Kapitel 30 - Familienzeit
In der Mitte des Raumes saß eine Familie: die Eltern auf einem Sofa, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, auf Sesseln an den Seiten. Ihre Körper waren steif, mit Wachs gefüllt und vollständig bedeckt, wie bei den ersten Opfern. Sie sahen aus wie makabre Puppen, sorgfältig arrangiert, als würden sie gerade eine Fernsehsendung verfolgen, die es schon lange nicht mehr gab.
Amber trat näher, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie das Ausmaß des Schreckens erkannte. Die Gesichter der Opfer waren ausdruckslos, die Augen, wenn man sie überhaupt noch so nennen konnte, starrten ins Leere. Die Atmosphäre war erstickend, die Luft schien schwer von der Vergangenheit, die hier wieder lebendig geworden war. Die Muster auf den Kleidern, die Bilder an den Wänden, selbst die alten Zeitschriften auf dem Couchtisch waren akribisch in den Zustand von vor fünfzehn Jahren zurückversetzt worden.
Amber spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Der Anblick war zu viel für sie, zu real, zu grotesk. Hastig drehte sie sich um und rannte nach draußen, die Hand vor den Mund gepresst. Kaum in der frischen Luft der Halle angekommen, hörte man nur noch das Würgen, das sie überkam.
Sabine folgte ihr schnell nach draußen, während die anderen im Raum blieben und versuchten, das Geschehene zu analysieren. „Amber, alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt, als Amber sich an die kalte Betonwand der Halle lehnte und tief Luft holte.
Amber nickte schwach, wischte sich über den Mund und versuchte, sich zu sammeln. „Es ist ... Es ist einfach zu viel“, flüsterte sie. „Wie kann jemand zu so etwas fähig sein?“
Sabine legte Amber eine Hand auf die Schulter. „Ja, das ist absolut krass.“
Amber holte tief Luft und nickte entschlossen. „Ja, krass ist noch untertrieben.“
Sabine spürte plötzlich, wie sich ihr eigener Atem beschleunigte. Die Szene, die Geräusche, der Geruch des Raumes, alles war zu viel. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, als läge ein unsichtbares Gewicht auf ihr.
„Ich muss mal kurz raus“, murmelte sie und stolperte aus der Halle. Kaum war sie draußen, keuchte sie hektisch, ihre Hände zitterten, ihr Herz schlug wie wild. Die Welt um sie herum verschwamm, ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus.
„Sabine?“ Die Stimme war gedämpft, aber sie erkannte sie sofort. Stuart war ihr gefolgt. Vorsichtig kam er näher, die Stirn in Sorgenfalten gelegt. „Hey, atme tief durch. Ganz langsam. Ich bin ja da.“
Sabine schüttelte den Kopf, versuchte zu sprechen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen spürte sie, wie ihr Körper leicht nach vorne kippte, sich nicht mehr aufrichten konnte.
Stuart fing sie sanft auf und zog sie in eine feste Umarmung. „Ich habe dich“, flüsterte er. „Es ist alles in Ordnung. Lass dir Zeit.“
Sabine kniff die Augen zusammen, zwang sich, seinen Rhythmus nachzuahmen, ein, aus, ein, aus. Langsam wurde ihr Atem ruhiger, ihr Körper entspannte sich ein wenig.
„Es tut mir leid“, murmelte sie schließlich an seiner Schulter.
„Nicht entschuldigen“, antwortete Stuart leise. „Jeder hat seine Grenzen. Wir stehen das gemeinsam durch.“
Sabine löste sich langsam aus der Umarmung und nickte dankbar. „Danke, Stuart. Ich glaube, ich kann jetzt wieder reingehen.“
„Bist du sicher?“
„Ja.“ Sie holte noch einmal tief Luft. „Lass uns das zu Ende bringen.“
Gemeinsam gingen sie zurück in die Halle, wo das Team bereits die nächsten Schritte besprach. Sebastian warf Amber einen letzten besorgten Blick zu, bevor er sich entschlossen an die Arbeit machte. Er griff in seine Tasche und holte zwei kleine Drohnen heraus. Die Drohnen waren mit leistungsstarken Kameras und speziellen Sensoren ausgestattet, die selbst kleinste Spuren und Veränderungen im Raum erkennen konnten.
„Ich werde den Tatort von oben scannen und jeden Winkel dokumentieren“, erklärte er ruhig und aktivierte die Drohnen. Mit einem leisen Surren erhoben sie sich in die Luft und begannen, den Raum zu umkreisen. Sebastian konzentrierte sich auf die Steuerung, während sein Tablet Live-Bilder und Datenströme anzeigte. Er ließ die Drohnen in jede Ecke des Raumes fliegen, über die starren Körper hinweg bis zu den Fußleisten, um wirklich alles zu erfassen.
Sabine stand da und starrte auf das Bild.
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