Kapitel 3 - West
Der Wind hatte sich wie eine schwere Decke über Saint Veronika gelegt, die feuchte Luft drückte auf die Haut und ließ den Schweiß in dünnen Rinnsalen den Nacken hinunterlaufen. Sabine West wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, die düstere Atmosphäre des Nachtclubs in sich aufzunehmen. Die Einunddreißigjährige saß in ihrem Abendkleid an der Bar. Ihre dunkelbraunen Augen passten perfekt zu ihrem dunkelbraunen Haar. Ihr Partner Richard Corbin kam zu ihr an den Tisch und schenkte ihr ein Bier ein. Der erfahrene Polizist galt als alter Hase und wurde nur Dick genannt. Seine Hände steckten locker in den Taschen seiner abgewetzten Lederjacke, aber Sabine konnte sehen, wie seine Finger zuckten. Er war immer sehr unruhig und konnte selten still halten. Sabine wusste das und hasste diese Unruhe, die Dick ausstrahlte.
"Trink etwas und entspann dich. Sibi", murmelte Corbin mit seiner rauen Stimme und nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Sie hasste es, dass er sie manchmal so nannte. "Ja. Ich weiß, dass du keinen Spaß hast. Niemals." Sabine antwortete nicht sofort. Sie spürte Corbins Blick auf sich, ließ sich aber nicht ablenken. Stattdessen ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Der Club war ein schummriger Ort voller zwielichtiger Gestalten, deren Gesichter in den Schatten der flackernden Neonröhren verschwanden. Musik dröhnte aus den Lautsprechern und der Boden vibrierte unter ihren Füßen. Es war laut, stickig, es roch nach Schweiß, Alkohol lag in der Luft. "Vielleicht", sagte sie schließlich, "aber es gibt Regeln." Sie waren nicht zum Vergnügen hier. Corbin lachte trocken und blies eine Rauchwolke in die Luft. "Das klingt wie ein Märchen, Sabine. In dieser Stadt herrscht das Gesetz der Straße. Hier überlebst du nur, wenn du die Regeln brichst, bevor sie dich brechen. "Sabine sah ihn scharf an. Sie wusste, dass er seine Erfahrungen gemacht und viel durchgemacht hatte, was ihn so hart und zynisch machte.
"Dort", flüsterte Corbin plötzlich und deutete mit dem Kinn in eine Ecke des Raumes. Sabine folgte seinem Blick und entdeckte die beiden Männer, die sie beobachteten. Der eine, ein hagerer Typ mit tiefen Augenhöhlen und einer schäbigen Lederjacke, war offensichtlich der Dealer. Der andere, ein nervös wirkender junger Mann mit zerzausten Haaren und zu großen Augen, schien der Käufer zu sein.
Später, als die Nacht in den frühen Morgen übergegangen war und der Himmel über Saint Veronika in ein trübes Grau getaucht war, machte sich Sabine auf den Weg zum Reservistenraum des Präsidiums. Sie fühlte sich erschöpft, körperlich und seelisch, aber der Gedanke an das Erlebte hielt sie wach. Die Begegnung mit Corbin hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, und Sabine spürte, wie Wut in ihr aufstieg, je länger sie darüber nachdachte. Die Abstellkammer war ein abgelegener, kühler Raum im hinteren Teil des Präsidiums, in dem die Beamten ihre Ausrüstung aufbewahrten und pflegten. Als Sabine die schwere Stahltür aufstieß, schlug ihr der dumpfe Geruch von Metall und Öl entgegen. Die Regale waren ordentlich mit Schusswaffen, Schlagstöcken und Schutzausrüstung gefüllt, das fluoreszierende Licht flackerte leise. Stuart, ein Kollege, der nur wenig älter war als Sabine, stand bereits an einem der langen Tische und zerlegte und reinigte eine Schrotflinte. Sein Gesicht war in konzentrierte Falten gelegt, aber als er Sabine eintreten sah, hob er den Kopf und lächelte. "Hallo, Sabine“, begrüßte er sie mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Was führt dich um diese Zeit hierher?" Sabine seufzte, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und trat an den Tisch. „Ich musste mal raus aus dem Büro, etwas Abstand gewinnen. Corbin ...“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf, als hätte sie nicht die richtigen Worte gefunden. „Es geht um die Sache von vorhin. Mit dem Dealer. Es ist nicht so gelaufen, wie es hätte laufen sollen." Stuart zog eine Augenbraue hoch und legte die Waffe beiseite. Er kannte Sabine gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ. „Was ist passiert?“, fragte er und legte die Hände locker auf die Tischkante. Sabine setzte sich auf den Hocker gegenüber und sah Stuart direkt an. „Corbin hat sich von dem Kerl bestechen lassen“, sagte sie leise, aber in ihrer Stimme schwang unterdrückte Wut mit. „Er hat einfach Geld genommen, als wäre es das Normalste der Welt. Und als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er mich einfach ignoriert und zurechtgewiesen. Als wäre ich diejenige, die nicht versteht, wie die Dinge laufen." Stuart lehnte sich zurück, sein Gesicht war nachdenklich. „Das ist hart, Sabine“, sagte er schließlich. „Ich kann mir vorstellen, wie frustrierend das sein muss. Aber ... das hier ist Saint Veronika. Die Stadt hat ihre eigenen Regeln, und manchmal sind sie nicht so sauber, wie sie sein sollten." Sabine ballte die Hände zu Fäusten und spürte die kalte Metallkante des Tisches unter ihren Fingern. „Aber das kann doch nicht die Lösung sein, Stuart. Wie sollen wir etwas verändern, wenn wir uns mit diesen Verbrechern auf eine Stufe stellen? Corbin tut so, als sei es unvermeidlich, als sei es einfach so. Aber das akzeptiere ich nicht. Ich kann das nicht akzeptieren. Wenn alle so reagieren und sagen, das ist eben unsere Stadt Saint Veronika, dann wird es nie besser." Stuart nickte langsam. „Ich verstehe, was du meinst. Aber du musst auch sehen, dass es nicht so einfach ist, wie es scheint. Diese Stadt ... sie hat viele Leute wie Corbin gesehen. Sie hat sie geformt, zermalmt und neu zusammengesetzt. Corbin ist nicht einfach verdorben. Er ist ein Produkt dieser Umgebung. "Und was bedeutet das für uns?“, fragte Sabine und sah Stuart mit müden Augen an. „Sollen wir uns einfach damit abfinden, dass wir Teil eines Systems sind, das genauso kaputt ist wie die Verbrecher, die wir jagen?“ Stuart schwieg einen Moment und starrte auf die Waffe vor sich, als suche er nach den richtigen Worten. „Ich sage nicht, dass du dich damit abfinden sollst“, sagte er schließlich. „Aber ich sage, dass du klug sein musst. Kämpfe für das, woran du glaubst, aber wähle deine Schlachten klug. Wenn du versuchst, das ganze System auf einmal zu verändern, wirst du dich nur selbst zerstören." Sabine atmete tief durch und ließ seinen Rat auf sich wirken. „Und was schlägst du vor?“, fragte sie leise, „Was würdest du tun?“ Stuart sah sie an, seine Augen ernst und freundlich. „Ich würde meinen Weg finden, die Dinge zu ändern, Schritt für Schritt. Vielleicht kannst du Corbin jetzt nicht ändern, vielleicht kannst du die Korruption in Saint Veronika nicht so schnell ausrotten. Aber du kannst damit anfangen, indem du bei dir bleibst. Sei die Polizistin, die du sein willst. Mach deine Arbeit gut, sei ein Vorbild. Manchmal ist das der erste Schritt zu etwas Größerem.“ Sabine schwieg, dann nickte sie langsam. Stuart hatte Recht, sie konnte nicht alles auf einmal ändern. Aber sie konnte bei sich selbst anfangen. „Danke, Stuart“, sagte sie schließlich. „Ich glaube, das habe ich gebraucht.“
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