Kapitel 17 - Gummiball

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Eine junge Frau stand in ihrem kleinen, gemütlichen Zimmer, das in die warmen Orangetöne der untergehenden Wintersonne getaucht war. An den Wänden hingen Poster ihrer Turneridole, in einer Ecke stapelten sich unzählige Medaillen und Pokale, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Doch es war nicht der Anblick der glänzenden Trophäen, der sie an diesem Abend beschäftigte. Vielmehr war es das lebhafte Treiben, das aus den unteren Stockwerken des Hauses zu ihr heraufdrang. Sie hieß Theresa und war die zweitjüngste von fünf Geschwistern. Ihre Schwester Amelie, die in einem Zimmer direkt unter ihr wohnte, hatte wieder einmal die Musik laut aufgedreht, während ihr älterer Bruder Felix im Wohnzimmer mit seinem Vater über die richtige Strategie für das nächste Fußballspiel diskutierte. Ihre Mutter rief aus der Küche, dass das Abendessen bald fertig sei, und irgendwo dazwischen mischte sich das Lachen ihres jüngsten Bruders Tim, der anscheinend wieder einen seiner Streiche gespielt hatte. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen holte Theresa ihren Turnanzug aus dem Schrank. Der enge, elastische Stoff fühlte sich vertraut an, als sie ihn anzog. „Ach, Amelie“, murmelte sie, als ein besonders lauter Bassschlag den Boden vibrieren ließ. „Du schaffst es wirklich immer, mich zu nerven.“ Schnell griff sie nach ihrer Tasche, die sie am Vortag für das Training gepackt hatte. Sie überprüfte noch einmal, ob alles da war: ihre Turnschuhe, das Handtuch und natürlich ihr kleines Fläschchen mit dem Glücksbringer, einem kleinen violetten Stein, den sie von ihrer Oma bekommen hatte. Es mochte albern sein, aber Theresa war überzeugt, dass er ihr bei jedem Wettkampf ein bisschen mehr Glück bringen würde. Als sie die Tür öffnete, um nach unten zu gehen, stieß sie fast mit Tim zusammen, der lachend um die Ecke kam. „Wo willst du hin, Schwesterchen?“, fragte er mit einem breiten Grinsen und schlängelte sich an ihr vorbei. Er nannte sie immer Schwesterchen, obwohl sie die Ältere von ihnen war. Zuerst wollte er sie ärgern, dann wurde es zur Gewohnheit. „Dich wieder wie ein Gummiband biegen?“ Theresa hob eine Augenbraue und lächelte. „Besser, als wenn du dich wie ein Gummiball verhältst“, erwiderte sie schlagfertig und klopfte ihm spielerisch auf die Schulter. Im Flur wartete bereits ihre Mutter mit einem Teller dampfendem Eintopf in der Hand. „Du gehst schon?“, fragte sie mit einem leicht besorgten Ausdruck in den Augen. „Es ist kalt draußen, vergiss deinen Schal nicht.“ Theresa verdrehte leicht die Augen, aber es war ein liebevolles Augenrollen, das nur zeigte, wie sehr sie diese Fürsorge zu schätzen wusste. „Mama, ich friere nicht so leicht“, versicherte sie, griff aber trotzdem nach dem Schal an der Garderobe und wickelte ihn sich um den Hals. „Außerdem wird mir schon warm, wenn ich mich bewege.“

„Willst du wirklich nichts essen, bevor du gehst?“, fragte ihre Mutter und hielt ihr einladend den Teller hin.

„Ich habe vorhin schon etwas gegessen, danke, und wenn ich zu viel esse, bremst mich das nur aus“, sagte Theresa und beugte sich kurz vor, um ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange zu geben. „Ich bin spät dran, ich muss los.“ Sie rief ihrer Familie ein schnelles „Bis später" zu und öffnete die Tür, durch die ihr sofort die eisige Kälte des Abends entgegenwehte. Doch das störte Theresa nicht, im Gegenteil, sie sog die frische Luft tief ein und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg. Ihre Gedanken kreisten bereits um die bevorstehende Übung und den Winterabend, der sich still und sternenklar über Saint Veronika ausbreitete. 

In der Ferne hörte sie noch das Lachen ihrer Geschwister, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie durch die Dunkelheit ging, bereit, sich wieder wie ein Gummiband zu biegen und genauso viel Spaß zu haben wie bei den Neckereien mit ihrem Bruder.

Theresa Becks Familie war das Herz und die Seele des alten Hauses in Saint Veronika. Die Familie Beck war nicht nur groß, sondern auch von einer Art, wie sie selten geworden war: laut, liebevoll und chaotisch. Jeder Winkel des Hauses erzählte eine Geschichte von prallem Leben und unbändiger Energie. 

Theresas Vater, Johannes Beck, war ein großer, kräftiger Mann mit einem breiten Lächeln und einer noch breiteren Brust, die sich jedes Mal stolz hob, wenn er von seinen Kindern sprach. Er war Schreinermeister, ein Beruf, der ihm nicht nur Einkommen, sondern auch tiefe Zufriedenheit brachte. Seine Hände, oft rau und voller Splitter von der Arbeit mit dem Holz, waren zugleich sanft und zärtlich, wenn er seinen Kindern durchs Haar strich oder seine Frau in einer spontanen Umarmung an sich drückte. Johannes hatte ein Herz für die kleinen Dinge des Lebens und war bekannt dafür, dass er jedem Kind, ob in der eigenen Familie oder in der Nachbarschaft, mit Respekt und Freundlichkeit begegnete. Seine tiefe, sonore Stimme war morgens oft der erste Klang im Haus, wenn er die Kinder weckte oder seine Frau Karin aus der Küche rief. Karin Beck, Theresas Mutter, war der ruhige Mittelpunkt in diesem lebhaften Wirbelsturm. 
Mit ihrer sanften Stimme und ihrer warmen, einladenden Art konnte sie mit einem einzigen Wort auch das größte Chaos beruhigen. Ihre Augen strahlten immer eine tiefe Zuneigung aus und ihre Hände, die vom Kochen, Waschen und Pflegen rau und doch weich waren, hatten immer eine beruhigende Wirkung auf ihre Kinder. Karin war eine leidenschaftliche Köchin, und die Küche war ihr Reich, wo es immer nach frischem Brot, warmen Eintöpfen und süßen Kuchen duftete. Obwohl es im Haus oft laut und voll war, hatte Karin die Gabe, allein durch ihre Anwesenheit ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. 
Felix, der Älteste, war mit seinen vierundzwanzig Jahren bereits eine prägende Figur in der Familie. Groß und athletisch, mit einem immer etwas zerzausten Haarschopf und strahlend blauen Augen war er Theresas sportliches Vorbild. Er war begeisterter Fußballer und arbeitete als Jugendtrainer im örtlichen Fußballverein. Felix hatte ein ansteckendes Lachen und eine herzliche, offene Art, die ihm viele Freunde einbrachte. Er war der Typ, der immer einen Rat für seine Geschwister hatte, aber genauso gut wusste, wann es Zeit war, einfach nur da zu sein und zuzuhören. Felix’ Liebe zum Sport und sein Ehrgeiz spornten auch Theresa an, immer ihr Bestes zu geben. Amelie, die zweite der Geschwister, war 22 Jahre alt und das kreative Herz der Familie. Mit ihren wilden Locken und den tiefen braunen Augen, die vor Ideen nur so sprühten, war sie das genaue Gegenteil von Felix' sportlicher Art. Amelie studierte Kunst und war oft in ihrem Zimmer anzutreffen, wo sie Musik hörte oder an einem neuen Kunstprojekt arbeitete. Ihre Leidenschaft für Malerei und Musik füllte das Haus mit Farben und Klängen. Zu Theresa hatte sie eine besondere Beziehung, denn sie war es, die ihre Schwester immer wieder ermutigte, kreativ zu sein und die Welt mit Humor zu betrachten. Die beiden konnten stundenlang miteinander reden oder einfach nur schweigend in einem Zimmer sitzen, jede in ihre eigene Welt versunken. 
Dann kam Elias, neunzehn Jahre alt, der Techniker der Familie. Mit seinem scharfen Verstand und seinem Interesse für alles, was mit Technik zu tun hatte, war er derjenige, der gerufen wurde, wenn etwas im Haus nicht funktionierte. Elias hatte eine ruhige, nachdenkliche Art und war oft mit einem Buch oder einem neuen Gadget in der Hand anzutreffen. Er war der pragmatischste der Geschwister und derjenige, auf den sich Theresa oft verließ, wenn sie einen nüchternen Rat brauchte. Obwohl er eher introvertiert war, hatte Elias eine tiefe Bindung zu seiner Familie und zeigte seine Zuneigung auf subtile, aber bedeutungsvolle Weise. Theresa selbst war mit achtzehn Jahren die Zweitjüngste und das Energiebündel der Familie. Mit ihren lebhaften braunen Augen, den langen, dünnen, immer etwas zerzausten Haaren und ihrem unerschütterlichen Lächeln brachte sie eine freche, humorvolle Note in die Familie. Sie war das Bindeglied zwischen den älteren Geschwistern und dem Jüngsten, Tim, zu dem sie eine besondere Beziehung hatte. Tim, das Nesthäkchen der Familie, war erst zehn Jahre alt und voller Energie und Neugier. Er hatte das sonnige Gemüt seiner Mutter und das verschmitzte Lächeln seines Vaters geerbt. Tim war immer auf der Suche nach neuen Abenteuern, sei es im Wald hinter dem Haus oder in der Garage, wo er oft mit Elias an kleinen Erfindungen tüftelte. Für Theresa war Tim mehr als nur ein Bruder, er war ihr kleiner Kumpel und die beiden verbrachten oft Stunden damit, miteinander herumzualbern oder sich gegenseitig Streiche zu spielen. Zusammen bildeten sie eine Familie, die trotz aller Unterschiede in Charakter und Interessen eine tiefe Liebe und Loyalität verband. Das Haus in Saint Veronika war mehr als ein Gebäude aus Stein und Holz, es war ein lebendiger Organismus, erfüllt von den Stimmen, dem Lachen und der Wärme der Becks. Es war ein Ort, an den Theresa wusste, dass sie immer zurückkehren konnte, egal wie weit ihre Träume sie auch tragen mochten.

Theresa zog die Haustür hinter sich zu, und sofort schlug ihr die klirrende Kälte des Winterabends entgegen. Der Wind pfiff durch die kahlen Bäume und der Himmel war in ein tiefes, dunkles Blau getaucht, das nur von den fernen Lichtern der Stadt unterbrochen wurde. Sie zog den Schal fester um den Hals, während sich ihre Atemwolken wie kleine Gespenster vor ihr in der Luft auflösten. Der Boden war noch nass vom Schmelzwasser, und jeder ihrer Schritte hinterließ einen matschigen Abdruck auf dem Asphalt. Sie liebte diese Spaziergänge durch die stillen Straßen von Saint Veronika, wenn die Welt um sie herum zur Ruhe kam und sie sich auf das bevorstehende Training konzentrieren konnte. Gymnastik war für sie nicht nur ein Sport, sondern ihre Leidenschaft, ihre Art, sich auszudrücken und Körper und Geist in Einklang zu bringen. Doch an diesem Abend war es ungewöhnlich still. Selbst das entfernte Rauschen der Autos war gedämpft, und die wenigen Passanten, die ihr entgegenkamen, waren in dicke Mäntel gehüllt und eilten nach Hause. Theresa bog um eine Ecke und ging die kleine Gasse entlang, die sie als Abkürzung zum Turnverein nahm. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten auf den Weg, und die hohen Mauern zu beiden Seiten der Gasse verstärkten das Gefühl der Isolation. Aber Theresa ließ sich nicht abschrecken. Sie war diesen Weg schon so oft gegangen, dass sie ihn fast im Schlaf gefunden hatte.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein leises Rascheln. Instinktiv drehte sie den Kopf, konnte aber zunächst nichts Ungewöhnliches erkennen. Nur die dunklen, grauen Wände und die schwachen Umrisse einiger Mülltonnen. Sie zuckte mit den Schultern und setzte ihren Weg fort, aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, blieb. Bevor sie ihren Gedanken zu Ende denken konnte, hörte sie schwere Schritte hinter sich. Ihr Herz schlug schneller und ein unangenehmer Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie wollte sich umdrehen, doch plötzlich spürte sie, wie sich eine kalte Hand fest um ihren Arm schloss. Sie fuhr herum und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

Vor ihr stand ein Mann, seine Gestalt in einen dunklen Mantel gehüllt, das Gesicht halb von einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze verdeckt. Seine Augen funkelten kalt, ein hässliches Lächeln umspielte seine Lippen. In der anderen Hand hielt er ein Messer, dessen Klinge im schwachen Licht der Laternen gefährlich blitzte.

„Gib mir dein Geld“, zischte er, seine Stimme rau und drohend. 

Theresas Gedanken rasten. Ihr Puls dröhnte in den Ohren.

„Hast du nicht gehört?“, knurrte der Mann, packte ihren Arm fester und zog sie näher zu sich. „Ich sagte, gib mir dein Geld!“ Plötzlich landete ein violetter Schatten vor ihr, eine Person in einem violetten Stoffanzug. Sie sah nur den Rücken.

Auch der Räuber hatte die Ankunft des Unbekannten bemerkt. Panik flackerte in seinen Augen auf, als er erkannte, dass er es nicht nur mit einem Mädchen, sondern nun auch mit diesem geheimnisvollen Mann zu tun hatte. Instinktiv griff er nach dem Messer, doch der Unbekannte war schneller. Mit einer blitzschnellen Bewegung, der Theresa kaum folgen konnte, stürzte sich der Mann im violetten Anzug auf den Angreifer. Ein kurzer, heftiger Kampf entbrannte, doch er dauerte nur wenige Sekunden. Der Maskierte bewegte sich mit der Präzision eines geübten Kämpfers. Bevor Theresa blinzeln konnte, hatte der Unbekannte den Räuber entwaffnet und zu Boden gebracht. Doch der Räuber griff erneut nach dem Messer, und bevor der Unbekannte es zu Ende führen konnte, blitzte eine Klinge in der Hand des Räubers auf. Ein dunkles, feuchtes Geräusch erfüllte die Gasse, als die Klinge den Unbekannten traf und verletzte.

Theresa schrie auf, doch es war zu spät. Der Unbekannte sackte zusammen, seine Augen weiteten sich vor Schock und Schmerz, bevor sie ins Leere starrten. Blut floss in einem dunklen Strom über den nassen Asphalt, und der Unbekannte blieb regungslos liegen. Der Räuber stand einen Augenblick still, seine Brust hob und senkte sich schwer unter der Anstrengung. Dann drehte er sich langsam zu Theresa um. Bevor sie etwas sagen konnte, lief der Räuber davon. Theresa zögerte einen Moment, dann stürzte sie auf den Fremden zu. Sie kniete sich neben ihn, legte ihre Hände auf seine Schultern, spürte die Anspannung in seinen Muskeln und die Kälte, die von seinem Körper ausging.

„Hey, bleib bei mir!“, rief sie, ihre Stimme zitterte vor Angst. „Was ist passiert?“

Der Mann unter der Maske keuchte schwer und seine Hände zitterten, als er nach etwas in seiner Jacke griff. Mit zitternden Fingern zog er einen kleinen, zusammengefalteten Zettel hervor und drückte ihn Theresa in die Hand. Seine Kraft verließ ihn schnell, aber es gelang ihm, ein paar Worte herauszupressen.

„Du ... musst dich um Arthur kümmern ...“, flüsterte er, seine Stimme rau und voller Dringlichkeit. „Versprich es mir.“ Dabei drückte er mit der rechten Hand einen alten Datenchip an Theresas linkem Handgelenk in Höhe des Synect. Ein leichter Stromstoß durchfuhr sie, als er in ihrem Synect verschwand.

Theresa sah verwirrt auf den Zettel, dann auf ihr Handgelenk, dann wieder auf den Mann. „Aber wer ist Arthur? Was bedeutet das?“, fragte sie verzweifelt, wusste aber, dass sie keine Antwort bekommen würde. Der Mann hob schwach die Hand und legte sie auf ihre, als wolle er sie beruhigen. Sein Atem wurde flacher, und ein letzter, gequälter Atemzug entwich seinen Lippen. Er schloss die Augen, und seine Hand, die immer noch auf ihrer lag, wurde schlaff. Der Maskierte verstummte in ihren Armen. 

Einen Moment lang blieb Theresa wie erstarrt stehen, überwältigt von dem, was gerade geschehen war. Die Dunkelheit um sie herum schien dichter zu werden, die Geräusche der Stadt verschwanden in einem fernen Rauschen. Sie spürte die Kälte, die langsam in ihre Glieder kroch, und den schweren, letzten Atemzug des Mannes, der nun still und regungslos in ihren Armen lag. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Zettel, den er ihr gegeben hatte. Ihre Finger zitterten, als sie ihn vorsichtig auseinanderfaltete. Eine Adresse stand darauf. Schweren Herzens, aber entschlossen, steckte sie den Zettel vorsichtig in ihre Tasche und erhob sich langsam. Sie aktivierte ihr Synect und es kam eine Meldung. Barnowl wurde initiiert. Was hatte er mit ihr gemacht? Der Wind wehte sanft durch die Gasse, und als sie sich von dem leblosen Körper entfernte, wusste sie, dass sich ihr Leben soeben unwiderruflich verändert hatte.

Das kühle Metall der Sprossenleiter unter ihren Fingern fühlte sich vertraut an, als Theresa nach oben schwang und mit einem eleganten Satz auf die hölzerne Plattform sprang. Die Turnhalle war wie immer ein hektischer Mikrokosmos aus Disziplin und Chaos, in dem das Quietschen von Turnschuhen, gedämpfte Gespräche und das dumpfe Geräusch von Landungen die Luft erfüllten. Ihr Trainer Alexander Kern stand mit verschränkten Armen neben den Matten und beobachtete sie kritisch. "Hör auf zu grinsen, Beck. Du bist nicht hier, um gut auszusehen."

"Kommt drauf an, wen du fragst, Alex", erwiderte Theresa mit einem breiten Grinsen und streckte die Arme aus. Alex schnaubte amüsiert, sagte aber nichts weiter. Er wusste, dass sie ihren Ehrgeiz nicht hinter Sprüchen versteckte. Neben ihr setzte sich Maximilian Weber in Bewegung. Max war ein Naturtalent, wenn es um Parkour ging, aber ebenso leichtgläubig wie enthusiastisch. "Meinst du, ich schaffe den Sprung von der Tribüne auf die Matte da drüben?", fragte er und testete seine Sprungkraft.

"Ich glaube nicht, aber ich würde es gerne sehen", sagt Theresa und schnappt sich eine Flasche Wasser.

"Dann halte deine Kamera bereit", rief Lena König und setzte sich lachend neben sie. Lena hatte schon ihre Synect gestartet, um den nächsten Stunt zu filmen. Sie war nicht nur eine talentierte Turnerin, sondern auch eine angehende Journalistin mit einem Podcast namens "Kings Speech", in dem sie über alles von Sport bis hin zu gesellschaftlichen Themen berichtete. Sebastian Lawrence, der Ruhigste in der Runde, zog skeptisch eine Augenbraue hoch. "Max, wenn du dich da oben hinlegst, kannst du selbst erklären, warum wir das Training unterbrechen müssen."

Max grinste, zog sich auf die Tribüne und machte sich zum Sprung bereit. "Das wird der Wahnsinn!"

Theresa musste den Kopf schütteln. Ihre Freunde waren ein chaotischer Haufen, aber genau das liebte sie an ihnen. Egal ob auf der Matte, an der Stange oder bei einer waghalsigen Parkour-Challenge, langweilig wurde es nie.

Sebastian, der beste Turner der Gruppe, hatte sich zwischenzeitlich an eine andere Herausforderung gewagt. Er wagte sich an ein hohes Seil und zog sich mit beeindruckender Leichtigkeit nach oben. Seine Hand rutschte auf dem rauen Seil ab, ein erschrockener Laut entfuhr ihm. Instinktiv versuchte er, sich mit der anderen Hand festzuhalten, aber er verlor das Gleichgewicht. Sein Bein verfing sich in einer der Seilschlaufen, die sich mit rasender Geschwindigkeit um seinen Unterschenkel schlossen. Ein markerschütternder Schrei hallte durch die Turnhalle, als sich sein Körper abrupt in der Luft drehte.

Theresa sah mit Entsetzen, wie Sebastian mit schmerzverzerrtem Gesicht kopfüber hängen blieb. Dann das nächste, viel schlimmere Geräusch: ein trockenes, dumpfes Knacken. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

"Sebastian!", rief sie, die Stimme schrill vor Panik.

Er keuchte, das Seil zog sich immer enger um sein Bein. Sein Gesicht wurde bleich, seine Finger verkrampften sich in der Luft, während er vergeblich nach Halt suchte. Tränen schossen ihm in die Augen, seine Brust hob und senkte sich hektisch.

Alex war sofort zur Stelle. "Keine Bewegung!" Seine Stimme war scharf, herrisch. "Sebastian, bleib ganz ruhig. Versuch, dich nicht zu bewegen!"

"Mein Bein ...", stöhnte Sebastian zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Es ist gebrochen!"

Die Spannung in der Halle war mit einem Mal greifbar. Lena zückte ihr Synect, um den Notarzt zu rufen, während Max schon nach einer Matte suchte, um sie unter Sebastian zu legen. Theresa fühlte ihr Herz rasen. So etwas war ihnen noch nie passiert.

"Bleib ruhig, Sebastian. Wir holen dich da runter", sagte Alex mit ernster Stimme. Und plötzlich war das Training kein Spiel mehr.

Theresa atmete tief durch, schob ihre Angst beiseite und kletterte mit schnellen, entschlossenen Bewegungen das Seil hinauf. Ihre Finger umklammerten die raue Faser, ihre Muskeln arbeiteten, während sie sich zu Sebastian hochzog. Als sie ihn erreichte, sah sie den Schmerz in seinen Augen. "Ich bin hier. Halt dich fest, ich mache dich los."

Vorsichtig löste sie die verknotete Seilschlinge um sein Bein und versuchte, ihn so wenig wie möglich zu bewegen. Unten hatten die anderen inzwischen eine provisorische Rutsche aus Sportmatten aufgebaut. Alex stand bereit, um Sebastian aufzufangen. "Okay, gleich bist du frei", sagte sie beruhigend und entfernte die letzte Schlaufe des Seils.

Sebastian stürzte in die Tiefe, doch anstatt hart auf dem Boden aufzuschlagen, rutschte er über die Mattenrutsche direkt in Alex' starke Arme. Er keuchte vor Schmerzen, aber er war in Sicherheit.

"Ein Rettungsteam ist unterwegs", rief Lena und deaktivierte ihr Synect.

Theresa sprang vom Seil und landete leicht neben ihnen. Sie sah zu Sebastian hinunter, der bleich und verschwitzt auf der Matte lag.

"Verdammt, Beck", murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Ich hasse es, dir einen Gefallen schuldig zu sein."

Sie grinste, während in der Ferne das leise Brummen eines sich nähernden Graveship zu hören war. "Mach dir keine Sorgen, Lawrence. Ich genieße es nicht einmal." Die Scheinwerfer leuchteten grell in die Turnhalle. Die bewaffneten Truppen des Mediteams stürmten herein und aktivierten eine Bahre, die in Windeseile herbeigeschafft wurde, legten Sebastian darauf und brachten ihn zum Graveship. Das war heute eindeutig zu viel Aufregung, dachte sich Theresa und ging in die Umkleidekabine. Kurz darauf fielen die Tropfen der Dusche auf Theresas Haut und sie atmete auf. Sie wollte zum Training, um sich abzulenken. "Ich glaube, es war nichts", flüsterte sie und Tränen flossen, versteckt zwischen den warmen Tropfen der Dusche. 

Nach dem Training wurde Theresa von ihrem Bruder Elias und dessen Freundin Lisa Bertram in einem alten Skidcar abgeholt. Das Gefährt rattert leise über den Asphalt, ein Relikt aus einer Zeit, als Skidcars noch nicht über Stromleitungen rutschten und mit Reifen fuhren. Zumindest bezog es seine Energie aus den Leitungen. Theresa lehnte sich auf dem Rücksitz zurück und beobachtete ihre beiden Mitfahrer.

Lisa Bertram war eine schlanke, hochgewachsene Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, hellblauen Augen und streng zurückgebundenen dunkelblonden Haaren. Ihre Kleidung bestand praktisch immer aus einer dunklen Jacke, Jeans und Turnschuhen, und sie trug fast immer eine Synect-Brille, die sie jetzt mit einem Finger an die Stirn schob, während sie sich mit Elias angeregt über Informatik unterhielt. Sie hatte Geld, kaum jemand hatte sich eine extra Brille für die integrierte Synect gekauft. Sie schon.

Theresa fühlte sich unsichtbar. Kaum hatten die beiden sie begrüßt, waren sie in ein Gespräch über Quantenalgorithmen und Sicherheitsprotokolle vertieft. Verärgert ließ sie den Kopf gegen das Fenster sinken und starrte in die vorbeiziehende Dunkelheit.

Die Nacht war kühl, und in der Ferne konnte sie die Leuchtreklamen über den Straßen von Saint Veronika erkennen. Ihr Kopf war immer noch voller Gedanken an das Training, an Sebastians Unfall, an den Mord.

Leise seufzte sie und schloss die Augen. 

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