Kapitel 22 - Fehlerlos

Startseite                                                                                                                             Kapitelübersicht


Sabine West lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, der leicht knarrte. Ihr Blick war fest auf den Bildschirm vor ihr gerichtet, der das einzige Licht in dem schwach beleuchteten Raum spendete. Die bläuliche Holoprojektion flackerte leicht, während das Überwachungsmaterial abgespielt wurde. Neben ihr saß Stuart, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte angestrengt auf das Video.

„Ich sehe es mir jetzt zum dritten Mal an und kann mir immer noch nicht erklären, wie er das gemacht hat“, sagte Stuart und rieb sich den Nacken, als wolle er die Anspannung aus seinem Körper vertreiben. „Es ergibt keinen verdammten Sinn.“

Sabine schüttelte den Kopf und spulte das Band ein paar Sekunden zurück. Die Gerichtsmedizin von Saint Veronika, ein trostloser, karger Raum mit kaltem Neonlicht und sterilem Inventar, füllte den Bildschirm. Sie beobachteten den Kampf zwischen dem Unbekannten und den beiden Rächern.

„Da“, murmelte Sabine und deutete auf die Gestalt, die plötzlich neben einem der Tische auftauchte. Die Überwachungskamera erfasste die Umrisse eines massigen Mannes in Rüstung, dessen Gesicht unter einem Helm verborgen blieb.

„Dieser Vigilant, oder wie ihn die Leute nennen, hat verdammt gute Reflexe“, sagte Stuart leise und schüttelte den Kopf. „Wollten sie das Opfer untersuchen?“

Sabine lehnte sich näher an den Bildschirm, als könne sie noch ein Detail erkennen, das ihr entgangen war. „Sieht so aus, und die Fremden wollten das verhindern.“

Stuart lachte trocken und griff nach seiner längst leeren Kaffeetasse. „Ja, in der Liga der Verrückten, die nachts durch die Gerichtsmedizin schleichen. Glaubst du wirklich, dass er sich für diese Toten interessiert?“

Sabine drückte auf Pause und das Bild erstarrte. „Vielleicht schon.“

Stuart nickte und richtete sich wieder auf. „Schon gut, Sabine, ich weiß, dass du einen Instinkt für solche Dinge hast. Aber mir gefällt das alles überhaupt nicht. Wenn der Kerl es geschafft hat, uns an der Nase herumzuführen, wer weiß, was er als nächstes vorhat.“

Sabine seufzte und fuhr sich durch ihr dunkles Haar, das von den Strapazen des Tages zerzaust war. „Mir geht es genauso, aber wir haben keine Wahl. Wir müssen herausfinden, wer er ist und was er will, bevor die Sache eskaliert. Vielleicht finden wir in dieser Aufnahme eine Spur, die wir bisher übersehen haben.“

Stuart sah sie an und legte ihr eine Hand auf die Schulter, seine Miene wurde etwas weicher. „Pass auf dich auf, ja? Ich weiß, dass du das kannst, aber ... dieser Typ ist anders. Ich will nicht, dass du ihm zu nahe kommst.“

Sabine hielt seinem Blick stand und lächelte leicht, auch wenn die Sorge in ihren Augen nicht ganz verschwunden war. „Mach dir keine Sorgen, Stuart. Ich werde vorsichtig sein. Aber ich werde nicht zulassen, dass dieser Rächer uns an der Nase herumführt. Wenn er glaubt, er kann sich in unserer Stadt austoben, dann irrt er sich gewaltig.“

Sie gingen zurück zum Kampf zwischen all den Fremden, die dort waren. Der Kampf dauerte nur wenige Augenblicke, doch am Ende lagen die beiden Eindringlinge bewusstlos am Boden, während die beiden Wächter wie zwei einsame Wächter über den leblosen Körpern standen.

„Das ist ... unmöglich“, flüsterte Stuart, seine Hände zitterten leicht, als er sich näher zum Bildschirm beugte. „Das sind keine gewöhnlichen Straßenkämpfer. Wer auch immer diese Typen sind, sie wissen genau, was sie tun.“

Stuart lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und warf Sabine einen Blick zu, der irgendwo zwischen Unbehagen und ungläubigem Kopfschütteln lag. Die Bilder der beiden Vigilanten liefen nicht mehr ab, aber sie hatten sich längst in seine Gedanken eingebrannt. Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen, das einzige Geräusch im Raum war das Summen der Überwachungstechnik.

Plötzlich klingelte Sabines Synect. Sie zögerte kurz, ging in ein Nebenzimmer, in dem sie allein war, und nahm dann den Hörer ab.

"Sabine?" Die Stimme ihrer Schwester klang müde, aber auch leicht vorwurfsvoll.

Sabine atmete tief durch. "Hey, Lisa. Ist alles in Ordnung?"

"Du fragst mich, ob alles in Ordnung ist? Du hast dich seit Wochen nicht gemeldet. Nicht mal ein Anruf, eine Nachricht, nichts. Glaubst du, es gibt uns nicht mehr?"

Sabine presste die Lippen aufeinander. "Tut mir leid, ich hatte viel zu tun."

"Du hast immer viel zu tun", entgegnete Lisa scharf. "Aber Zoe vermisst dich. Sie fragt ständig nach dir. Heute Abend hat sie geweint, weil sie dich sehen will. Wir wohnen doch nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, Sabine. Warum bist du nie da?" Warum musste Lisa immer gleich so extrem sein, dachte Sabine.

Sabine schloss für einen Moment die Augen. Schuldgefühle nagten an ihr, aber gleichzeitig hielt sie an der Distanz fest. "Ich ... Ich will euch da nicht mit reinziehen."

Lisa seufzte am anderen Ende. "Es geht wieder um damals, oder? Sabine, wie oft muss ich dir noch sagen, dass es nicht deine Schuld war? Du kannst nicht dein ganzes Leben weglaufen."

Sabine schüttelte den Kopf, auch wenn ihre Schwester es nicht sehen konnte. "Vielleicht nicht, aber es fühlt sich so an. Ich will euch nicht in meine Welt hineinziehen."

"Und wenn wir in deiner Welt sein wollen?" Lisas Stimme wurde leiser. "Zoe braucht dich, und ich brauche dich auch. Du bist meine Schwester. Bitte komm doch einfach mal vorbei. Es muss nicht heute sein, aber bald."

Sabine spürte den Kloß im Hals. "Ich ... ich werde es versuchen."

"Versprich es mir, Sabine."

Sie zögerte, dann flüsterte sie: "Ich verspreche es."


Vorheriges Kapitel                                                                                                             Nächstes Kapitel

Kommentare