Kapitel 18 - Chaos

Startseite                                                                                                                             Kapitelübersicht


Tasha Johnson stieg aus dem Skidtrain und warf einen bewundernden Blick auf das imposante Gebäude von WNN News. Die Glasfassade glitzerte in der Wintersonne, und über der breiten Eingangstreppe schwebten riesige holografische Anzeigen mit Schlagzeilen und Werbebotschaften. Menschen in Anzügen strömten ein und aus, manche in Eile, andere mit der Gelassenheit, die nur Routine hervorbringen kann. Mit klopfendem Herzen und ihrer Tasche in der Hand stieg Tasha die Stufen hinauf und betrat die Lobby. Die Luft war kühl, der Boden aus glänzendem Marmor, und an den Wänden flimmerten riesige Bildschirme, auf denen Live-Nachrichten, Statistiken und Werbespots liefen. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, begleitet von den Stimmen der Menschen, die sich hier bewegten.  

Ein Mann in tadellosem Anzug kam zielstrebig auf sie zu. Sein Namensschild verriet, dass er Martin Cooper hieß und der Empfangschef war.  

„Miss Johnson?“, fragte er mit einem professionellen, aber freundlichen Lächeln.  

„Ja, das bin ich“, antwortete Tasha und zwang sich, ruhig zu wirken, obwohl ihr Herz schneller schlug.  

„Willkommen bei WNN News. Ich nehme an, Sie sind hier, um Fiona Clarkson zu treffen?“ Seine Stimme klang warm.  

„Das ist richtig. Danke, dass Sie mich empfangen.“  

„Fiona wird sich etwas verspäten, aber sie hat mich gebeten, Sie in den Konferenzraum zu bringen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“  

Tasha nickte, unsicher, was sie sonst sagen sollte. Sie folgte Martin, der sie zu den Aufzügen führte, die sich mit einem leisen Klingeln öffneten.  

„Dies ist die Zentrale von WNN“, begann er, während der Aufzug lautlos in die oberen Stockwerke glitt. „Wir sind bekannt für unsere investigative Berichterstattung und unser großes Expertenteam. Sie werden feststellen, dass hier immer viel los ist.“ Tasha nickte, obwohl sie seinen Worten kaum Beachtung schenkte. Ihre Augen waren auf die Etagen gerichtet, die sie passierten: Büros voller hektischer Mitarbeiter, Kameraleute, die Ausrüstung herumschoben, und Redakteure, die angeregt diskutierten. Es war wie ein Blick in eine andere Welt, von der sie bald ein Teil sein wollte.  

Mit einem leisen Surren hielt der Aufzug an und Martin führte sie in einen langen, hell erleuchteten Flur. An den Wänden hingen Porträts berühmter Journalisten und denkwürdige Momente aus der Geschichte des Senders.  


Tasha blieb kurz vor einem der Bilder stehen. Es zeigte Zachary Reed, einen charismatischen Mann mit entschlossenem Gesichtsausdruck. Sein Name war ihr nicht unbekannt. 

„Zachary Reed“, erklärte Martin, als er bemerkte, dass Tasha das Porträt studierte. „Er ist eine unserer stärksten Stimmen. Stationiert in San Arenisca. Leidenschaftlich, manchmal etwas hitzköpfig, aber immer fesselnd.“  Tasha nickte langsam und folgte Martin weiter. Schließlich erreichten sie einen Konferenzraum mit einem atemberaubenden Blick über die Stadt. Die Glasfront ließ das Sonnenlicht herein, das sich auf dem glänzenden Tisch spiegelte.  

„Fiona wird sich hier mit Ihnen treffen“, erklärte Martin. „Möchten Sie etwas trinken, während Sie warten? Ein Wasser vielleicht?“  

„Ja, ein Wasser wäre nett, danke“, antwortete sie höflich und setzte sich auf einen der Stühle.  

Als Martin verschwunden war, ließ Tasha ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Nervosität war noch da, aber sie spürte auch einen Hauch von Stolz. Tasha saß allein im Konferenzraum und versuchte, ihre Hände ruhig zu halten. Das Glas Wasser vor ihr war kaum angerührt und der Blick durch die Glasfront auf die endlose Skyline der Stadt schien sie nicht zu beruhigen. Sie hatte Interviews mit Fiona Clarkson gesehen. Eine Frau, die keinen Unsinn duldete und dafür bekannt war, schwierige Entscheidungen mit unerschütterlicher Gelassenheit zu treffen. Tasha fragte sich, wie sie auf sie persönlich wirken würde - einschüchternd oder inspirierend?  

Die Tür wurde mit einem leisen Klicken geöffnet. Tasha stand auf, als Fiona Clarkson hereinkam. Die Frau war so beeindruckend, wie Tasha sie sich vorgestellt hatte: mittelgroß, mit straff zurückgebundenem Haar, das von einigen grauen Strähnen durchzogen war, und einer Präsenz, die den Raum sofort zu füllen schien. Ihr maßgeschneiderter Anzug saß perfekt, ihre Haltung war gerade, und die scharfen, klugen Augen hinter der dezenten Brille fixierten Tasha sofort.  

„Miss Johnson, nehme ich an?“ Fionas Stimme war ruhig, aber sie hatte die Art von Autorität, die niemand in Frage stellen würde.  

„Ja, das bin ich. Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Miss Clarkson.“ Tasha streckte die Hand aus, die Fiona mit einem kurzen, festen Händedruck ergriff.  

„Nehmen Sie Platz“, sagte Fiona und setzte sich an den Tisch. „Martin hat mir erzählt, dass Sie an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert sind. Sagen Sie mir, warum WNN?“  

Tasha setzte sich und holte tief Luft. „Ich bewundere, was WNN tut - die Geschichten, die Sie erzählen, haben Gewicht. Ich habe immer geglaubt, dass Journalismus mehr sein sollte, als nur Nachrichten zu verbreiten. Er sollte Menschen zum Nachdenken anregen, sie berühren und vielleicht sogar die Welt verändern. Ich möchte ein Teil davon sein." Fiona lehnte sich zurück und sah Tasha mit einem undefinierbaren Ausdruck an. Es war schwer zu sagen, ob sie beeindruckt war oder nicht.  

„Das ist eine schöne Theorie, Miss Johnson. Aber Journalismus ist nichts Romantisches. Es ist harte Arbeit, oft undankbar, und manchmal muss man Entscheidungen treffen, die einen nachts nicht schlafen lassen. Sind Sie dafür bereit?“  

Tasha hielt Fionas Blick stand, obwohl ihre Hände unter dem Tisch zu Fäusten geballt waren. „Ja. Ich bin bereit.“  

„Warum genau glauben Sie, dass Sie dafür geeignet sind?“ Fionas Ton war trotzig, aber nicht feindselig.  

„Weil ich nicht aufhören werde, bis ich herausgefunden habe, was die Menschen wissen müssen. Ich bin neugierig, ich bin ehrgeizig und ich gebe nicht auf. Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss, aber ich bin hier, weil ich besser werden will und weil ich glaube, dass WNN der richtige Ort dafür ist.“  

Einen Moment lang herrschte Stille. Fiona warf Tasha einen scharfen Blick zu, bevor ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte.  

„Mir gefällt Ihre Entschlossenheit“, sagte sie schließlich. „Aber Entschlossenheit allein ist nicht genug. Wenn Sie hier anfangen wollen, Miss Johnson, müssen Sie sich beweisen. Ich gebe Ihnen eine Chance. Eine kleine Aufgabe, um zu sehen, ob Sie das Zeug dazu haben.“  

Tasha konnte das Adrenalin in ihren Adern spüren, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Was für eine Aufgabe?“  

„Evelyn Moore arbeitet an einer investigativen Reportage über die Wohnungsnot in Crescent City. Begleiten Sie sie. Beobachten Sie, wie sie arbeitet. Und wenn Sie einen überzeugenden Beitrag leisten können, reden wir weiter.“  

Tasha nickte, ihr Herz schlug schneller. Evelyn Moore war eine Legende. Sie zu begleiten war eine unglaubliche Chance und eine große Herausforderung.  

„Ich werde Sie nicht enttäuschen, Miss Clarkson.“  

Fiona erhob sich. „Das hoffe ich, Miss Johnson. Denn bei WNN gibt es keinen Platz für Enttäuschungen.“  Mit diesen Worten verließ Fiona den Raum und Tasha blieb mit einer Mischung aus Erleichterung und Nervosität zurück. 

Wenig später folgte Tasha Evelyn Moore durch das labyrinthartige Büro von WNN. Die Energie im Raum war fast greifbar: Journalisten telefonierten hektisch, Redakteure stritten um Schlagzeilen, und auf den unzähligen Bildschirmen liefen Live-Feeds und Tickermeldungen. Evelyn bewegte sich mit der ruhigen Effizienz eines Profis, der diese Welt in- und auswendig kannte.  

"Bleiben Sie bei mir, Miss Johnson", sagte Evelyn, ohne sich umzusehen. Ihre Stimme klang sachlich, fast emotionslos, aber nicht unfreundlich. 

Plötzlich blieb Evelyn stehen und nickte in Richtung eines Büros mit Glasfront. Darin saß ein Mann mittleren Alters mit akkuratem Seitenscheitel und perfekt gebügeltem Hemd. Auf seinem Gesicht lag ein selbstgefälliges Lächeln, das Tasha auf den ersten Blick unangenehm fand.  

"Das ist James Cross", erklärte Evelyn kurz. "Er ist einer der Hauptverantwortlichen für die Berichterstattung in Blackchester. Ich muss ihm die neuesten Entwicklungen zeigen. Seien Sie auf alles gefasst."  

Tasha hatte keine Gelegenheit zu antworten, bevor Evelyn an die Glastür klopfte und sie öffnete.  

"Ah, Evelyn, pünktlich wie immer", sagte James und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Sein Ton war sanft, aber Tasha spürte die Arroganz dahinter. Seine Augen wanderten zu Tasha, und sein Lächeln wurde noch breiter, aber nicht freundlicher. "Und wen haben wir hier? Eine Neue?"  

Evelyn warf Tasha einen kurzen Blick zu, bevor sie antwortete. "Das ist Tasha Johnson, eine angehende Journalistin. Sie wird mich heute begleiten."  

James musterte Tasha eingehend, als würde er sie beurteilen. "Eine Nachwuchsjournalistin, was? Na, hoffentlich sind Sie nicht nur an Klickzahlen interessiert, Miss Johnson. Wir brauchen Substanz, keine Sensation."  

Tasha spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. "Ich bin hier, um zu lernen und meinen Beitrag zu leisten, Sir", sagte sie höflich.  

James lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme. "Das hoffe ich. Evelyn ist bekannt für ihre Genauigkeit. Vielleicht können Sie sich davon eine Scheibe abschneiden."  

"Ich gebe mein Bestes", antwortete Tasha und hielt ihre Stimme so neutral wie möglich.  

James wandte sich wieder Evelyn zu. "Also, was haben Sie für mich?"  

Evelyn reichte ihm ein Tablet und begann, die wichtigsten Punkte durchzugehen. Tasha blieb derweil stumm und beobachtete. James' Art, Evelyn immer wieder zu unterbrechen, seine süffisanten Kommentare, all das ließ sie innerlich mit den Augen rollen.  

Nach ein paar Minuten schien James genug gehört zu haben. "Gut, Evelyn. Ausgezeichnete Arbeit wie immer." Er warf Tasha einen letzten Blick zu. "Und Sie, Miss Johnson, passen Sie gut auf auf. Evelyn ist eine der Besten - wenn nicht die Beste - in diesem Laden. Wenn Sie von ihr lernen, könnten Sie eines Tages nützlich sein."  

Sie nickte. "Danke für den Rat, Sir."  

Als sie das Büro verließen, nickte Evelyn kurz, bevor sie wieder in die Hektik des Büros eintauchte. Tasha folgte ihr, entschlossener denn je, sich zu beweisen, egal wie viele James Crosses sich ihr in den Weg stellten.

Als Evelyn Tasha durch die hektischen Korridore von WNN führte, bemerkte sie einen jungen Mann, der sich über einen Schreibtisch beugte. Er schien in eine lebhafte Diskussion mit einem Kollegen vertieft zu sein, lachte aber herzlich, während er mit den Händen gestikulierte. Sein blondes Haar war ein wenig zerzaust, als hätte er sich vor kurzem durch die Strähnen gefahren, und sein freundliches Gesicht strahlte eine ansteckende Energie aus.  

Evelyn bemerkte Tashas Blick und hielt kurz inne. "Das ist Doug Henderson", erklärte sie. "Einer unserer Fotografen. Er arbeitet viel und ist einer der Besten und ... sagen wir mal, beliebt bei den Kollegen."  

Tasha lächelte. "Das merkt man sofort."  

Evelyn nickte knapp. "Nun, ich muss Ihnen noch etwas zeigen. Aber vielleicht möchten Sie sich kurz vorstellen."  

Bevor Tasha antworten konnte, hatte Evelyn sich schon abgewandt. Tasha zögerte einen Moment, bevor sie sich entschloss, hinüberzugehen.  

Doug bemerkte sie, als sie näher kam, und richtete sich auf. Seine blauen Augen strahlten, als er sie anlächelte. "Hey, du musst die Neue sein", sagte er in einem lockeren Ton, der sie sofort entspannte. "Tasha, richtig? Ich bin Doug."  

Tasha lächelte zurück und streckte ihm die Hand entgegen. "Ja. Tasha Johnson. Freut mich sehr."  

Doug nahm ihre Hand mit festem, aber freundlichem Griff. "Gleichfalls. Willkommen im Chaos. Evelyn zeigt dir sicher schon die wichtigsten Ecken?"  

"Ja, sie führt mich herum", antwortete Tasha und warf einen Blick auf die Notizen, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen. "Klingt, als wärst du selbst ziemlich beschäftigt."  

Doug zuckte die Schultern und lächelte. "Immer. Aber hey, das gehört dazu. Wenn du mal Hilfe brauchst oder einfach jemanden, der dir die beste Kaffeemaschine hier zeigt, sag Bescheid."  

Tasha lachte. "Das werde ich mir merken. Und danke, ich könnte tatsächlich mal Hilfe brauchen, um mich hier zurechtzufinden."  

"Kein Problem", sagte Doug und beugte sich etwas näher zu ihr. "Ein Tipp: Wenn du mal ein bisschen Abstand von Evelyns Strenge brauchst, ich habe immer ein paar Snacks in meiner Schublade versteckt. Das ist unser kleines Geheimnis."  

Tasha musste lachen. "Das werde ich mir merken."  

Doug grinste und deutete auf seinen Schreibtisch. "Jetzt muss ich mich leider wieder in diese Berichte stürzen. Aber ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder."  

"Das hoffe ich", sagte Tasha und drehte sich um, um Evelyn einzuholen, die schon ein paar Schritte voraus war.  

Vorheriges Kapitel                                                                                                             Nächstes Kapitel


Kommentare