr zu haben. Vorsichtig näherte sich Theresa, und Arthur, die Schleiereule, flatterte mit den Flügeln, bevor er sich wieder beruhigte. Er wirkte schwach und sein kleiner Körper zitterte leicht in der kalten Luft.

„Du musst Hunger haben“, sagte sie leise und ging zur Hütte zurück. Drinnen suchte sie nach etwas, das sie ihm zu essen geben konnte. In der kleinen Küche fand sie schließlich ein paar alte, vertrocknete Brotkrumen und ein Stück getrocknetes Fleisch. Es war nicht viel, aber besser als nichts. Sie nahm eine kleine Schüssel, füllte sie mit etwas Wasser aus einem alten Kanister, den sie in einer Ecke gefunden hatte, und ging damit nach draußen.

Arthur saß immer noch auf dem Ast und verfolgte mit seinen großen Augen jede ihrer Bewegungen. Theresa stellte das Futter und das Wasser vorsichtig vor ihm ab und trat dann einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. Die Eule flatterte leicht mit den Flügeln und sprang dann vom Ast, um näher an das Futter heranzukommen. Vorsichtig pickte er die Brotkrumen auf und nahm ein paar Bissen, bevor er seinen Schnabel ins Wasser tauchte. Theresa beobachtete ihn dabei und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

„Das ist also Arthur ...“, sagte sie leise zu sich selbst, während sie der Eule beim Fressen zusah. Während Arthur sich an der spärlichen Mahlzeit gütlich tat, atmete sie auf und genoss die Ruhe. Als Arthur endlich aufgegessen hatte, saß er still da, als warte er auf ihre nächsten Schritte. Vorsichtig streckte Theresa ihre Hand aus, und zu ihrer Überraschung ließ sich die Eule streicheln. Seine Federn fühlten sich weich und warm an, und in diesem Moment spürte Theresa, dass sie das Richtige tat.

„Keine Sorge, Arthur. Ich werde mich um dich kümmern“, flüsterte sie, entschlossen, ihr Versprechen zu halten, koste es, was es wolle. Arthur schien ihren Worten zu vertrauen, denn er blieb ruhig und zufrieden an ihrer Seite, während sie sich gemeinsam auf den Weg machten, um herauszufinden, was das Schicksal für sie beide bereithielt.

Nachdem sie Arthur gefüttert und beruhigt hatten, kehrte Theresa ins Haus zurück. Das dämmrige Licht, das durch die schmutzigen Fenster fiel, ließ die Umgebung fast gespenstisch erscheinen, aber Theresa ignorierte das flaue Gefühl in ihrem Magen. 

Im Inneren der Hütte fiel ihr Blick auf die Wände, und erst jetzt bemerkte sie die vielen Zeitungsartikel, die an den Wänden hingen. Jeder Zentimeter war mit vergilbten Seiten bedeckt, die sorgfältig ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren. Sie trat näher, um die Schlagzeilen zu lesen. „Familie gerettet. Niemand bekennt sich als Retter“, „Kind vom Turm gerettet und spricht von unbekanntem Helden“, „Ein Phantom im Schutz der Nacht rettet die Stadt“, die Artikel schilderten die Taten eines geheimnisvollen Helden. Er hatte unzählige Leben gerettet, Verbrecher zur Strecke gebracht und immer wieder für Gerechtigkeit gesorgt, doch niemand schien seine wahre Identität zu kennen. Auf einem der Blätter stand mit Filzstift Equinox geschrieben.

Theresa war wie gebannt von den Geschichten. Jede Rettung, jede Heldentat wurde detailliert beschrieben, aber in keinem Artikel gab es auch nur den geringsten Hinweis darauf, wer sich hinter der Maske verbarg. Der Mann, der letzte Nacht in ihren Armen gestorben war, musste dieser Equinox sein. Doch die Erkenntnis war bittersüß, er war tot.

Als sie die Hütte weiter durchsuchte, entdeckte sie in einer Ecke einen Schrank. Er war alt, aus dunklem Holz, und die Türen knarrten, als sie sie öffnete. Mehrere Kleidungsstücke hingen darin, aber eines fiel ihr besonders ins Auge: Es war eine Uniform, sorgfältig gefaltet und in ein schwarzes Tuch gewickelt. Theresa nahm sie vorsichtig heraus und entfaltete das Tuch. Darunter kam ein dunkelvioletter Anzug zum Vorschein, ähnlich dem, den der maskierte Mann getragen hatte, aber offensichtlich in einer kleineren Größe. Die Verarbeitung war hochwertig und der Stoff fühlte sich robust an, wie eine Uniform, die für den Kampf gemacht war.

Neben dem Anzug lag eine kleine Maske, die nicht zu ihm gehören konnte. Es war eine Eulenmaske, weiß wie die des Mannes, aber mit feinen schwarzen Verzierungen. Theresa hielt sie in den Händen und betrachtete sie genau. Die Maske war für eine Frau gemacht. "Hat Equinox mit einer Barnowl zusammengearbeitet?", fragte sich Theresa und erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte.

Aber es waren nicht nur die Kleider, die ihr Interesse weckten. Im Schrank stand auch eine Kiste mit verschiedenen Waffen. Dolche, Nadeln, Schlagringe und vieles mehr. Der Anblick dieses Waffenarsenals ließ ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch aufsteigen. Als sie den Schrank weiter durchsuchte, entdeckte sie auf dem Boden einen Ordner, der unter der Kleidung versteckt war. Sie zog ihn hervor und öffnete ihn vorsichtig. Der Ordner war voller Informationen: Zeitungsartikel, handgeschriebene Notizen, Stadtpläne und Detailpläne. Es gab Skizzen von Gebäuden, mögliche Fluchtwege und Listen mit Namen, die sie nicht kannte. Eine Karte von St. Veronika war mit roten Markierungen versehen, die wichtige Orte zu kennzeichnen schienen.

Theresa blätterte durch die Seiten und versuchte, die Fülle der Informationen zu erfassen. Es war offensichtlich, dass Equinox ein umfangreiches Netzwerk zum Schutz der Stadt aufgebaut hatte. Die Akte enthielt auch Hinweise auf Verbrechen, die in der Stadt begangen worden waren, und Informationen über ein Netzwerk von Verbündeten, deren Identitäten jedoch verschlüsselt waren. Die Akte war nach Fällen geordnet, und der letzte Abschnitt enthielt Hinweise auf einen Gegner namens Ratchetclaw.

Entschlossen nahm Theresa die Akte an sich. Und verließ den Schrank. Sie rief das holographische Menü ihres Synect auf, startete die Suche und sagte "Barnowl". Ein Anwendungssymbol erschien und sie wählte es aus. "Willkommen im Barnowl-Modus, Miss Beck. Wählen Sie Ihr Codewort für den Modus". Theresa überlegte kurz und sagte dann "Zimplex". In einem ihrer Lieblingsbücher gab es eine Person mit diesem Namen. Sie dachte, dass ein Wort, das selten verwendet wird, eine gute Idee wäre. Das Fenster verschwand wieder und Theresa atmete tief durch und sagte: "Zimplex". Es begann auf ihrer Haut zu kribbeln.


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